G. Zeller (Hrsg.): Albert Zellers medizinisches Tagebuch

Titel
Albert Zellers medizinisches Tagebuch der psychiatrischen Reise durch Deutschland, England, Frankreich und nach Prag von 1832 bis 1833. Band 1: Reisetagebuch, Band 2: Erläuterungen des Herausgebers


Herausgeber
Zeller, Gerhart
Erschienen
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 27,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Ursula Engel, Berlin

Gerhart Zeller, Urenkel von Albert Zeller und selbst ein psychiatriehistorisch sehr bewanderter Psychiater1, veröffentlichte das Reisetagebuch seines Urgroßvaters in einem sehr schön edierten zweibändigen Werk, das leider erst nach seinem Tod erschienen ist. Der erste Band enthält das Reisetagebuch (184 Seiten), der zweite Gerhart Zellers Anmerkungen (177 Seiten), die als durchgehend geschriebener Text durchaus eine vollständige, sorgfältig dokumentierte Psychiatriegeschichte des 19. Jahrhunderts ergeben könnten. Gerhart Zeller würdigt durch seine Interpretation Albert Zellers Leistung als leitender Arzt der Heilanstalt in Winnenthal, der ersten württembergischen Irrenheilanstalt, die er von ihrer Eröffnung 1833 bis zu seinem Tod 1877 leitete. Aus der Interpretation spricht der erfahrene Kliniker Gerhart Zeller, der rund 250 Jahre später selbst eine psychiatrische Klinik mit einem an Albert Zeller erinnernden humanitären Engagement leitete.

Das Reisetagebuch entstand während Albert Zellers Reise durch mehrere Städte Europas, in denen er 1832 bis 1833 psychiatrische Einrichtrungen besichtigte. Diese „Bereisung ausländischer Irrenanstalten“ war Voraussetzung für seine Einstellung und fand nach einem vom Königlichen Medizinalcollegium gutgeheißenen Reiseplan statt, der auch finanziell unterstützt wurde.

Gerhart Zeller fasst in vier Punkten zusammen, was die Reise für Albert Zeller an psychiatrischen Grundsätzen gebracht hat, und spricht damit die hauptsächlichen Auseinandersetzungen der Psychiatrie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Die Bedeutung dieser Gesichtspunkte kann allerdings erst durch die Lektüre der Anmerkungen völlig erfasst werden.

Albert Zeller erhielt durch seine Reise erstens eine Idealvorstellung von einer psychiatrischen Anstalt, wie er sie in England in Hanwell und im Retreat von Yorck (Bd. 2, Anm. 104 und 212-218) kennengelernt hatte.

Zweitens trat er für die Trennung von Heil- und Pflegeanstalt ein, die einander ebenbürtig sein und nach den gleichen humanen Prinzipien eingerichtet und geleitet werden sollten. Während der Aufklärung war die Auffassung entstanden, dass Geisteskrankheiten heilbar sind, ohne dass allerdings ein Heilmittel für sie gefunden worden wäre. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand dann das Problem, was mit der ständig wachsenden Zahl der nicht Heilbaren geschehen sollte, ob sie in den Heilanstalten verbleiben oder spezielle Pflegeanstalten für sie eingerichtet werden sollten. Dieses Thema ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts sehr umstritten, bis Roller (Bd. 2, Anm. 9) als eine Art Fazit seine Idee von der relativ verbundenen Heil- und Pflegeanstalt 1836 veröffentlichte.2 Griesinger3, der Assistent bei Albert Zeller gewesen war, bevor er Professor der Psychiatrie in Berlin wurde und sein paradigmatisches psychiatrisches Lehrbuch schrieb, spricht sich ebenfalls für die Trennung von Heil- und Pflegeanstalten aus. Er gibt den Begriff der Unheilbarkeit auf und plädiert dafür, dass man Einrichtungen für kurze und zeitlich unbegrenzte Aufenthalte brauche.4

