C. Nebgen: Missionarsberufungen nach Übersee

Cover
Titel
Missionarsberufungen nach Übersee in drei deutschen Provinzen der Gesellschaft Jesu im 17. und 18. Jahrhundert.


Autor(en)
Nebgen, Christoph
Erschienen
Regensburg 2007: Schnell & Steiner
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Friedrich, Historisches Seminar, Johann Wolfgang Goethe-Universität

Erfreulicherweise nimmt mittlerweile auch die deutsche historische Forschung Teil am international ständig wachsenden Interesse an der Gesellschaft Jesu. Eine wichtige Rolle dabei spielt gerade die katholische Kirchengeschichte in Mainz mit ihrem Projekt zu deutschen Jesuitenmissionaren in Amerika. Aus diesem Kontext stammt auch die hier anzuzeigende Arbeit. Während der missionsgeschichtliche Aspekt von Nebgens Buch eine derzeit allgemein zu beobachtende Schwerpunktsetzung nachvollzieht, ist als eher ungewöhnlich zu würdigen, dass hier auch verwaltungsgeschichtliche und gruppenbiographische Fragestellungen hinzutreten. Vorgenommen hat sich der Autor eine zwar nicht unbekannte, aber trotz Einzelstudien noch immer zu wenig analysierte Quellengruppe, die so genannten litterae indipetarum, was man – etwas salopp – übersetzen könnte als „Bewerbungs- und Werbeschreiben von Missionswilligen in eigener Sache“. Etwa 22.000 dieser Texte sind im römischen Archiv der Gesellschaft Jesu überliefert, ausgewählt wurden hier die circa 1400 Stücke dreier deutscher Ordensprovinzen (die beiden rheinischen und die oberdeutsche).

Bei den Briefen, die missionswillige Jesuiten zumeist an den General oder (in wenigen rekonstruierbaren Fällen) auch an die regionalen Assistenten in Rom richteten, ging es zunächst einmal darum, dem Adressaten das eigene Interesse an der Mission sowie die Eignung für diese Aufgabe plausibel zu machen. Nebgen nutzt diese Selbstdarstellung der Schreiber, um die „Qualifikation(en) eines Übersee-Missionars“ genauer herauszupräparieren (S. 173-239). Abgeglichen werden diese Äußerungen mit verschiedenen anderen – normativen, deskriptiven, anleitenden – Quellen zum selben Thema. Dadurch gelingt ein überzeugendes Panorama nicht nur der geforderten Eigenschaften (vor allem Sprachfähigkeiten und körperliche Robustheit), sondern auch eine anregende Skizze zur pragmatisch-realistischen Einschätzung logistischer, aber auch persönlicher Schwierigkeiten missionarischer Tätigkeit durch die Ordensoberen. Gerade das von Nebgen in der Universitäts-Bibliothek München aufgefundene Konvolut „missionsaszetischer Literatur“ ermöglicht ihm hier einen alltagsnahen Zugriff.

Es ist deutlich, dass Nebgen gerade keinen Genre-immanenten Interpretationsansatz verfolgt. Entsprechend stellt er im ersten Kapitel die historischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Missionarstätigkeit deutscher und anderer, nicht-iberischer Jesuiten dar, die für die längste Zeit der Ordensgeschichte deren Engagement unmöglich machten oder zumindest außerordentlich erschwerten. Kapitel III bringt unter dem Titel „gezielte Propagierung des Missionars-Ideals“ eine Fülle von Belegen dafür, dass und wie die Bereitschaft und Begeisterung der (deutschen) Jesuiten für die Mission von den Praktiken gezielter ordensinterner Informationsvermittlung („Propagierung“) abhing. Sollten an der Wirksamkeit von literarischen, bildlichen und theatralischen Produktionen auf ein breiteres Ordenspublikum noch Zweifel bestanden haben, werden sie durch Nebgens immer nachvollziehbare, bisweilen sogar schlagende Rückbindung einzelner Missionare und ihrer indipetae an Druckwerke oder Theateraufführungen ausgeräumt.

