M. Hengel: Geschichte des frühen Christentums I

Cover
Titel
Geschichte des frühen Christentums. Bd. 1: Jesus und das Judentum


Autor(en)
Hengel, Martin; Schwemer, Anna M.
Erschienen
Tübingen 2007: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
749 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Metzger, Fachbereich Evangelische Theologie, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Nachdem Martin Hengel in letzter Zeit vorwiegend damit beschäftigt schien, seine kleineren Untersuchungen zusammenzufassen und neu zu veröffentlichen 1, hat er sich nun zusammen mit seiner langjährigen Schwester im Geiste, Anna Maria Schwemer, aufgemacht, seiner Bibliographie ein weiteres Opus Magnum hinzuzufügen. Mit der hier zu besprechenden Monographie „Jesus und das Judentum“ eröffnen die beiden Autoren eine „Geschichte des frühen Christentums“, die auf vier Bände angelegt ist. Der erste Band beginnt nach der Vorstellung des Gesamtentwurfes mit einer Einführung in den historischen Kontext der Jesusbewegung. Zunächst wird das Urchristentum ganz in das Judentum eingezeichnet. Hermann Gunkels und Rudolf Bultmanns These, wonach das Christentum eine synkretistische Religion sei 2, wird strikt abgelehnt (S. 21). Das Christentum gehe ganz und gar aus dem Judentum hervor, das seinerseits hellenistischen Einflüssen unterworfen gewesen sei (S. 22). Das frühe Christentum wird als eine jüdische, „messianisch-universale Bewegung“ (S. 34) verstanden, die die Erfüllung der alttestamentlichen Hoffnungen verkündete. Der entscheidende Unterschied zum Judentum sei der Glaube, dass der Gesalbte Gottes bereits gekommen ist: in der Person Jesu von Nazareth (S. 34). Um diese These verständlich zu machen und das Verstehen des Wirkens Jesu zu ermöglichen, nehmen sich Hengel/Schwemer viel Zeit, den Kontext des frühen Christentums zu beschreiben. Im Hinblick auf die Person Jesu von Nazareth kommt es ihnen darauf an, keine einlinige „Messiasdogmatik“ (S. 500) zu konstatieren, sondern eine vielfältige Erwartung aufzuzeigen (S. 167), die für das Selbstverständnis Jesu interessant sein kann.

Der bei Weitem größte Teil des Buches widmet sich natürlich Jesus von Nazareth (S. 171–654). Zunächst werden Vorfragen geklärt, dann Jesus und Johannes der Täufer behandelt, danach Jesu Auftreten und Verkündigung besprochen, Jesu Vollmacht und messianischer Anspruch diskutiert, die Passion und schließlich die Zeugnisse von der Auferstehung Jesu dargestellt. Das Buch folgt also in seiner Anlage dem Aufriss der Evangelien und orientiert sich damit an einer „kerygmatischen Jesusbiographie“ (S. 220). Weder dieses Vorgehen noch dieser Beginn einer Geschichte des frühen Christentums ist selbstverständlich. So zeigt die Anlage bereits, dass die Autoren den (synoptischen) Evangelien, vor allem Markus und Lukas, eine relativ hohe historische Plausibilität zuerkennen und dass Jesus für die Autoren zu einer Geschichte des Christentums hinzugehört, obwohl er Jude war. Durchweg wenden sich die Autoren dabei gegen Thesen Rudolf Bultmanns und seiner Schüler (S. 171, 525 und öfter). Für Hengel/Schwemer ist klar, dass Jesus von Nazareth in die Geschichte des Christentums gehört, weil Ostern vorösterliche Erfahrungen bestätigte (S. 172). „Jesu Wirken und Leiden bilden nicht nur die ‚Voraussetzung‘, sondern sind Wurzel und Grund, man könnte auch sagen: der historische und theologische Ursprung des frühen Christentums“ (S. 174). Gegen Bultmann halten Hengel/Schwemer deshalb fest, dass Jesu Botschaft keineswegs „reines Judentum, reiner Prophetismus“ 3 gewesen sein soll. Sie erkennen Jesus ein durchaus messianisches Bewusstsein zu, das der Anknüpfungspunkt für seine Jünger gewesen sei, mit dessen Hilfe sie nach Ostern Jesus als den Messias verkündigen konnten. So soll „die messianische Sendung Jesu letztlich der Grund des christlichen Glaubens“ (S. 173) sein, weshalb die Darstellung dieses Grundes unbedingt zur Geschichte des Christentums zu zählen sei. Es geht den Autoren im Folgenden darum, Jesu „Spuren zu sichern, Grundlinien, Umrisse […] holzschnitthaft […] zu erkennen und nachzuzeichnen“ (S. 191). Dabei vermuten die Autoren, dass in der Betrachtung der Lehre und der Person Jesu bereits „Züge sichtbar werden, die mit einer inneren Konsequenz zum ‚Christus des Glaubens‘ hinführen“ (S. 192). Theologische Grundgedanken habe das Christentum aus dem Wirken und der Verkündigung Jesu übernommen (S. 194). Nach diesen Vorfragen wenden sich die Autoren den Quellen zu. Hengel/Schwemer weisen auf die außerchristlichen Quellen hin (Josephus, Tacitus, Sueton), besprechen christliche Hinweise außerhalb der Evangelien und kommen schließlich dazu, vor allem den – nach ihrem Urteil – frühesten Evangelien, Markus und Lukas, zu vertrauen (S. 215). Die Kriterien, anhand derer die Quellen untersucht werden, stellen die Autoren im nächsten Abschnitt vor. So ist die „methodische Sonde“, mit der man zur Jesustradition gelangen kann, das Kriterium der doppelten „Unableitbarkeit“ (S. 265). Dieses viel diskutierte „Differenzkriterium“ kann aber nur ein Ausgangspunkt der Untersuchung sein und muss durch das Kriterium der Kohärenz ergänzt werden, was man durchaus auch „Plausibilitätskriterium“ nennen kann.4