Drittens kann man Albert Zeller als Anhänger einer somatopsychischen Betrachtungsweise der Geisteskrankheiten ansehen, nach der körperliche und seelische Bedingungen ineinander greifen müssen, damit eine seelische Erkrankung entstehen kann. Die Kontroverse zwischen Psychikern und Somatikern spielte ein wichtige Rolle für die Psychiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Bd. 2, Anm. 70), als deren Protagonisten Jacobi (der die Auffassung vertrat, die Seele erkranke nicht, sondern werde vom Körper her gestört) und Heinroth (als Vertreter einer psychisch-moralischen Genese) gelten können (ebd.). Gerhart Zeller bezeichnet Autenrieth und Zeller deswegen als „Ältere Tübinger Schule“, in der jüngeren waren Gaupp und Kretschmer Vertreter einer multifaktoriellen Genese der Psychosen.5 Als Behandlungsmethode bekannte sich Albert Zeller zur indirekten Kurmethode, wie sie von Johann Christian Reil (Bd. 2, Anm. 89) in Deutschland begründet worden war (Bd. 2, Anm. 13).

Viertens vertrat Albert Zeller als Schüler von Autenrieth (Bd. 2, Anm. 14) die Lehre von der Einheitspsychose, wie sie als „Zeller-Griesingersche-Einheitspsychose“ von Griesinger in seinem Lehrbuch bezeichnet wird.6 Er unterscheidet Grundzustände des psychischen Lebens – Schwermut, Tollheit, Verrücktheit und Blödsinn – als Stadien oder Formen des „Irreseins“, nicht als dessen Unterabteilungen. Alle beginnen mit der Schwermut und alle können im Blödsinn enden.

Albert Zeller hat sein Tagebuch in Deutschland natürlich deutsch, in England aber englisch, in Frankreich französisch und in kurzen Passagen lateinisch geschrieben, was eine Schwierigkeit ausmacht, die vermutlich für die lange Verspätung, mit der diese Quelle der Psychiatriegeschichte zugänglich gemacht wird, verantwortlich zu machen ist. Mit Spannung sind die Untersuchungen zu erwarten, die sich auf diese Quelle stützen werden.

Anmerkungen:
1 Im Folgenden wird im Sinne einer posthumen Ehrung auf einige der Publikationen von Gerhart Zeller verwiesen, die die Grundlage seiner Editionsarbeit darstellen.
2 Siehe auch Zeller, Gerhart, Von der Heilanstalt zur Heil- und Pflegeanstalt. Ein Beitrag zur Geschichte des psychiatrischen Krankenhauswesens, in: Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie 49 (1981), S. 121-127.
3 Siehe auch Zeller, Gerhart, Welcher psychiatrischen Schule hat Wilhelm Griesinger angehört? Ein Beitrag zum Verständnis seines Lebenswerkes und seiner Biographie. Vortrag anlässlich des hundertsten Stiftungsfestes der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie am 14. und 15. Juli 1967, in: Deutsches medizinisches Journal 19 (1968), 9, S. 328-334.
4 Siehe auch Zeller, Gerhart, Hat das psychiatrische Reformprogramm Wilhelm Griesingers aus dem Jahr 1868 heute noch eine Bedeutung?, in: Mauthe, Jürgen-Helmuth (Hrsg.), Rehabilitationspsychiatrie, Stuttgart 1998.
5 Siehe auch Zeller, Gerhart, Die Tübinger Psychiatrie Schule, in: Schulte, Walter; Tölle, Rainer (Hrsg.), Wahn, Stuttgart 1972.
6 Siehe auch Zeller, Gerhart, Die Geschichte der Einheitspsychose vor Kraepelin. Unveröffentlichte, durch die 77. Wanderversammlung südwestdeutscher Neurologen und Psychiater 1961 preisgekrönte Abhandlung zum Thema: Geschichte der Einheitspsychose.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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