Administrative und gruppenbiographische Themen kommen im Kapitel II zur Sprache, das sich der Entstehung, seriellen Auswertung und Überlieferung des Quellenbestandes widmet. Statistisch analysiert werden unter anderem das Alter der Schreiber (vor allem Übergangsphasen im Ordensleben), ihre geographische Herkunft (große Kollegien, Bodensee-Region) und die Absendedaten (strategische Auswahl, vor allem bestimmte Heiligenfeste). Hervorzuheben ist, dass hier die Archivierungspraxis der Texte thematisiert wird; dadurch wird die Benutzung der Schreiben in Rom als komplexe bürokratische Praxis angesprochen. Freilich scheint mir an dieser Stelle im einzelnen noch Klärungsbedarf zu bestehen, eindeutig belegt ist beispielsweise ein „Liber petentium pro missionibus et aliis“ nicht erst für 1615, sondern bereits für die Zeit um 1580 (ARSI Inst 117, fol. 329r), während die detaillierte Archivübersicht in den Regulae Secretarii Societatis (caput I, §7) zum Thema schweigt.

Die Einbettung der indipetae in diese Kontexte soll hier ausdrücklich hervorgehoben werden, weil gerade die bürokratischen Anforderungen, die die beständige Kommunikation stellte, in vielen anderen Publikationen zur Gesellschaft Jesu noch immer zu wenig berücksichtigt werden. Auch die Idee, die Entstehung der Texte an außerliterarische Faktoren – Propaganda, Rechtslage – rückzubinden, ist sehr überzeugend. Freilich hätte dies nicht zwingend zum gänzlichen Verzicht auf die literarische oder rhetorische Analyse der Texte führen müssen. Nebgen kritisiert zwar zu Recht, dass andere Arbeiten diesen Aspekt ganz einseitig in den Vordergrund stellen, doch müsste dies nicht zu einer ähnlich extremen Ausblendung solcher Analyseverfahren führen. Immerhin geben die Schreiben sehr wohl Auskunft über kollektiv akzeptierte Hoffnungen, Sehnsüchte und Ausflüchte, über Idealbilder frommen Verhaltens, über die Wahrnehmung des Martyriums usw., und außerdem waren sie schlichtweg auch dazu gedacht, die Oberen zu überreden bzw. zu überzeugen.

Überhaupt hätte an manchen Stellen stärker betont werden können, dass die indipetae bisweilen weniger eine schlichte Offenbarung individueller Vorlieben („Berufung“) waren, sondern einem ausgeklügelten institutionellen und kommunikativen Kalkül der einzelnen Autoren unterlagen, die dabei gelegentlich das Kommunikationssystem des Ordens sehr wohl für eigene Zwecke instrumentalisierten (oder, aus römisch-kurialer Sicht, ‚missbrauchten‘). Manche Schreiber waren versierte Akteure, die versuchten, ihre Oberen gegeneinander auszuspielen oder doch mindestens zu übergehen (Beispiel etwa in Monumenta Novae Franciae I, S. 279f./284f. mit dem wichtigen Hinweis auf das bei Nebgen kaum thematisierte Verhältnis der indipetae zu den soli-Schreiben). Die einzelnen Jesuiten waren eben nicht alle bloß passive Bittsteller gegenüber der Ordensleitung, sondern mindestens zum Teil clevere Manipulateure, die präzise abwägten, wie sie ihre eigenen Interessen durchsetzen konnten. Das jesuitische Kommunikationssystem in all seinen Facetten war zugleich Schauplatz und Mittel im Durchsetzungskampf unterschiedlicher individueller bzw. institutioneller Interessen, wobei beide Seiten als aktiv Agierende zu behandeln sind, die freilich über ganz unterschiedliche Macht- und Durchsetzungspotentiale verfügten (Ausgangspunkt hätte etwa die einschlägige Originalstelle auf S. 222 sein können).