Die Autoren wenden sich danach dem materialen Teil zu. Zunächst beschreiben sie den geographischen Rahmen des Auftretens Jesu, Galiläa und Nazareth, und das familiäre Umfeld Jesu. Danach kommt Johannes der Täufer und das erste Auftreten Jesu in den Blick. Hengel/Schwemer vermuten, dass „Jesus wirklich bei der Taufe durch Johannes ein visionäres Berufungserlebnis hatte, das seinem Leben eine völlig neue Richtung gab“ (S. 322). Sie betonen, dass Jesus sich von da an als „der messianische Vollender“ (S. 338) gesehen haben dürfte, während er Johannes als Elias redivivus verstanden haben soll. Höchstens zwei Jahre soll Jesus gewirkt haben und in diesem Zeitraum durchaus mehrmals in Jerusalem gewesen sein. Hier vertrauen die Autoren auf die historische Zuverlässigkeit des Johannesevangeliums, was ansonsten nicht in Frage kommt. Dies ist nur ein Punkt, an dem sich dem Leser manchmal der Eindruck aufdrängt, die Autoren hielten gerade das in der Überlieferung für historisch zuverlässig, was sich gut in ihr Bild des Geschichte Jesu einfügt. Nachdem die Autoren verschiedene Redeformen Jesu untersucht haben (Gleichnisse, Weisheits- und Prophetensprüche), betrachten sie seine Verkündigung vom Reich Gottes. In seinem „Wirken in Wort und Tat“ (S. 411), nehme die urchristliche Gewissheit ihren Ausgang, dass „in Jesus der Messias gekommen und die Gottesherrschaft durch ihn am Werk“ sei (S. 411). Jesus soll aufgrund seines Selbstverständnisses an Gottes Stelle gehandelt (S. 331) und daher auch die Tora in Frage gestellt haben (S. 421). In ihm begegne die Liebe und Güte Gottes als der Versuch zu retten, was verloren ist (S. 453). Dies geschieht durch den Zuspruch der Vergebung (S. 454). Konkret wird dieser Zuspruch vor allem in den Heilungen Jesu. Diese werden von den Autoren als „Zeichen seiner messianischen Vollmacht“ (S. 464) gedeutet. Sie machen deutlich, dass „die Erfüllung der profetischen Verheißungen in der Gegenwart“ in Jesus Realität geworden ist. Seine Wunder wollen also als „Zeichen der jetzt anbrechenden Heilszeit“ verstanden werden. Historisch seien die in den Evangelien erzählten Wunder Jesu auf „einen konkreten Anhalt im Verhalten Jesu“ zurückzuführen, ihre Geschichtlichkeit ließe sich aber nicht erweisen (S. 496).

Nach der Betrachtung der Wunder Jesu geht es den Autoren um die Frage, ob Jesus sich selbst als Prophet oder als Messias verstanden habe. Schon die alternative Fragestellung sei irreführend (S. 501), da Jesus in seinem Anspruch, „die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung zu bringen, verschiedene Aspekte des zeitgenössischen Judentums“ verbunden habe (S. 501). Er rede und handle „in der Vollmacht der ihm eigenen ‚Gottesunmittelbarkeit‘, die man ‚messianisch‘ nennen“ müsse (S. 504); er ist also mehr als ein Prophet (S. 544). Warum berichten die Evangelien aber nicht deutlicher, dass Jesus sich selbst als Messias ausgegeben hat? Zunächst beantworten die Autoren diese Frage, indem sie darauf verweisen, dass auch ein Arzt seine Praxis irgendwann schließen muss: Jesus „möchte die Massenbewegung nicht noch weiter anfachen“ (S. 524). Allerdings reiche das im Markusevangelium begegnende Messiasgeheimnis über diese Pragmatik Jesu hinaus und liege in seinem „Personengeheimnis“ (S. 534) begründet. So habe Jesus sich selbst lediglich als Menschensohn bezeichnet (S. 529) und seine Offenbarung mit dem Anbruch der Gottesherrschaft verbunden (S. 532). Allerdings konnte er sich nicht selbst als Messias bezeichnen, weil Gott ihn als solchen offenbaren musste (S. 545). Lediglich als „Messias designatus“ (S. 546) konnte er auftreten und damit den Messiastitel lediglich evozieren. Außerdem hätte die Verwendung des Titels sofort zu politischen Konsequenzen geführt. Deshalb habe er seine Jünger angewiesen, über seine wahre Identität zu schweigen, woraus schließlich das Messiasgeheimnis des Markusevangeliums entstanden sei. Das Fazit, das die Autoren ziehen, scheint mir fraglich: „Das komplexe ‚Messiasgeheimnis‘ hat also sehr verschiedene Aspekte, geht letztlich auf Jesus selbst zurück und wurzelt im Geheimnis seiner Person und ihrer Sendung.“ Hier scheint mir die historische Rückfrage zu viel zu wollen. Wird hier nicht dem Evangelium und einem dezidiert theologischen Konzept zu viel zugemutet? Als der messianische Vollender der alttestamentlichen Erfüllungen kommt Jesus also zu dem Schluss, dass er in Jerusalem als Opfer für sein Volk und alle Menschen sterben muss.

Nun wenden sich die Autoren der Passion Jesu zu. Das Selbstverständnis Jesu als Sühnopfer tritt im letzten Passahmahl Jesu mit seinen Jüngern deutlich in den Vordergrund. In einer „messianischen Gleichnishandlung“ weist Jesus seinem Sterben eine soteriologische Bedeutung zu (S. 584). Die letzte Zeichenhandlung Jesu dürfte die Tempelreinigung gewesen sein. Diese und die anschließenden Kampfgespräche in Jerusalem bringen die jüdischen Autoritäten zum Handeln. Sie sehen in Jesus eine Gefahr für die eigene Position. Sie übersetzten den Messiasanspruch Jesu in die Sprache der Römer und geben Jesus als „König der Juden“ aus (S. 576f.): „Jesus war als messianischer Prätendent zugleich falscher Profet, Volksverführer und Gotteslästerer“ (S. 599). Die politisch interpretierte Messiasfrage steht damit im Mittelpunkt (S. 598), sie „war von Anfang bis zum Ende die Grundfrage des Prozesses“ (S. 604). Als Hochverräter und Aufrührer wird Jesus von Pilatus zum Tode am Kreuz verurteilt. „Jesus stirbt in der Anfechtung jener Gottesferne, die schon die Gethsemaneszene beherrscht.“ (S. 617) Wie passt diese Gottesferne aber zu dem bewusst gewählten und vorausgewussten Sühnetod?

