A. Toppe: Militär und Kriegsvölkerrecht

Cover
Titel
Militär und Kriegsvölkerrecht. Rechtsnorm, Fachdiskurs und Kriegspraxis in Deutschland 1899-1940


Autor(en)
Toppe, Andreas
Erschienen
München 2007: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
467 S.
Preis
€ 89,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Jochen Arnold, Berlin

In den Debatten um die Wehrmachtsausstellungen wurde unter anderem die fehlende Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Völkerrecht beklagt. Ohne die damals zulässige „harte“ Auslegung der völkerrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen, könne die Rolle der Wehrmacht im Partisanenkrieg, bei der wirtschaftlichen Ausbeutung der besetzten Gebiete oder der Behandlung der Kriegsgefangenen, nicht angemessen beschrieben werden. Daraufhin wurden der überarbeiteten zweiten Ausstellung internationale Abkommen wie die Haager Bestimmungen und Befehle der Wehrmacht vorangestellt, allerdings ohne näher auf die Hintergründe und Zusammenhänge eingehen zu können. Trotz der großen Bedeutung der zeitgenössischen Bestimmungen zum Besatzungsrecht für die Einordnung und Bewertung der Politik der Wehrmacht im besetzten Europa liegen nämlich mit Ausnahme einiger älterer Studien – vor allem zu den verbrecherischen Befehlen vor dem Angriff auf die Sowjetunion – keine systematischen Untersuchungen vor; im Gegensatz etwa zu den mittlerweile zahlreichen Bänden über die Rolle der Wehrmachtjustiz im nationalsozialistischen Staat.

Andreas Toppe stößt also in ein denkbar spannendes Forschungsgebiet vor. Seine Studie entstand im Rahmen des vor dem Abschluss stehenden Forschungsprojekts des Instituts für Zeitgeschichte zur Geschichte der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.1 Die Lesbarkeit seines Werks hätte durch eine Angleichung des Fußnotenapparates, den Abdruck der immer wieder genutzten völkerrechtlichen Bestimmungen im Anhang sowie eine Trennung zeitgenössischen Schrifttums von neuerer Literatur noch verbessert werden können.

Zunächst bietet Andreas Toppe einen Überblick zu der Entwicklung des Kriegsrechts in Deutschland von 1899 bis 1933. Anschließend werden die relevanten Einrichtungen der Wehrmacht und der deutschen Rechtswissenschaft eingehend vorgestellt und schließlich die Rezeption des Kriegsrechts anhand des rechtswissenschaftlichen Diskurses, der Richtlinien und Unterweisungen der Truppe in den 1930er-Jahren behandelt. Dabei konstatiert er eine weitgehende Orientierung von Richtlinien usw. an völkerrechtlichen Vorgaben, die allerdings in Führung und Truppe kaum verbreitet worden seien. In ideeller Hinsicht orientierten sich viele Befehlshaber vielmehr an der Kaiserlichen Verordnung vom 28. Dezember 1899, die ihnen weitgehende Befugnisse zusprach, darunter auch die Bestrafung von Widerstandshandlungen ohne Gerichtsverfahren – etwa durch die Exekution von Delinquenten. Eine „kritische Würdigung“ der deutschen Kriegführung im Ersten Weltkrieg und eine Anpassung der deutschen Bestimmungen an das Kriegsvölkerrecht habe es in den 1920er- und 1930er-Jahren nicht gegeben. Vielmehr sei das Völkerrecht und insbesondere das Besatzungsrecht im Ausbildungsbetrieb von Reichswehr und Wehrmacht kaum behandelt worden, in dem verbreiteten Soldatenhandbuch „Der Reibert“ auf lediglich anderthalb Seiten. Allerdings nimmt das Thema noch in der Ausgabe für die Bundeswehr von 1988 lediglich vier von 500 Seiten ein, ohne dass man aus diesem Grund gleich eine sträfliche Vernachlässigung des wichtigen Themas feststellen wollte.

„Der Soldat der Wehrmacht“, so Toppe, „war der Vertreter eines Staates, der sich nach 1933 endgültig von der Völkerrechtsgemeinschaft abgesetzt hatte und ein neues Recht propagierte. Dieses Recht blieb in seiner Intention unklar, ebenso wie das Ordnungsgefüge zwischen Staat, Partei und Gesellschaft. Das Unbestimmte wurde konstitutive Bedingung des Maßnahmenstaates.“ (S. 281f.) Damit ist das wesentliche Kennzeichen für den Umgang mit dem Kriegsvölkerrecht im Nationalsozialismus beschrieben, was für das Besatzungsrecht in den besetzten Gebieten gravierende Folgen zeitigte. Für die Wehrmacht wird zudem ein zielgerichteter Missbrauch des Kriegsrechts zur Barbarisierung des Krieges festgestellt. Zumeist rangierte das nationale Recht vor den völkerrechtlichen Bestimmungen, und wie schon im Ersten Weltkrieg wurde es in wesentlichen Bereichen auf die besetzten Gebiete übertragen: „Die Kontinuität im Rechtsdenken äußerte sich nicht nur in der Handhabung des Art. 2 HLKO und in dem entsprechenden Rückgriff auf den Kriegsbrauch, sondern auch in der Übertragung innerstaatlicher Rechtsverhältnisse auf fremdes, besetztes Territorium.“ (S. 434) Diese Übertragung unterwarf die Bewohner der besetzten Länder – entgegen dem völkerrechtlichen Prinzip der treuhänderischen Verwaltung bis zur Friedensregelung – einer rigiden Rechtspraxis, die sich durch eine extensive Auslegung der deutschen Bestimmungen noch verschärfte. Zwar gab es in dieser Frage durchaus Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft, die aber für die Praxis der Truppe kaum eine Rolle spielten, und mit Blick auf die völkerrechtswidrige Anwendung des deutschen Strafrechts in den besetzten Gebieten brachte der „deutsche Gesetzgeber […] das Kunststück fertig, bei der Feststellung rechtlicher Straftaten sich am Völkerrecht zu orientieren, deren strafrechtliche Sanktionierung aber meist außerhalb von jeglichen Grundlagen internationaler Vereinbarungen zu führen“ (S. 243). In einem umfangreichen Kapitel beschreibt der Autor diese Diskrepanz anhand einer Untersuchung des Umgangs mit zentralen kriegsrechtlichen Bestimmungen im Polenfeldzug 1939, insbesondere des Kombattantenstatus. Hierzu bietet die Studie zahlreiche Urteile von Kriegsgerichten und Hinweise zu den ganz unterschiedlichen Motiven für Morde an polnischen Zivilisten. Zugleich verweist Toppe darauf, dass bei „herkömmlichen“ Straftaten häufig eine Verfolgung eingeleitet worden sei, die in vielen Fällen aber rasch ihre Grenze in rechtswidrigen Vorgaben fanden, die der nationalsozialistischen Weltanschauung entsprangen, etwa der „Rassenschande“.

