G. Schlusche u.a. (Hrsg.): Architektur der Erinnerung

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Titel
Architektur der Erinnerung. NS-Verbrechen in der europäischen Gedenkkultur


Herausgeber
Schlusche, Günter; Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste Berlin
Erschienen
Anzahl Seiten
177 S., 165 Abb.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maike Mügge, Graduiertenkolleg "Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart", Justus-Liebig-Universität Gießen

Seit Mitte der 1980er-Jahre ist in der deutschsprachigen Forschung und Öffentlichkeit eine vermehrte Hinwendung zu Denkmälern festzustellen – besonders zu solchen Denkmälern, die das Morden und die Verfolgung während der NS-Zeit thematisieren. Gedenktafeln, Gedenkstätten und Denkmäler sind Objekte, an denen sich Forschungen der Politik-, Geschichts- und Kulturwissenschaft, der Architekturtheorie und der Kunstgeschichte treffen und an denen sich öffentliche Auseinandersetzungen entzünden. Debatten um Denkmäler zur Erinnerung an die NS-Zeit sind zudem häufig mit der Frage verknüpft, wie mit den Orten der historischen Ereignisse heute umzugehen ist.

Der hier zu besprechende Band ist aus einer Veranstaltungsreihe hervorgegangen, die die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas gemeinsam mit der Berliner Akademie der Künste von November 2004 bis April 2005 an insgesamt neun Abenden durchführte.1 Der reich bebilderte Sammelband ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil umfasst 15 knappe Aufsätze und Essays zu Denkmälern, Gedenkstätten und zu übergreifenden Themen der NS-Erinnerung. Die Aufnahme eines Beitrags von James E. Young über die geplante Gedenkstätte am früheren Ort des World Trade Center erweitert den Fokus des Bandes um einen vergleichenden, über die NS-Erinnerung hinausreichenden Ansatz. Den zweiten Teil der Publikation bildet ein von Günter Schlusche zusammengestellter Architekturführer, der in einer strukturiert gegliederten Übersicht insgesamt 50 Gedenkstätten und Denkmäler aus 21 europäischen Länder vorstellt.2

Die im ersten Teil des Bandes versammelten Artikel behandeln das Holocaust-Museum und -Dokumentationszentrum Budapest (István Mányi), die Gedenkstätte Černovice (Michael Deiml), Skulpturen und Gedenkorte von Dani Karavan (die der Künstler selbst erläutert), das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg (beschrieben vom Architekten Günther Domenig), nationalsozialistische Architektur und Skulptur in Berlin (Wolfgang Schäche) und in jeweils zwei Aufsätzen das Berliner Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung (Micha Ullman und György Konrád), die Gedenkstätte Bełżec (Andrzej Sołyga und Andrew Baker) sowie Malerei von Ulrich Erben (Ulrich Erben und Robert Kudielka).

Drei weitere Beiträge und ein Nachwort sind übergreifenden Aspekten gewidmet. Als Kommentar zu James E. Young stellt Stefanie Endlich die Unterschiede zwischen Denkmälern und Gedenkstätten in Deutschland und Europa, in deren Zentrum die Vertreibung der Juden und der Völkermord stehen (S. 27), und der US-amerikanischen Erinnerungskultur heraus. Der tschechische Architekt Vladimír Šlapeta verfolgt in seinem Beitrag „Fragmente“ persönlicher Erinnerung an tschechische Künstler und Architekten, die den Völkermord überlebt haben. Gabi Dolff-Bonekämper führt in die grundlegenden Differenzen zwischen „Orten des Geschehens“, „Orten der Kunst“ und „Orten der Erinnerung“ ein, die sie als Kategorien zur Beschreibung der Formen und Funktionen von Denkmälern ausmacht. Günter Schlusche benennt in seinem Nachwort länderübergreifende Gemeinsamkeiten und Differenzen aktueller Erinnerungskultur. Die Hintergründe der Autoren und ihre Zugänge zu den Themen decken ein weites Spektrum ab. Wissenschaftlich, künstlerisch, religiös und politisch ausgewiesene Experten und Gestalter von Erinnerungskultur kommen zu Wort.

Der Gedenkstättenführer, der zweite Teil des Bandes, präsentiert in einer alphabetischen, nach Ländern sortierten Ordnung Erinnerungsorte, die jeweils durch fotografische Abbildungen und einen kurzen Text vorgestellt werden. Die Textpassage ist für alle Beiträge in einheitliche Unterpunkte gegliedert. Praktische Angaben sind übersichtlich durch grafische Elemente vom Fließtext abgetrennt und informieren unter anderem über Öffnungszeiten, Anschriften und Kontaktmöglichkeiten. Leider geben die Texte wegen des eng begrenzten Raumes nur vereinzelt Einblick in Entstehungszusammenhänge der Orte und Konstellationen der beteiligten Akteure. Dieser kompakte Teil macht den Band dennoch zu einer nützlichen Überblicksdarstellung. Allerdings bleiben in dieser räumlich breit angelegten Zusammenschau die länderspezifischen Unterschiede der kulturellen und politischen Funktion des Gedenkens ausgeblendet.3

Die Artikel des ersten Teils sind in ihrer Qualität, Dichte und Themenstellung so unterschiedlich, dass sie keinen Gesamtüberblick für den im Titel der Publikation benannten Themenkomplex zu bieten vermögen. Die übergreifenden Beiträge geben jedoch einen auch für den Laien gut verständlichen Einblick in die jeweils angesprochenen Teilaspekte von Erinnerungskultur. Auch der von Andrew Baker verfasste Text über den Umbau der Gedenkstätte Bełżec liefert interessante Einsichten in die Entstehung und Realisierung eines Gedenkstättenprojekts. Die in den Beiträgen von Wolfgang Schäche, Micha Ullman und György Konrád am Beispiel Berlins angesprochenen Probleme der Nutzung städtischer Flächen und Bauten – zwischen wirtschaftlichen, historischen und erinnerungspolitischen Interessen – bieten ebenfalls gewinnbringende Lektüre.

Insgesamt fehlt dem Band jedoch ein schlüssiges Konzept zu der Frage, was die im Untertitel genannte „europäische Gedenkkultur“ ist oder sein könnte: Soll damit die additive, implizit vergleichende Zusammenschau unterschiedlicher nationaler Gedenkkulturen gemeint sein, oder gibt es Anzeichen dafür, dass sich tatsächlich eine gesamteuropäische Gedenkkultur herausbildet (was sich etwa mit dem europäischen und letztlich globalen Kunst- und Architekturdiskurs begründen ließe)? Schlusches Nachwort fällt zu knapp aus, als dass es diese Frage hinreichend beantworten könnte. Die Publikation richtet sich ohnehin nicht in erster Linie an wissenschaftlich interessierte Leser (so bleiben die weiterführenden Literaturhinweise vereinzelt und unsystematisch), sondern möchte ein breiteres Publikum mit den hierzulande weniger bekannten Tendenzen der Gedenkkultur besonders in Ostmitteleuropa bekanntmachen. Dadurch erscheint auch die deutsche Situation in einem größeren Zusammenhang und einem neuen Licht. Die überwiegend gute Qualität und große Zahl von Abbildungen unterstützt dies.

Anmerkungen:
1 Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas hat den gesetzlichen Auftrag, „die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen“ und über die „authentischen Stätten des Gedenkens“ zu informieren.
2 Eine Datenbank der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas diente als Informationsgrundlage für diesen Gedenkstättenführer. Auch das für die Stiftung und deren öffentliche Aktivitäten typische Design wurde auf das Layout des gesamten Bandes übertragen.
3 Dass diese Differenzen bestehen und für Museen, Denkmäler und Gedenkstätten konstitutiv sind, zeigen diverse Forschungen der letzten Jahre. Siehe etwa: Young, James E., Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, Wien 1997; Engelhardt, Isabelle, A Topography of Memory. Representations of the Holocaust at Dachau and Buchenwald in Comparison with Auschwitz, Yad Vashem and Washington, DC, Bruxelles 2002; Pieper, Katrin, Die Musealisierung des Holocaust. Das Jüdische Museum Berlin und das U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Ein Vergleich, Köln 2006; Gilzmer, Mechtild, Denkmäler als Medien der Erinnerungskultur in Frankreich seit 1944, München 2007.

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