Die Darstellung des Selbstverständnisses Jesu durch Hengel/Schwemer erscheint durchaus plausibel. Sie ist allerdings theologisch fast zu gefällig, um ‚wahr’ zu sein. Es ist historisch durchaus möglich, dass ein charismatischer Prophet aufgrund seiner Auferstehung von seinen Anhängern zum Messias ausgerufen wird. Es scheint mir sogar durchaus plausibel, Jesus selbst einen implizit messianischen Anspruch zuzugestehen, an den seine Jünger nach Tod und Auferstehung anknüpfen konnten. So können die führenden Köpfe der Jünger aufgrund der Faktizität der Ereignisse unter Verwendung der Gottesknechtstradition der Septuaginta das Kreuz gedeutet haben. So konnten sie seine Auferstehung als Bestätigung seiner Sendung verstehen. Das heißt aber nicht, dass Jesus sich auch als Sühnopfer verstanden haben muss. Zu einem messianischen Vollmachtsbewusstsein passt es meines Erachtens schlecht, dass Jesus seinen eigenen Tod soteriologisch aufgeladen haben soll. Reflexionen historischer Begebenheiten scheinen im Markusevangelium an den Stellen aufzuleuchten, an denen auch die Autoren konstatieren, dass kein anderer „antiker Held“ auf die Art und Weise stirbt wie Jesus. Dieser bettelt in Gethsemane um sein Leben und schreit am Kreuz nach seinem Gott. Müssten die Autoren nicht eher die Darstellung des Sterbens Jesu im Johannesevangelium als historisch zuverlässigen Bericht anführen, um ihre These zu stützen? Das Markusevangelium berichtet eher von einem Jesus, der nicht souverän in den Tod geht, sondern diesen wirklich erleidet. Dies erkennen die Autoren ja auch selbst an (S. 588). Von einem Selbstopfer ist hier wenig zu bemerken.

Im abschließenden Kapitel besprechen die Autoren dann die Quellen zur Auferstehung. Zunächst steht 1. Kor 15,3–8 als ältestes Zeugnis im Mittelpunkt (S. 626). Entstanden unmittelbar nach Jesu Auferstehung in Jerusalem (S. 633), vertrauen Hengel/Schwemer auch hier auf historische Zuverlässigkeit. So wollen sie eine Auferstehung am dritten Tag genauso festhalten wie auch die Faktizität des leeren Grabes anhand der Betonung des Begräbnisses (S. 629) und einer Massen-Christusepiphanie in Jerusalem (S. 635). Die entscheidende Epiphanie sei aber vor den Elfen geschehen (S. 645), wobei die erste Epiphanie Jesu wahrscheinlich vor Frauen in Jerusalem geschehen sei. So käme Maria aus Magdala zu ihrer prominenten Stellung in den Evangelien (S. 648). Mit einem schmalen Rück- und Ausblick endet die Darstellung. Erschlossen ist das Werk durch ausführliche und sehr hilfreiche Register, die die Mühe ihrer Erstellung lohnen.

Insgesamt erstaunt des Öfteren, wie sehr die Autoren den biblischen Texten vertrauen. Gerade was das Selbstverständnis Jesu als Opferlamm angeht, sind Bedenken anzumelden. Allerdings schmälern die benannten Differenzen den Ertrag des Buches keineswegs. Wie fast alle Untersuchungen Hengels ist auch dieses Werk ob des immensen Quellenwissens und der geschlossenen, thesenfreudigen Darstellung lesenswert. Gerade seine oft steilen Anschauungen, die großzügig historische Lücken mit Hilfe von phantasievollen Arbeitshypothesen überbrücken können, sind eine stetige Herausforderung für das eigene Denken. Auf die weiteren Bände der „Geschichte des frühen Christentums“ darf der Leser sich freuen.

Anmerkungen:
1 Vgl. zuletzt Hengel, Martin, Kleine Schriften, Bd. 5: Jesus und die Evangelien, Tübingen 2007.
2 Vgl. Bultmann, Rudolf, Das Urchristentum, 2. Aufl., Zürich 1952, S. 146ff.
3 Bultmann, Rudolf, Die Christologie des Neuen Testamens, in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. 1, 4. Aufl., Tübingen 1961, S. 265.
4 Vgl. Theißen, Gerd; Merz, Annette, Der historische Jesus, 2. Aufl., Göttingen 1997, S. 29: „Was im jüdischen Kontext plausibel ist und die Entstehung des Urchristentums verständlich macht, dürfte historisch sein.“

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension