A. Pehnke: Widerständige sächsische Schulreformer

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Titel
Widerständige sächsische Schulreformer im Visier stalinistischer Politik (1945-1959). Biografische Skizzen, neue Befunde und eine tschechische sowie ungarische Vergleichsstudie


Autor(en)
Pehnke, Andreas
Reihe
Greifswalder Studien zur Erziehungswissenschaft 12
Erschienen
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Nicole Zabel, Chemnitz

Schwarz gewandet verabschiedet sich die Reihe der „Greifswalder Studien zur Erziehungswissenschaft“ mit diesem zwölften und letzten Band, der zugleich den Abschied von der Reformpädagogik in der SBZ/DDR zum Gegenstand hat.

Den thematischen Schwerpunkt, der sich auch im Titel widerspiegelt, bilden die ersten vier Kapitel des Buches von Andreas Pehnke, in denen er anhand biografischer Zeugnisse die Lehrermaßregelungen im Raum Sachsen zur Zeit der SBZ und jungen DDR herausarbeitet.

Im fünften Kapitel schließen sich zwei internationale Vergleichsstudien an: zur Tschechoslowakei von Marie Vichrová und Jiři Zounek, sowie zu Ungarn von András Németh und Géza Sáska. Damit öffnet das Buch den Blick in andere, von der stalinistischen Diktaturdurchsetzung betroffene Länder. Im Anhang finden sich überdies Kurzbiografien zu Widersachern und Weggefährten der von Pehnke vorgestellten Schulreformer sowie von ausgewählten Pädagogen und gesellschaftspolitischen Persönlichkeiten.

Auf archivalischer Grundlage, sowie mittels privater Briefe, Lebenserinnerungen und Interviews erweckt Pehnke sächsische Schauplätze des Spannungsverhältnisses von stalinistischer Schulpolitik und Pädagogik einerseits und reformpädagogischer Ansichten nach 1945 andererseits zum Leben (z.B. S. 18f., 45f., 87, 181 und 203f.). Darüber hinaus gewährt er Einsichten in die von Lehrer-Entlassungswellen begleiteten Entnazifizierungsprozesse in Sachsen und deren Folgen für den Schulbetrieb (z.B. S. 38, 71 und 161). Der Verfasser kann sich dabei auf eine langjährige und weitreichende Forschungspraxis in der Biografieforschung stützen1, die er nutzt und durch weitere biografische Studien ergänzt, um ein differenziertes Bild von den Mechanismen der Diktaturdurchsetzung zu zeichnen. Dabei rücken die lebensgeschichtlichen Bezüge der Protagonisten in den Vordergrund – vor allem diejenigen, welche „parteipolitische Sympathien oder Bindungen“ (S. 14) sowie pädagogische Auffassungen betreffen und teilweise bis in die Zeit der Weimarer Republik und die NS-Zeit zurückreichen (z.B. S. 17f., 37f., 65 und 153). Insgesamt baut sich das Buch weitgehend chronologisch sowie dem Ausmaß der Verfolgung sächsischer Pädagogen in den wechselhaften Zeitabschnitten der 1950er-Jahre entsprechend auf.

Im ersten Kapitel stellt Pehnke den „Ausgrenzungsprozess reformpädagogisch orientierter Schuldirektoren“ und das „Schicksal ihrer Reformschulen“ (S. 17) anhand von drei Schulreformern verschiedener Wirkungsstätten Sachsens (Chemnitz, Leipzig und Zschopau) und deren Werdegang nach 1945 vor: Fritz Müller (1887-1968), Waldus Nestler (1887-1954) und Kurt Schumann (1885-1970). Im Unterschied zu den drei Einzeldarstellungen dieser Reformpädagogen (vgl. Anm. 1) sind für den ersten Abschnitt des vorliegenden Buches biografische Bezüge thematisch und zeitlich auf die „DDR-Wirklichkeit“ (S. 9) fokussiert, vor allem auf die pädagogischen und schulischen Entwicklungen zwischen 1945 und 1959. Ausgewählte historische Aspekte der Biografien zur Weimarer Republik und der NS-Zeit sollen die Motive und Einstellungen der widerständigen Pädagogen erhellen. Die Zeit des Kaiserreiches bleibt ausgeblendet.

Alle drei Pädagogen wurden 1933 aus dem Schuldienst entfernt bzw. strafversetzt. Nach 1945 als Schuldirektoren eingesetzt, trieben sie den Wiederaufbau der Schulen mit großem Engagement und reformpädagogischen Traditionen verpflichtet voran. Nach einer kurzen schulpolitischen Phase in den Jahren 1945 bis 1948, in der die Reformpädagogik eine verhaltene Renaissance erlebte, wurden diese Pädagogen abermals wegen ihrer sozialdemokratischen bzw. (christlich) pazifistischen Denktraditionen in ihrem Berufsfeld degradiert bzw. daraus verdrängt. Die Chemnitzer Humboldtschule, an deren Wiedereröffnung sich Fritz Müller maßgeblich beteiligte, war ab 1949 von ihrem reformpädagogischen Versuchsauftrag „befreit“ (S. 35), während die Leipziger Gaudigschule, an der Nestler bis September 1950 als Direktor wirkte, im August 1951 (unter dem Namen Oberschule Nord) endgültig ihre Tore schloss (S. 50-59).

Bereits nach den ersten beiden Biografien ist ein detaillierter und anschaulicher Einblick in die existenzbedrohlichen Situationen der reformpädagogischen Schulen als Auswirkungen der abstrakten schulpolitischen Richtlinien und Weisungen möglich. Auch die Verflechtungen persönlicher Konflikte, die der Willkür repressiver Maßnahmen gegenüber den vorgestellten Pädagogen Vorschub leisteten, werden thematisiert. Besonders reichhaltig und vielseitig zeigen sich diese in der dritten Studie zu Kurt Schumann, welcher der verhältnismäßig größte Raum (75 Seiten) zugemessen wird und die auch den umfassendsten Einblick in die Persönlichkeit bietet. So kann der Leser Schumann dabei begleiten, wie er als sympathischer Hauptprotagonist mit viel Humor, Eigensinn und seiner, von ihm selbst als „loses Maul“ bezeichneten (S. 118), direkten Art durch die repressive DDR der 1950er-Jahre stolpert.

Allen drei Schulreformern ist das Unverständnis über die zumeist von einheimischen Funktionären (S. 71) rigoros durchgesetzte, undifferenzierte Entnazifizierung gemeinsam, die Entlassungswellen ungekannten Ausmaßes auslösten und ein geordnetes Schulleben unmöglich machten.

Das zweite Kapitel unterstreicht nochmals die Willkür der administrativen, ideologiegeleiteten Vorgehensweise. Hier offenbart sich, welcher geringfügige Anlass einen Ausgrenzungsprozess leidiger Reformpädagogen in Gang setzen konnte. Im geschilderten Fall beantragte der Berufsschuldirektor Walter Fridolin Ulbricht einen Interzonenpass, um seinen Sohn im westlichen Teil Deutschlands besuchen zu können. Nach der Ablehnung seines Ansinnens bekam er in letzter Konsequenz sogar die Kündigung.

Im dritten Kapitel zur „vollständigen Liquidierung sozialdemokratischer Bildungstraditionen“ (S. 152) finden sich die Lebensgeschichten dreier Schulräte aus dem Raum Chemnitz: Moritz Nestler (1886-1976), Carl Rudolph (1891-1955) und Max Kosler (1882-1966). Alle drei wurden nicht nur 1933 wegen ihrer Unterstützung der sozialdemokratischen Bildungspolitik in der Weimarer Republik aus dem Schuldienst entlassen, sondern waren auch während der NS-Zeit von Verhaftungen durch die Gestapo betroffen und teilweise in Konzentrationslager verbracht worden.

Nach dem Krieg setzten die drei Schulräte bevorzugt während der NS-Zeit aus dem Dienst gedrängte Reformpädagogen als Schulleiter ein und bemühten sich um eine differenzierte Einzelfallprüfung der NS-Vergangenheit bei der Entlassung von Lehrern. Dabei gerieten sie immer wieder in Konflikte mit Funktionären der KPD bzw. später SED. Zum Verhängnis wurde ihnen letztlich ihr sozialdemokratisches Engagement, das sie nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD im Jahr 1946 illegal fortsetzten. Ende der 1940er-Jahre war die Überwachung und Bespitzelung der Schulräte so weit fortgeschritten, dass hinreichend als belastend eingestuftes Material beisammen schien, um die missliebigen Pädagogen verhaften zu können. Nach der Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen (25 Jahre) mussten sie, diesmal unter stalinistischem Vorzeichen, ins Gefängnis bzw. zeitweise sogar ins Konzentrationslager. Nestler und Kosler wurden in den 1950er-Jahren entlassen und lebten fortan in der Bundesrepublik, Rudolph starb im Haftkrankenhaus Leipzig.

Diese ersten drei Kapitel sind den so genannten „Altlehrern“, die ihre reformpädagogischen Erfahrungen noch in der Weimarer Republik sammeln konnten, sowie deren Vertreibung aus dem Schuldienst und ihrer Verfolgung gewidmet.

Das vierte Kapitel wendet sich der zweiten und endgültigen Ausgrenzung der Reformpädagogik infolge der DDR-Bildungsreformdebatten von 1956 zu. Anhand von drei Pädagogen und einer Pädagogin der 48. Leipziger Grundschule (Gerhard Hanemann [geb. 1927], Werner Scheps [geb. 1914] sowie das Ehepaar Ruth und Richard Wolff [geb. 1927 und 1928]), die ihre pädagogische Ausbildung bereits in der SBZ/DDR erhielten, wird die Statuierung eines Exempels durch die SED-Funktionäre nachgezeichnet.

Anlass für diese Maßnahmen boten deren Auflehnung gegen den Stalinkult bzw. die schleppende Entstalinisierung nach den Versprechungen der kurzen „Tauwetterperiode“ 1956 sowie ihr Eintreten für eine Demokratisierung der DDR-Schule. Unter anderem beschuldigt, die sozialistische Schulpolitik kritisiert zu haben, verurteilte das Gericht die Lehrer/in 1959 zu anderthalb bis drei Jahren Gefängnis. Dabei wurden nicht nur die Angeklagten selbst, sondern auch deren Angehörige in Mitleidenschaft gezogen. So musste sich im Fall Hanemann dessen Ehefrau der demütigenden Prozedur unterziehen, vor dem Lehrerkollegium ihrer Schule eine Stellungnahme zur Verurteilung ihres Mannes zu verlesen (S. 210).

Im Unterschied zu den vorangegangenen Biografien war es diesen vier Pädagogen nach ihrer Haft durch den Mauerbau de facto nicht mehr möglich, aus der DDR zu flüchten. Sie sahen sich auch danach noch jahrelang erniedrigenden Schikanen ausgesetzt (Bewährung in der Produktion bzw. Arbeitslosigkeit). Drei der Verurteilten gelang es jedoch schließlich, wieder an einer Schule zu unterrichten.