Noch an anderen Stellen bietet die Studie Gelegenheit für interessierte Nachfragen. So weit ich sehe, ist die Missionarstätigkeit das einzige Aufgabenfeld, für das sich Jesuiten selbst bewerben durften. Für keine andere Betätigung – weder in Seelsorge oder Unterricht, Verwaltung oder Katechese – gibt es ähnliche Quellen. Woher kommt diese Sonderstellung des Missionsamtes, was sagt also die schiere Existenz und Zulässigkeit der indipetae über den Stellenwert bzw. das Verständnis der Missionen für die Gesellschaft Jesu aus? Noch genauer analysiert werden müsste hierzu vielleicht einmal die Frage, wie sich die Tatsache einer (bittenden) Selbstfestlegung der Schreiber auf einen Aufgabentyp zum ignatianischen Zentralgedanken der Indifferenz verhält. Stellen die indipetae eine Ausnahme von jener Indifferenz dar oder erfüllt sich im Abfassen eines solchen Schreibens dieses Prinzip gerade, wie etwa Lukács Formel von den indipetae als ‚Frömmigkeitsübung‘ nahelegen könnte (hier nur en passant zitiert, S. 97)? Solche Fragen an die indipetae könnten zu einer stärkeren Profilierung der missionarischen Tätigkeit im Selbstverständnis des Ordens beitragen.

Ausgehend von Nebgens Ergebnissen und vor dem Hintergrund der wenigen anderen bisherigen Studien könnte es in diesem Zusammenhang auch ein lohnendes Arbeitsfeld sein, einmal eine Gesamtgeschichte der indipetae zu schreiben. Wenig wissen wir bisher über die historischen Anfänge dieser Quellen, ihren Ursprung, die frühesten Reaktionen der Ordensleitung auf diese neue Kommunikationsform und ihre literarisch-formale Entwicklung. Angesichts der deutschen ‚Verspätung‘ wird dies wohl vorrangig an Hand von Briefen aus anderen Regionen zu geschehen haben. Nebgen macht auf jeden Fall deutlich, dass die deutschen Schreiber wohl einfach auf ein etabliertes Verfahren zurückgriffen und stellt dabei sehr überzeugend die Rolle der Spirituale heraus.

Nebgens Erkenntnisse zur Ordensverwaltung laden schließlich dazu ein, zukünftig einmal die Mechanismen jesuitischer Personalpolitik genauer zu analysieren. Diese Studie liefert an einigen Einzelfällen zentrale Hinweise darauf, dass und wie Generale und Provinziale ‚unter sich‘ über Personalangelegenheiten sprachen – meistens in ganz anderem Ton als der Bewerber selbst. Allerdings führt dies im vorliegenden Fall noch nicht zu einer Bewertung des tatsächlichen Stellenwerts, den die ‚Bewerbungsschreiben‘ für die administrative Entscheidungsfindung in Personalangelegenheiten tatsächlich hatten. Zu fragen wäre: Welche Rollen spielten die beiden Korrespondenztypen, indipetae und administratives Personalschrifttum, im administrativen Alltag der römischen Kurie, welchen Anteil an Personalentscheidungen hatten die diversen Hierarchiestufen des Ordens (dazu nur sehr knapp S. 209)? Hilfreich dazu wäre zum Beispiel eine Aussage darüber gewesen, wie viele Jesuiten in die Mission geschickt wurden, ohne einen derartigen Bewerbungsbrief geschickt zu haben (wir erfahren lediglich andersherum, dass nur ein kleiner Bruchteil aller indipetae-Schreiber auch tatsächlich zu Missionaren wurden, S. 98-100). Wir wissen wohl von Jesuiten, die gegen ihren Willen oder zumindest ohne besondere Neigung in die Mission geschickt wurden – wieso griff man nicht auf die zahlreichen ‚Willigen‘ zurück?

Nebgen hat in seiner verdienstvollen, gut lesbaren und aspektreichen Arbeit insgesamt einen wichtigen Beitrag zur Jesuitenforschung geleistet. Die umsichtige Einbettung des Quellenkorpus zeigt, wie zahlreich die Kontexte sind, die moderne Ordensgeschichte mitbedenken muss. Zugleich macht diese Arbeit besonders deutlich, wie sehr gerade die administrative Seite der Gesellschaft Jesu bisher in der Forschung unterbelichtet ist. Auch die Mechanismen jesuitischer ‚Personalpolitik‘ müssen zukünftig noch schärfer profiliert werden. Für die zukünftige Schließung dieser Lücken ist dieses Buch ein unverzichtbarer Ausgangspunkt. Abschließend sei auch auf den verdienstvollen prosopographischen Anhang hingewiesen, der alle Schreiber von indipetae mit wesentlichen Daten alphabetisch erfasst.

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