Das Manko der Untersuchung ist der fehlende Vergleich mit der Auslegung kriegsrechtlicher Bestimmungen in den angelsächsischen Ländern, der Sowjetunion, Italien oder Japan. Angesichts der erforderlichen thematischen Eingrenzung und der Fülle des Materials war diese Beschränkung sicher notwendig, gleichwohl hätte man sich die dimensionale Erweiterung der Perspektive und damit der Ergebnisse gewünscht, zumal auch die Radikalisierung im Umgang mit dem Völkerrecht ab 1941 nur angedeutet werden konnte. Darüber hinaus wäre eine Behandlung des tu quoque-Prinzips interessant gewesen, weil sich auch heutzutage aus der Frage der wechselseitigen Einhaltung völkerrechtlicher Prinzipien gewichtige Probleme ergeben. Zwar wird häufig und zur Dokumentation der vermeintlich unzulässigen Auslegung im Deutschen Reich auf Richtlinien oder Handbücher der USA oder Englands Bezug genommen, jedoch ohne dies in einen systematischen Vergleich im zeitgenössischen Zusammenhang einzubinden. Ein Vergleich kann – gerade bei der Beschäftigung mit dem Völkerrecht – nicht unter Rückzug auf eine positivistisch-idealistische Perspektive und mit dem schlichten Verweis abgewiesen werden, dass er nicht „statthaft“ sei und die „Normen des Völkerrechts nach ihrer vollständigen Einhaltung verlangen“ (S. 284).

Mit Blick auf das Deutsche Reich ist von „falschem Verständnis“ und „falscher Auslegung“ die Rede (S. 243 und 266), und es werden „Marschrichtungen“ der weiteren Entwicklung des Rechts reklamiert, die auch im Deutschen Reich erkannt worden seien und in Vorschriften hätten umgesetzt werden müssen. Das zeitgenössische Kriegsrecht wird an einer „gültigen“ Auslegung gemessen und nicht als ein oft diametral unterschiedlicher Bewertung und permanentem Wandel unterworfenes Konvolut von Bestimmungen vorgestellt. Wie der Völkerbund litt jedoch auch das Kriegsrecht in der Zwischenkriegszeit international an einem eklatanten Verlust an Ansehen. An anderer Stelle wird diese noch heute prekäre Problematik der Verbindlichkeit völkerrechtlicher Vorgaben klar erkannt und beschrieben. Denn „für die Bestimmung einvernehmlich anerkannter Rechtsgrundsätze“ ist letztlich eine „annähernd gleiche Rechtsentwicklung bzw. Rechtsauffassung in den meisten Staaten“ (S. 44) sowie die „Überwindung des staatlichen Souveränitätsdogmas“ (S. 40) Voraussetzung. Die Untersuchung liefert einige Hinweise dafür, dass während des Zweiten Weltkrieges selbst in den Demokratien das Völkerrecht nationalen Belangen nachgeordnet und pragmatisch ausgelegt wurde, zu schweigen von Ländern wie Italien, Japan oder der Sowjetunion. Auch der weltweite Diskurs um den „Totalen Krieg“ vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges erscheint in dieser isolierten Sicht allein als deutsche Debatte. In diesem Zusammenhang hätte etwa auf die Umstände der Rechtfertigung des strategischen Bombenkriegs gegen Zivilisten durch englische Völkerrechtsexperten eingegangen werden können. Der beschriebene deutsche Sonderweg und die explizit „nationale Haltung“ (S. 131) sollte mit der Rechtspraxis anderer Diktaturen und der Demokratien verglichen werden. Auf diese Weise könnten die wichtigen Ergebnisse dieser Studie genutzt werden, um weitere Erkenntnisse über die Ursachen und Hintergründe einer ideologisch und pragmatisch bedingten Aushöhlung traditioneller Prinzipien zu gewinnen. Eine zweifellos lohnende Aufgabe für weitere Forschungen.

Anmerkung:
1 Vgl. Hürter, Johannes, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006; Lieb, Peter, Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44, München 2007. Jetzt auch Pohl, Dieter, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944, München 2008. Demnächst folgt eine Studie von Christian Hartmann. Die wissenschaftliche Literatur ab 2004 wird in Toppes Studie leider nur sporadisch berücksichtigt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension