I. Mayer: Historiographie in Deutschland 1789 bis 1848/50

Titel
Sprachspiele der Revolution. Zur Geschichte der Historiographie in Deutschland zwischen Revolution und "Realpolitik" 1789 bis 1848/50


Autor(en)
Mayer, Ines
Reihe
Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung 33
Erschienen
Münster 2007: LIT Verlag
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Deinet, Universität Essen

Können wir die Geschichte, die wir erleben, selber beschreiben, oder müssen wir dies späteren Historikern überlassen? Hat nur der Zeitgenosse die richtige Witterung für den spezifischen Zeitgeist, und nur der Historiker den rechten Durchblick für die Zusammenhänge? Oder sind wir vielleicht dann für das Erzählen besonders prädestiniert, wenn wir zu dem Erzählten im Abstand des eigenen Lebens stehen, zwar noch in losem biografischen Bezug mit ihm verbunden, aber doch schon so weit von ihm entfernt, dass wir die Folgerungen, die der Zeitgenosse aus dem Erlebten zieht, als Truggebilde einer zu voreilig vorweggenommenen Zukunft zu entlarven vermögen?

Wenn diese letztere Vermutung stimmt, dann hätte Ines Mayer recht, wenn sie die Vertreter der nachgeborenen Generation zu ihren Lieblingen erklärt, also jene Historiker wie Johann Gustav Droysen, Lorenz von Stein, Karl von Rotteck, Friedrich Christoph Schlosser, Heinrich Leo, Wilhelm Wachsmuth und andere Verfasser heute meist vergessener Werke über die Französische Revolution, die zwischen 1830 und 1848 in Deutschland erschienen und die das Bild des liberalen Bürgertums von diesem epochalen Ereignis geprägt haben. Frau Mayer fügt auch noch die ins Deutsche übersetzten Werke der Franzosen, also Thiers, Mignet, Droz und de Staël, sowie einiger Briten wie Carlyle und Mackintosh hinzu. Ausgehend von einem wenig beachteten Aufsatz von Fritz Ernst aus dem Jahre 1957, rechtfertigt sie diese Auswahl, indem sie zwischen „Zeitgeschichtshistorikern“ und „Gegenwartschronisten“ differenziert. Während sie die im Generationsabstand entstandenen Werke jener nahezu vollständig berücksichtigt, greift sie aus der großen Zahl der deutschen Reiseberichterstatter und Zeitzeugen – also der „Gegenwartschronisten“ – der Französischen Revolution nur das eine oder andere Beispiel heraus.

Was dabei herauskommt, ist in jedem Falle beachtlich. Ginge es allein nach der Sammlung schöner Zitate, so hätte sich diese Neulektüre bereits gelohnt. Zu verfolgen, wie anschaulich, aber auch wie differenziert und theoriebewusst sich diese heute weitgehend vergessenen Autoren ihrem Thema zu nähern wussten, könnte manchen modernen Autor vor Neid erblassen lassen. Doch würde ein solcher Aufwand gewiss noch kein ambitioniertes Dissertationsvorhaben rechtfertigen. Frau Mayer hat sich deshalb eine theoretische Herangehensweise ausgedacht, die Ansätze der modernen Sprachwissenschaft mit dem alten Stoff koppelt. Ihr Mentor ist dabei der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein, ihr Ansatz dessen (wie sie selbst einräumt) etwas schwammiger Begriff des „Sprachspiels“.

Was damit gemeint ist und wozu sich der Begriff im Rahmen der Historiografiegeschichte besonders eignet, demonstriert sie in einem zitatgesättigten Hauptteil, in dem sie die Haupttypen solcher „Sprachspiele“ vorstellt. Um einfach die Titel der Unterkapitel zu nennen: es handelt sich um „Metaphern“ bzw. ganze Metaphernbündel (die Strom- und Sturmmetapher, die Krankheits- und Theatermetapher), aber auch um „Dichotomien und semantische Netze“, um die Behandlung des Begriffs der „Zeit“, um die sprachliche Bewältigung der Darstellung von Gewalt, um das Verhältnis von „Freiheit und Notwendigkeit“ und noch einiges mehr.

Zweifellos hätte bereits das bis hierher ausgebreitete Material gereicht, um eine konventionelle Dissertation zu füllen. Doch Ines Mayer tut ein übriges; sie kombiniert ihre sprachliche Analyse der deutschsprachigen historiografischen Werke zur Französischen Revolution mit einer solchen der zeitgenössischen, nämlich bis 1850 erschienenen Darstellungen der deutschen Revolution von 1848, insbesondere der Werke von Heinrich Laube, Wilhelm Zimmermann, Karl Jürgens und Rudolf Haym. Also noch einmal ein ausführliches Kapitel zu den Autoren, zum „Revolutionsbegriff“ und den „Revolutionsvorstellungen“ sowie zu den „Sprachspielen der Revolution von 1848/49“; im Ganzen ergibt dies ein stattliches Werk von 450 Seiten.

Rechtfertigen die Ergebnisse ein solch aufwändiges Vorgehen? Trägt das theoretische Konzept eine solche Menge darauf gestapelten Materials? Und schließlich: Ist die Wahl des Vergleichsobjekts, also die Inbezugsetzung von Französischer Revolution einerseits und deutscher Revolution von 1848/49 andererseits, in sich schlüssig?

Die Verfasserin selbst bezeichnet es als ein wesentliches Verdienst ihrer Untersuchung, den Nachweis geführt zu haben, „dass die Kenntnis der Französischen Revolution wahrnehmungsleitend wirken, und weiter: dass die Zeitgeschichtsschreibung über die Französische Revolution die Gesichtspunkte – oder Sprachspiele – für die Gegenwartschronisten der 48er Revolution vorgeben konnte“ (S. 413). Demnach sei es nicht verwunderlich, dass bei der Revolution von 1848 anders als im Falle der Französischen Revolution die ersten Darstellungen bereits nahezu zeitgleich mit den Ereignissen entstanden. Die Zeitgenossen waren gewissermaßen darauf vorbereitet und begleiteten die dicht vor ihren Augen sich entfaltenden Abläufe gleichzeitig als Zeitzeugen und mit dem Blick des geschulten Revolutionshistorikers: „Man kann also sagen, dass den Gegenwartschronisten der 48er Revolution ein reicher Fundus sprachlicher Mittel, bewährter Darstellungs- und Deutungsmuster zur Verfügung stand, um die neue Revolution in statu nascendi zu verarbeiten“. (S. 409)

Im Vergleich der Darstellung der beiden Revolutionen bzw. konkreter: Im Vergleich ihrer „Sprachspiele“ zeigt sich, so die Autorin, ein charakteristischer Unterschied. Zwar finden sich auch bei den Gegenwartschronisten der 1848er Revolution die bekannten Natur- und Theatermetaphern, ebenso die Tendenz, den Verlauf der Ereignisse entlang bestimmter Schemata (z.B. der Fieberkurve) zu strukturieren. Doch sei andererseits auffällig, dass dem Individuum ein größeres Maß an Freiheit im Sinne von Handlungsvermögen und damit auch von Eigenverantwortung zugestanden wird. Die Autorin folgert: „Durch diesen Perspektivenwechsel [also den Schritt von der Zeitgeschichtsschreibung zur Gegenwartschronistik – K.D.] wird die alte Dichotomie ‚Umstände versus Individuum’ obsolet, oder vielmehr aufgehoben – aus der Sicht der 48er Chronisten werden die Individuen nicht mehr zwangsläufig von den ‚Umständen’ bestimmt oder gar überwältigt, sondern umgekehrt werden diese vom Individuum erkannt und ‚in Rechnung gestellt’“. (S. 411)

Spätestens hier ist zu fragen, ob Ines Mayer sich nicht in den Fallstricken ihrer eigenen ambitionierten Versuchsanordnung verfangen hat. Ist die Ent-Individualisierung und die damit einhergehende Einebnung einer moralisierenden, die Verantwortung des einzelnen hervorkehrenden Darstellungsweise nicht ein geradezu axiomatisches Moment im Übergang von der „Gegenwartschronistik“ zur stärker historisierenden „Zeitgeschichtsschreibung“? Das Phänomen, das uns bei der Frage der angemessenen historiografischen Behandlung des Dritten Reiches noch heute umtreibt, hätte sich auch bei einem Vergleich der unterschiedlichen Darstellungsweisen der Französischen Revolution durch die „erste“ und die „zweite Generation“ nachweisen lassen: Während bei jener die Kategorien von Schuld und Verantwortung, von Täter und Opfer im Zentrum stehen, überwiegen seit Thiers und Mignet die der ‚Umstände’, der ‚Strukturen’ oder einfach des ‚Schicksals’.

Ein solcher Nachweis hätte sich natürlich deutlicher an der französischen Historiografie führen lassen und ist hier auch verschiedentlich versucht worden (Mellon, Spitzer, u.a.). Doch es gibt auch genügend deutsche Zeitzeugen der Französischen Revolution wie Oelsner und Forster, von Wieland, Schulz und Rehberg gar nicht zu reden, die die vor ihren Augen ablaufenden weltgeschichtlichen Eruptionen mit dem Besteck des beschreibenden Chronisten für die Nachwelt zu bannen versuchten. Hätte Ines Mayer ihre Untersuchung stärker in Richtung auf diese Gegenwartschronisten der Französischen Revolution hin geöffnet, statt die in ihrer geografischen Uneinheitlichkeit doch so anders geartete Revolution von 1848 mit einzubeziehen, so wären die Resultate vielleicht stringenter und weniger unverbindlich ausgefallen.

Ein anderer Weg hätte darin bestanden, die (vornehmlich französische) Historiografie der Französischen Revolution mit der Wahrnehmung der 1848er Revolution in Frankreich zu vergleichen, wie es der von Mayer verschiedentlich angeführte Felix Gilbert im Blick auf Lorenz von Stein vorgeführt hat. Eine solche Analyse hätte vielleicht nachzuweisen vermocht, dass nicht nur die Aperzeption, sondern auch die Aktion der Beteiligten in der Februarrevolution und den ihr folgenden Monaten von den Deutungsmustern der „Großen Revolution“, wie man sie ab 1848 zu nennen pflegte, beeinflusst war, bis hin zu der geradezu als selfullfilling prophecy vorweggenommenen Wiederholung des Brumaire-Staatsstreichs Napoleons I im Dezember-Putsch des dritten Napoleon. Eine solche Durchführung des Themas hätte sich freilich vor allem auf französische Darstellungen der 1848er Revolution stützen müssen, die ja ebenfalls in kurzem Abstand den Ereignissen folgten (Lamartine, Blanc, Marie d’Agout).

Trägt, so ist darüber hinaus zu fragen, das theoretische, von Wittgenstein abgeleitete Konzept des „Sprachspiels“, oder wird hier nur alter Wein in neue Schläuche gefüllt? Auch hier muss man wohl Abstriche machen. Es ist wie häufig in den Fällen, wenn ein zwar bekanntes, aber weitgehend vergessenes Quellenkorpus mit einem neuen theoretischen Ansatz verkoppelt wird: der Erkenntnisgewinn liegt weniger in der theoretischen Durchdringung, also darin, dass der Geschichtswissenschaft hier ein neuer Begriff geschenkt wird, als vielmehr darin, dass tief im Keller der Historiografiegeschichte abgelagerter Stoff neu sortiert und mit einem frischen Blick durchmustert wird. Dass dabei Metaphern und Begriffsmuster ans Tageslicht kommen, die nun im Neuzugriff „Sprachspiele“ genannt werden, mag weniger verwundern als die Lebendigkeit und Überzeugungskraft dieser Beispiele selbst wie auch die Intelligenz, mit der die Autorin diese Lesefrüchte ordnet und präsentiert. Insofern – „Sprachspiele“ hin oder her – ist die Arbeit allein als Fundgrube für künftige Historiografiehistoriker unentbehrlich.

Ebenso hervorzuheben ist schließlich, dass die Autorin der Versuchung widerstanden hat, die Komplexität ihres Vorhabens ihrerseits durch eine Kompliziertheit der eigenen Sprache zu doppeln, sondern im Gegenteil die Ambitioniertheit der Versuchsanordnung durch ihren angenehmen, fast plaudernden Ton fast vergessen lässt. Man liest die Arbeit auch als Nicht-Linguist und Nicht-Philosoph ebenso mit Gewinn wie mit Lust, und von welcher Dissertation kann man das schon sagen?

Schön wäre es freilich gewesen, wenn der Autorin dabei noch die Zeit geblieben wäre, über den Zaun ihres eigenen Ansatzes hinaus zu schauen auf benachbarte Versuche im gleichen oder ähnlichen Feld. Doch dazu fehlte angesichts der immensen Mengen durchgearbeiteter Materialien offenbar die Zeit. Zwar laufen zwischen ihrem Theorie-Pool (Wittgenstein) und ihrem Forschungskorpus überaus interessante Fäden hin und her; die Arbeiten, die sich, von einem anderen Theorieansatz, sei es dem Mimesis- oder dem Generations-Begriff her demselben Quellenfundus der deutschen (oder dem benachbarten der französischen) Historiografie der Französischen Revolution nähern, nimmt sie dagegen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in souveräner Selbstgewissheit nicht zur Kenntnis. Immerhin, auf diese Weise bleibt dem Forscher, der ihren Beitrag dankbar seiner Bibliothek einfügt, künftig auch noch ein wenig zu tun übrig.