Die internationalen Studien des fünften Kapitels sollen exemplarische Vergleichsmöglichkeiten zur Diktaturdurchsetzung liefern (S. 10). Die auf die Darstellung der DDR-Geschichte folgende tschechische Studie zum Pädagogen und Wissenschaftler Cyril Stejskal (1890-1969) knüpft dabei an das biografische Konzept des Buches an. Aufgezeigt wird darin die politische Motivation, durch die Stejskal seit 1948 in seiner pädagogischen und wissenschaftlichen Arbeit eingeschränkt, von der Hochschule ausgeschlossen, später verhaftet und erst in seinem Todesjahr von der Universität hinsichtlich seiner beruflichen Tätigkeit rehabilitiert wurde. Marie Vichrová und Jiři Zounek gelingt es dabei, einen (trotz schwieriger Aktenlage, vgl. S. 228) auf Archivquellen gestützten, flüssig geschriebenen, exemplarischen Einblick in die gesellschaftlichen und pädagogisch-wissenschaftlichen Bedingungen der Tschechoslowakei zu geben.

Ein weiterer Beitrag bietet einen Überblick über die reformpädagogischen Strömungen in Ungarn vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Zunächst wurden nach 1945 reformpädagogische Bestrebungen wieder rezipiert. Herausgestellt wird, dass kurzfristig sowohl die psychologischen als auch die reformpädagogischen Ansätze „gesellschaftliche Gleichheit“ (S. 229) zu schaffen beabsichtigten, diese Aktivitäten jedoch Ende der 1940er-Jahre mit der kommunistischen Machtübernahme rigoros unterbunden worden sind. Bei der „Ausgrenzung der Pädologie“ kommt der im Vergleich zu den Arbeiten über die DDR und Tschechoslowakei neue Aspekt des Antisemitismus dazu (S. 245). So seien im Zuge der von Stalin eingeleiteten antisemitischen Welle 1950 nach jüdischen Bezügen der ungarischen Pädologie und Psychologie gesucht und daraufhin die Mitarbeiter des ungarischen Landeserziehungsinstituts entlassen, interniert oder verfolgt worden (ebd.).

Dass in diesem Beitrag die Zeit des Zweiten Weltkrieges kaum berücksichtigt wurde, erschwert ein wenig das Verständnis für die Nachkriegsentwicklungen in Ungarn. Mehr Hintergrundinformationen zur ungarischen Geschichte sowie die Korrektur einiger sprachlicher Probleme hätten einen leichteren Lesefluss erlaubt. Insgesamt sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede des pädagogischen Lebens in allen drei Ländern unverkennbar – vor allem in der sich abzeichnenden Zäsur des Jahres 1948.

Der Hauptfokus des Buches liegt, wie auch im Titel angegeben, auf den „widerständigen sächsischen Schulreformern“. Ein geschlossenes Bild der Lehrermaßregelungen in der SBZ/DDR nach 1945 ist in dieser (intensiven) Form der Einzelfallanalysen weder möglich noch Anliegen des Buches. Als Studie soll es dazu anregen, dieses Forschungsfeld weiter zu bearbeiten, zu vertiefen und auf die verschiedenen Länder innerhalb der SBZ und des gesamten „Ostblocks“ auszuweiten (S. 16). Mitreißend geschrieben und durch die Vielfalt der Quellen, die Quellennähe sowie die systematische Einordnung in die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge dürfte das Buch nicht nur in Fachkreisen, sondern auch bei pädagogisch und historisch interessierten Laien Beachtung finden.

Anmerkung:
1 Vgl. Pehnke, Andreas, „Ich gehöre in die Partei des Kindes!“ Der Chemnitzer Sozial- und Reformpädagoge Fritz Müller (1887-1968), Beucha (bei Leipzig) 2002; ders., Botschaft der Versöhnung. Der Leipziger Friedens- und Reformpädagoge Waldus Nestler (1887-1954), Beucha (bei Leipzig) 2004; ders., „Ich gehöre auf die Zonengrenze!“ Der sächsische Reformpädagoge und Heimatforscher Kurt Schumann (1885-1970), Beucha (bei Leipzig) 2004; ders., „Vollkommen zu isolieren!“ Der Chemnitzer Schulreformer Moritz Nestler (1886-1976), Beucha (bei Leipzig) 2006.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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