H.-W. Rautenberg (Hrsg.): Kulturaustausch im östlichen Mitteleuropa

Cover
Titel
Wanderungen und Kulturaustausch im östlichen Mitteleuropa. Forschungen zum ausgehenden Mittelalter und zur jüngeren Neuzeit


Herausgeber
Rautenberg, Hans-Werner
Reihe
Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa 1
Erschienen
München 2007: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerson H. Jeute, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der vorliegende Band beinhaltet zwei Tagungen zum Titelthema aus den Jahren 1997 und 1998. Man verfolgte zwar einen interdisziplinären Ansatz, doch fällt sofort auf, dass die Archäologie nicht berücksichtigt wurde. Bei der Betrachtung eines so umfangreichen Themas in einem solch großen Raum ist es allerdings unumgänglich, Schwerpunkte zu setzen. Dies gilt ebenso für den Untersuchungszeitraum, der sich nicht nur von der mittelalterlichen Transformation bis in die Frühe Neuzeit erstreckt, sondern gar bis in das 20. Jahrhundert. Dies bringt folglich Schwierigkeiten, aber vor allem auch neue Perspektiven mit sich. Ausdrücklich nicht berücksichtigt wurden übergreifende Aspekte wie Reformation, Flucht und Vertreibung. Gegenstand der Untersuchungen sind jedoch Einzel- und Massenwanderungen von Personen und Gruppen wie auch Ideenwanderung, das heißt Kulturtransfer innerhalb verschiedener Fachrichtungen (Kunst, Architektur, Literatur, Musik).

Für Dietmar Willoweit (Zum Geleit) ist Ostmitteleuropa ein Raum, der sowohl durch jahrhundertelange deutsche Geschichte als auch durch besondere Beziehungen zu den Nachbarn in Vergangenheit und Gegenwart geprägt ist. Übergreifendes Ziel ist ein sozialgeschichtlich-anthropologisches Verständnis von Nachbarschaft und Nachbarschaftsspannungen. So waren Wissenschaftler aus Deutschland, Frankreich, Litauen, Polen, Österreich und Slowenien eingeladen, jenen Verhältnissen einschließlich der damit verbundenen Konfliktfelder und Integrationsmöglichkeiten nachzugehen, wie Hans-Werner Rautenberg in seiner „Einführung“ das Zustandekommen erläutert. Hartmut Boockmann weist in seiner Einleitung (Wanderungen und Kulturaustausch im östlichen Mitteleuropa im 15. und 16. Jahrhundert) darauf hin, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die wissenschaftliche Beschäftigung mit Ostmitteleuropa wesentlich leichter geworden ist. Neue Hindernisse sieht er jedoch beispielsweise durch Evaluationen. Somit steht sein Beitrag noch stark unter dem Einfluss der Wissenschaftspolitik Mitte der 1990er-Jahre. Boockmann skizziert die Begrifflichkeiten der Tagung, ihre Verwendung sowie bisherige Konnotationen.

Andrzej Janeczek sucht in seinem umfangreichen Beitrag nach den „Kolonisationsströmungen im polnisch-preußischen Grenzgebiet von der Mitte des 14. bis zum 16. Jahrhundert“. Die meisten Einwanderer im Grenzbereich zwischen West- und Ostslawen kamen aus Kleinpolen, Schlesien und Masowien und erreichten die neue Heimat nach verschiedenen Zwischenstationen. Anhand von Personennamen kann Janeczek Untersuchungen zur sozialen, ethnischen und regionalen Herkunft anstellen. Mit dem leicht sperrigen Titel „Das Franziskushospital in Prag und das Matthiasstift in Breslau. Über den schwierigen Beginn einer Beziehungsbalance beim Aufbau eines ostmitteleuropäischen Hospitalsordens, der Kreuzbrüder mit dem roten Stern“ untersucht Christian-Frederik Felskau die Frage, ob es zwischen beiden Gründungen dauerhafte Kooperationen gab, oder ob unterschiedliche Interessen dominierten. Es zeigt sich, dass der Prager Erstniederlassung mit der Breslauer Stiftung eine ebenbürtige Einrichtung an die Seite gestellt wurde, die auf den Aufbau eines eigenständigen Filialverbandes abzielte.

Wolfgang von Stromer von Reichenbach (Handel und Kulturaustausch zwischen Oberdeutschland und dem östlichen Mitteleuropa im 15. Jahrhundert) schildert anschaulich die Beziehungen der Region Nürnberg nach Ostmitteleuropa, wo es Niederlassungen und Stiftungen in Kiew und in anderen Orten gab. In seinem Beitrag „Wanderungen und Kulturaustausch im 15. und 16. Jahrhundert: Studenten und Gelehrte im östlichen Mitteleuropa“ zeigt Zenon Hubert Nowak den Wandel des Begriffs „Gelehrter“ von einer allgemeinen Bezeichnung hin zu einem speziellen Titel. Sowohl Push-, als auch Pullfaktoren sieht Cornelia Östreich (Ostjüdische Migration) bei der Posener jüdischen Amerikawanderung des 19. Jahrhunderts. Diese Studie ist besonders spannend, da der Zeitraum vor der eigentlichen ostjüdischen Amerikawanderung betrachtet wird. In der neuen Heimat besetzten die verschiedenen jüdischen Gruppen unterschiedliche Funktionen und Räume. Anna Veronika Wendland (Urbane Identität und nationale Integration in zwei Grenzland-Metropolen: Lemberg und Wilna, 1900-1930er Jahre) stellt die Frage, inwieweit sich eine urbane Identität der Städte gegen nationale Konflikte behaupten konnte. Konkret meint dies, wie weit die Stadt auch im Vergleich zum ländlichen Lebensraum historische Akteure beeinflusst hat. Im Ergebnis sieht sie mehr kulturelle Konflikte und Monokulturalität als ein interkulturelles Selbstverständnis. Die räumlichen, sozialen und nationalen Grenzlinien verfestigten sich durch Stereotype.

Besonders umfangreich ist der Beitrag von Georg W. Strobel (Das multinationale Lodz, die Textilmetropole Polens, als Produkt von Migration und Kapitalwanderung), der in chronologische Abschnitte unterteilt wird: die Entwicklung bis 1914, die Zeit der deutschen Besatzung im Ersten Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit sowie Lodz unter deutscher Herrschaft als Litzmannstadt. Strobels Schilderungen sind sehr detailliert und bildlich, teilweise geht er derart in seiner Beschreibung auf, dass man glaubt, er hätte das Titelthema aus den Augen verloren, doch sind vor allem diese Stellen besonders spannend zu lesen. Hans-Jakob Tebarth stellt in seinem Beitrag „Technologietransfer in die preußischen Ostprovinzen im 19. Jahrhundert“ heraus, dass die Technik in den Ostprovinzen spät und zu unterschiedlichen Zeiten ankam. Wie im übrigen Deutschland profitierte man dort von den wesentlichen Leitlinien der technischen Revolution.

Das Magdeburger Recht steht seit Langem synonym für deutsches Recht. Jolanta Karpavičienë (Zur Frage des Magdeburger Rechts in Litauen) präsentiert jedoch einen weiter gefassten Begriff. So wurden nicht alle traditionellen Gebräuche verdrängt, sondern es erfolgten Synthesen beispielsweise mit dem Landrecht. Erst im 17./18. Jahrhundert wurde es zum Synonym für städtische Unabhängigkeitsbestrebungen. Aus einleitenden Bemerkungen heraus entwickelt Dietmar Willoweit (Das europäische ius commune als Element kultureller Einheit in Ostmitteleuropa) seine Fragestellung. Unter der Prämisse, dass überwiegend kulturelle Einheit statt der für den Kulturaustausch notwendigen Verschiedenheit vorherrschte, stellt er dar, wie einheimisches ostmitteleuropäisches Gewohnheitsrecht in Gesetzesbüchern neu geordnet wurde und sich somit tradierte soziale und politische Strukturen als Rechtsverhältnisse definierten.

Um 1600 herrschte mit dem Niederlandismus (Arnold Bartetzky, Zur Rezeption nordisch-manieristischer Architektur im Nord- und Ostseeraum am Beispiel Danzigs) ein außerordentlicher niederländischer Einfluss in der Architekturlandschaft Nordmitteleuropas. Während in polnischen Städten italienischer Einfluss dominierte, wurde die Ostseemetropole Danzig ab 1560 zur „niederländischsten Stadt Europas“. Der Reisebericht von Klaus Garber (Alte deutsche Bücher in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas) zeigt in erschreckender Weise, wie viele Bücher seit dem Zweitem Weltkrieg vernichtet oder verschollen sind. Garber besuchte Bibliotheken in Polen, Estland, Lettland, der ehemaligen Sowjetunion und studierte sie akribisch. André de Vincenz schreibt über die „Wanderungen von Wörtern. Zu den deutsch-polnischen Sprachkontakten im 19. und 20. Jahrhundert“, die im Zusammenhang mit technischen Innovationen zu zahlreichen deutschen Wörtern in der polnischen Sprache führten, deren starke Anlehnung erst nach 1945 einsetzte.

Den Kontinent umfassen Karl Sauerlands „Deutsch-polnische Symbiosen. Eine Forschungsproblematik“. Anhand ausgewählter Biografien (Samuel Gottlieb Linde, Julian Klaczko, Tadeusz Zieliński) werden die französisch/deutsch/polnisch/jüdischen Beziehungen während der Zeit nationaler Staatenbildung untersucht. Da sich keine Person eindeutig auf eine Nation festlegen lässt, wird der Beitrag zum eindringlichen Plädoyer, sich von borniertem nationalen Denken zu befreien. Die entsprechende Wiener Sicht bietet Hartmut Krones Beitrag „Wanderung und Kulturaustausch im Habsburgerreich und im südostdeutschen Raum“. Fundiert sind seine Statistiken, eindrucksvoll auch die Auflistung der in den habsburgischen Metropolen tätigen bedeutenden Personen. Doch gerade dies kann ebenso imposant auch für andere europäische Städte vorgelegt werden. Im letzten Beitrag stellt Primož Kuret (Kulturaustausch zwischen den südslawischen Ländern und Tschechien) anhand der Musik die starke, bis heute anhaltende Verbindung zwischen den Südslawen und ihren ostmitteleuropäischen Nachbarn dar.

Das Buch vereint zahlreiche Einzelaspekte aus einer großen Zeitspanne. Sich auf eine Epoche zu konzentrieren, hätte wohl zu einer wünschenswerten Verdichtung geführt. Andererseits ist so eine spannende Sammlung über Zeiten, Räume und Themen entstanden, die den würdigen Auftakt einer neuen Reihe bildet.

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