A. Cooper: Inventing the Indigenous

Cover
Titel
Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe


Autor(en)
Cooper, Alix
Erschienen
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 54,77
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Friedrich, Historisches Seminar, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

In den letzten Jahren wurde die Wissensgeschichte in einen globalen Bezugsrahmen gestellt. Der Zusammenhang von Wissen und Globalisierung wird in beiden Richtungen thematisiert, sowohl hinsichtlich des Einflusses europäischen Wissens auf Prozesse der Expansion wie andersherum mit Bezug auf die Rückwirkungen globaler Vernetzungen auf den europäischen Wissenshaushalt. Die Geschichte der frühneuzeitlichen Wissenschaften im Besonderen – seien es Biologie oder Astronomie, Ethnographie oder Menschheitsgeschichte – ist heute ohne diese globale Dimension kaum mehr vorstellbar. Das Wissen der Europäer, so ließe sich dies zusammenfassen, veränderte sich wesentlich durch das Interesse am – oder die Gier nach dem – Besitz und Verstehen des ‚Fremden‘. Konsumgeschichtlich, wissenschaftsgeschichtlich oder kulturgeschichtlich ausgerichtete Arbeiten variieren dieses Thema jeweils entsprechend.

Nun also der Gegenschlag – oder zumindest die Ergänzung zu dieser so stark auf die globale Dimension abhebenden Forschung. Alix Cooper kennt die skizzierte Forschungstradition genau und benutzt sie doch in erster Linie als ein Gegenüber, vor der die eigene These erst richtig anschaulich wird: Die Frühe Neuzeit kenne nicht nur die angedeutete gierige Öffnung hin zu Neuem und Exotischem, sondern, nur wenig zeitversetzt, auch eine neuartige und intensive Hinwendung zum ‚Nahen‘. Drei Wissensbereiche werden in diesem Buch besonders herangezogen, um dies zu demonstrieren. Die entstehenden Traditionen einer ‚lokalen Botanik‘, einer ‚lokalen Mineralogie‘ und einer ‚lokalen‘ bzw. ‚regionalen‘ Naturgeschichte mit breiterem Themenschwerpunkt (Kapitel 2-4). Dass diese (und verschiedene andere, en passant erwähnte) Sachgebiete eine systematische Schwerpunktverlagerung hin zum Lokalen als zentralem Gegenstand wissenschaftlicher Unternehmungen erfahren haben, glaubt man Cooper am Ende des gut lesbaren Buches ohne Widerrede. Die angeführten Autoren und Texte sind zwar wenig bekannt, ihre schiere Zahl aber erhärtet die These. Prägnante Zitate belegen das Bemühen dieser Autoren, eine neue, andersartige Tradition zu begründen. Cooper ist in den modernen Techniken der Wissensgeschichte geschult, rekonstruiert werden nicht nur die verhandelten Wissensbestände, sondern auch die verschiedenen zugehörigen Literaturgattungen, ihre Entstehungsprozesse, sozialen Einbettungen und politischen Kontexte. Gerade durch letztere, so eine wesentliche These, unterschieden sich die ‚regionalen Naturgeschichten‘ des englischen, des schweizerischen und deutschen des Zuschnitts untereinander (vor allem Kapitel 4).

Diese grundlegende Einsicht wird in den Kapiteln des Buches freilich eher durchdekliniert als systematisch analysiert. Sicher, der Abschnitt über die Universität Altdorf (hier fehlt allerdings das wichtige universitätsgeschichtliche Werk von Wolfgang Mährle) illustriert anschaulich, wie die Professoren mit und ohne Studenten durch die Landschaft streiften und nach ‚lokalen‘ Pflanzen Ausschau hielten. Hier finden sich auch aufschlussreiche Bemerkungen zum Zusammenhang lokaler universitärer Wissensproduktion und städtischer Identität. Sicher, die Relektüre der Würzburger Fossilienfälschungen rückt diese in einen ganz neuen Kontext. Doch all dies ist letztlich nur das Ausschreiben der grundlegenden und sehr verdienstvollen Beobachtung, dass es eben diese lokalisierende Tradition in der frühneuzeitlichen Wissensgeschichte gegeben und dass sich diese Tradition eines ‚lokalen‘, ‚indigenen‘ Bezugsrahmens von Wissensakquise zuerst in Europa selbst entwickelt habe, ganz entgegen den heutigen Assoziationen zum Begriff des „Indigenen“.

Eine analytische Durchdringung dieser neuartigen Faszination am ‚Hier‘ statt am ‚Dort‘ fehlt jedoch. Entsprechend dürftig – man kann es leider kaum anders sagen – ist im ersten Kapitel der Umgang mit den zeitgenössischen Begriffsdichotomien, die zuallererst ermöglichen, die vor der Haustür liegenden Pflanzen, Steine etc. als eigenständiges Betätigungsfeld, eben als das ‚Lokale‘ abzugrenzen. Eine genaue Semantik der verschiedenen Begrifflichkeiten und Gegensatzpaare sucht man vergebens – welchen originalsprachigen Begriff übersetzt etwa Coopers Titelbegriff ‚indigenous‘ und wodurch unterschied sich dessen Gebrauch von anderen Terminologien? Wenig hilfreich ist es in diesem Zusammenhang, dass Zitate nur in modernem Englisch erscheinen (vor allem S. 32f.). Sollte dies den Vorgaben des Verlages geschuldet sein, wäre es umso bedauerlicher.

Das Material, das Cooper bringt, ist außerordentlich reichhaltig. Mit immer neuen Zitaten belegt Cooper, welche Dichotomien zwischen dem ‚Hier‘ und dem ‚Dort‘ aufgemacht wurden, dass man sich im Namen des ‚Nahen‘ sozial ebenso wie medizinisch und auf viele andere Weisen positionieren konnte. „[The] polarities served as a tool for unraveling identity“ (S. 28): Das wird man ohne Weiteres glauben – doch man wüsste gerne genauer, weshalb dies ein zentrales Anliegen wurde und vor allem würde man gerne erfahren, wieso dazu in der Frühen Neuzeit gerade die Kategorie des ‚Lokalen‘ plötzlich hilfreich geworden war. Zur analytischen Schwäche passt, dass – dies wäre wohl der erste Kandidat für eine erklärende Herangehensweise – die so intensiv beschriebene Faszination für das Lokale nur in sehr oberflächlicher Weise zu den Globalisierungsphänomenen der Frühen Neuzeit in Relation gesetzt wird. Wie und weshalb das ‚Ferne‘ das ‚Nahe‘ hervortreibt oder akzentuiert (bzw. umgekehrt), dass und wie beide Kategorien doch letztlich immer aufeinander verwiesen sind, wird hier kaum thematisiert (allenfalls S. 40). Das führt letztlich auch dazu, dass eine umfassendere Bewertung dieser ‚Erfindung des Lokalen‘ kaum stattfindet – handelte es sich um einen echten Gegenschlag oder eher eine Ergänzung? Wie fand ein methodischer Austausch zwischen beiden Bereichen der Wissensgeschichte statt? Cooper konstatiert immer wieder en passant, dass kaum ein Autor dezidiert ‚lokaler‘ Werke ganz ohne den Blick über den eigenen Tellerrand auskam – was aber bedeutete dies für das Konzept des ‚Lokalen‘?

Der Hinweis darauf, was in einem Buch noch hätte enthalten sein können, ist normalerweise das schwächste Argument des Rezensenten. Und gerade in seiner prägnanten Kürze dokumentiert das Buch kraftvoll, was es sich zu zeigen vorgenommen hat: es gab in der Frühen Neuzeit eine intensive Faszination für das Lokale. Dennoch sollen hier zwei Lücken benannt werden, deren Schließung der analytischen Schwäche des Buches konzeptionell hätte abhelfen können. Beide Aspekte werden von Cooper nur nebenbei erwähnt: Wieso fehlt eine Auseinandersetzung mit der patria, wieso ist der Antiquarianismus – gerade für die deutschen Territorien – ausgeblendet? Wenngleich beides – im Unterschied zur lokalen Botanik und Mineralogie – vergleichsweise bekanntere Untersuchungsgegenstände gewesen wären, so hätte gerade der Antiquarianismus eine wichtige Ergänzung etwa zur Naturgeschichte Niedersachsens bieten können. Ohne die Rolle der Botanik oder Mineralogie für die Identitätsbildung ‚vor Ort‘ schmälern zu wollen, wäre ihr spezifischer Beitrag – in Abgrenzung zum Faible für exotische Pflanzen – wohl gerade im Abgleich mit antiquarischer Selbsterfindung deutlicher sichtbar geworden. Zumindest hätten Antiquarianismus und Lokalgeschichtsschreibung eine bereits stärker ausgearbeitete Heuristik zur Verfügung gestellt, um das Ansteigen des Interesses für das Lokale zu analysieren und historisch besser zu verorten.

Alles in allem bleibt am Ende der Eindruck, dass dieses Buch eine außerordentlich wichtige und korrigierende Einsicht vehement vorträgt, ohne freilich dieser Erkenntnis analytisch und konzeptionell schon angemessen auf den Grund zu gehen: Die Frühe Neuzeit war nicht nur mit dem Exotischen und Fremden konfrontiert, sondern auch in neuartiger Weise mit dem Lokalen; das Wissen wurde nicht nur revolutioniert durch das, was man vor ‚1492‘ noch nicht kennen konnte, sondern auch durch das, was man ‚übersehen‘ hatte. Nicht nur die Gier nach Fremden, sondern auch die Faszination mit dem Bekannten begann den vormodernen Wissenshaushalt zu prägen. Warum dies geschah, wie dieses ‚nahe Fremde‘ konzeptionalisiert wurde und vor allem welche Konsequenz dies hatte – dies sind Fragen, die sich am Ende dieser Studie stellen, aber noch der Antwort harren.

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