D. Bingen u.a. (Hrsg.): Interesse und Konflikt

Cover
Titel
Interesse und Konflikt. Zur politischen Ökonomie der deutsch-polnischen Beziehungen, 1900-2007


Herausgeber
Bingen, Dieter; Loew, Peter Oliver; Wolf, Nikolaus
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts 25
Erschienen
Wiesbaden 2008: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Frings, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die Wirtschaftsgeschichte ist seit langem ein eigenständiger, mit anderen Disziplinen der Geschichtswissenschaft nur noch lose verbundener Forschungszusammenhang. Eine komplexe und schwer übersetzbare Methodik sowie die auch institutionell enge Anbindung an die Wirtschaftswissenschaften verhindern nicht selten einen Dialog von Wirtschaftshistorikern und Politik-, Sozial- oder Kulturhistorikern über parallel untersuchte historische Akteure, Zeiten und Räume. Den Brückenschlag, so fordern manche, sollen nun die Kulturwissenschaften leisten. Einen anderen Weg gehen die Herausgeber des hier zu besprechenden Bandes. Er ist der „politischen Ökonomie“ der deutsch-polnischen Beziehungen gewidmet.

Mit der thematischen Ausrichtung auf die deutsch-polnischen Beziehungen konzentrieren sie sich gleichzeitig auf einen Gegenstand, der in vielerlei Hinsicht als gut erforscht gelten kann. Die politischen Beziehungen zwischen den polnischen und deutschen Staaten des 20. Jahrhunderts, auch jene zwischen polnischen Bürgern und dem Deutschen Reich vor 1918, sind seit langem ebenso Objekt historischer Analysen wie die gegenseitigen Wahrnehmungen und Fremdbilder. Ansatzweise gilt dies auch für Aspekte der deutsch-polnischen Wirtschaftsgeschichte, die jedoch bisher kaum in einer derart breiten Zusammenschau wie im vorliegenden Band gewürdigt worden sind.

Dass es dabei aus der Perspektive der Wirtschaftsgeschichte um „Interessen“ gehen muss, die untersuchten Sachverhalte aus politischer Perspektive in der Regel „Konflikt“-Charakter haben, deutet schon der Titel an. Beides wird in den Beiträgen auf ganz unterschiedliche Weise thematisiert. Eine Zusammenschau macht deutlich, dass ökonomisches Handeln politischen Ideologien und gegenseitigen Wahrnehmungen nicht immer entsprach, sondern vielmehr einer eigenen Logik folgte.

Das von den Autoren behandelte Themenspektrum ist groß. Neben Beiträgen mit Überblickscharakter (Stefan Kowal über den deutsch-polnischen Handel oder Christopher Kopper über deutsch-polnische Verkehrsbeziehungen) stehen Beiträge, die die Grenzregion als Zonen wirtschaftlicher Verflechtung beschreiben (Uwe Müller, Hans Christian Heinemeyer, Wojciech Morawski). Heikle Themen wie die Frage polnischer Zwangsarbeit werden über den bisherigen Forschungsstand zum Einsatz polnischer Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs hinaus betrachtet (Christian Westerhoff über Zwangsarbeiterrekrutierung im Ersten Weltkrieg, Jędrzej Chumiński über die Bedeutung ehemaliger Zwangsarbeiter in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ Polens zwischen 1945 und 1956). Der deutschen Wirtschaftspolitik im besetzten Polen ist ebenso ein eigener Block gewidmet (Ingo Loose, Stanisław Meducki) wie aktuellen Entwicklungen auf den Arbeitsmärkten oder in den Landwirtschaften (Ronald Bachmann/ Sebastian Płóciennik, Martin Petrick). Auch die Verquickung von Ideologie, Politik und Wirtschaft in den Beziehungen zwischen Polen und den beiden deutschen Staaten in der Nachkriegszeit wird ausführlich erörtert (Silke Röttger, Krzysztof Ruchniewicz, Dieter Bingen).

Der Gefahr, bei der Betrachtung einzelner Wirtschaftssegmente allzu schnell einen großen Bogen vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus oder gar in die Gegenwart zu ziehen, erliegt kaum einer der Autoren. Lediglich Stanisław Meducki beschreibt die nationalsozialistische Enteignungspolitik in Polen als Abschluss einer Jahrzehnte währenden Germanisierungspolitik (S. 203, 205, 216, 219). Alle anderen Autoren argumentieren in ihren historischen Durchgängen differenzierter, auch dann, wenn es explizit um längere Zeiträume geht, und damit werden sie dem Anspruch des Bandes durchweg gerecht, die nicht immer gleich laufenden, mitunter gegenläufigen Entwicklungen in den politischen und ökonomischen, deutsch-polnischen Beziehungen nachzuzeichnen.

Es werden auch Einsichten vorgestellt, die gängigen Vorurteilen zu widersprechen scheinen. Das gilt beispielsweise für Hans Christian Heinemeyers kurzen Kommentar über die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die wirtschaftliche Verflechtung Zentraleuropas, der mit kliometrischen Verfahren nachweisen kann, dass der Erste Weltkrieg zwar tatsächlich desintegrierende Wirkungen in Zentraleuropa hatte, dies aber nur bestimmte Sektoren der Wirtschaft betraf und vor allem im regionalen und nicht im gesamtstaatlichen Maßstab behandelt werden sollte. Dies entspricht in gewisser Weise den Arbeiten des Mitherausgebers Nikolaus’ Wolf, der ebenfalls kliometrisch nachweisen konnte, dass die wirtschaftliche Integration Polens nach 1918 schneller abgeschlossen war als bisher vermutet.1 Überzeugend sind zudem Versuche, in Deutschland bekannt anmutende Themen (etwa das Thema „Zwangsarbeiter“) so auszuweiten, dass Aspekte sichtbar werden, die für die polnische Geschichte unzweifelhaft relevant, in Deutschland bisher aber kaum bekannt sind. Jędrzej Chumińskis Untersuchung über die Beschäftigungsverhältnisse von ehemaligen Zwangsarbeitern in polnischen Betrieben in der Nachkriegszeit wären hier an erster Stelle zu nennen.

Der vorliegende Band erweist sich somit als interessante und lesenswerte Zusammenstellung ökonomischer Perspektiven auf die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte des vergangenen Jahrhunderts mit einem Blick in die Gegenwart. Irreführend ist allenfalls der Untertitel, der eine „politische Ökonomie“ derselben ankündigt. Weder handelt es sich bei den meisten Beiträgen um politische Ökonomien im Sinne der klassischen Nationalökonomie oder gar Karl Marx’, noch nutzen sie im Sinne der Neuen Politischen Ökonomie die Ökonomik als Methode zur Analyse politischer, sozialer oder kultureller Sachverhalte. Insbesondere letzteres hätte auf viele Sachverhalte ein neues Licht werfen können. So verstehe ich auch das Plädoyer Martin Petricks für spieltheoretische Zugriffe am Ende des Bandes (S. 330-331). „Politik und Ökonomie in den deutsch-polnischen Beziehungen“ wäre daher sicher ein adäquater Titel gewesen.

Angesichts der für eine Politische Ökonomie der Beziehungsgeschichte fehlenden Vorarbeiten ist das jedoch kein Manko. Der Band vermag vielmehr zu zeigen, dass es in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen und Verflechtungen des 20. Jahrhunderts noch einige Unbekannte gibt, zu denen die ökonomische Dimension der Nachbarschaft mit Sicherheit zählt. Umgekehrt, und das wird bereits in der Einleitung betont (S. 8), haben gegenwartsbezogene Analysen deutsch-polnischer Wirtschaftsbeziehungen und vergleichende Studien zwischen Deutschland und Polen für die späten 1990er-Jahre nur selten eine historische Dimension, obwohl gerade in Polen historische Bezüge bis heute das Wirtschaftshandeln prägen. Beleg für diesen blinden Fleck in der ökonomischen Literatur ist jener Beitrag des Bandes, der die heutigen deutschen und polnischen Arbeitsmärkte (Bachmann/ Płóciennik) untersucht, aber weder eine historische noch im strengen Sinne eine Beziehungs-Dimension aufweist und stattdessen lediglich Vergleiche zwischen beiden Staaten anstellt.

Insgesamt gelingt es den Autoren nachzuweisen, „dass wirtschaftliche Verflechtung und gute politische Beziehungen nicht immer parallel verlaufen müssen“ (Nikolaus Wolf, S. 328) und beide je eigenen Handlungszwängen folgen können. Mit dieser Perspektive können sie zugleich Defizite identifizieren, die der weiteren Bearbeitung harren: die europäische Dimension der deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen, die Währungsbeziehungen zwischen beiden Ländern, die deutsch-polnische Banken- und Unternehmensgeschichte. Dem Plädoyer eines Herausgebers, man „sollte in Zukunft versuchen, mit kulturellen, kulturwissenschaftlichen Fragestellungen an diese longue durée der deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert heranzugehen“ (Peter Oliver Loew, S. 330), kann ich mich daher nicht anschließen. Mir scheint, dass es angesichts der mangelhaften Rezeption wirtschaftshistorischer Beiträge in der allgemeinen Geschichte und insbesondere angesichts der Dominanz kulturhistorischer Zugriffe in der modernen Geschichtswissenschaft eher eines Schutzraumes für die mit diesem Band vorgelegte, unorthodoxe Herangehensweise bedürfte. Dass sich das Deutsche Polen-Institut als langjährig international anerkanntes Zentrum wechselseitiger deutsch-polnischer Vermittlung literarischer Werke nun auch solchen Projekten widmet, kann nicht genug gelobt werden.

Anmerkung:
1 Vgl. u.a. Wolf, Nikolaus, Economic integration in historical perspective. The case of interwar Poland, 1918-1939, Berlin, Humboldt-Universität, unveröffentl. Diss., 2003.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension