A. Dietrich: Konstruktion von "Rasse" und Geschlecht

Titel
Weiße Weiblichkeiten. Konstruktion von "Rasse" und Geschlecht im deutschen Kolonialismus


Autor(en)
Dietrich, Anette
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Dorestal, Nordamerikanische Geschichte, Universität Erfurt

Erst seit einigen Jahren werden sowohl postkoloniale Kritik als auch kritische Weißseinsforschung im deutschsprachigen Raum breiter rezipiert. Umso erfreulicher ist es, dass Anette Dietrich beide Theorieströmungen in ihrem Buch über „Weiße Weiblichkeiten“ innovativ auf das historische Quellenmaterial anwendet. Damit erweitert sie die Forschungen zu Geschlechterkonstruktionen im deutschen Kolonialismus, die in den letzten Jahren maßgeblich durch die Arbeit von Katharina Walgenbach 1 geprägt wurde, um eine lesenswerte Studie. Dietrichs Buch ist in insgesamt sechs Kapitel unterteilt: Sie zeichnet zunächst die Grundzüge der postkolonialen Theorie / Critical Whiteness Studies und daran anschließend neue Theorien über die Nation nach, bevor sie nacheinander deutschen Kolonialismus, das Verhältnis von Rassismus und Kolonialismus, Frauen und Kolonialismus sowie die Debatten der bürgerlichen Frauenbewegung behandelt.

Bei ihrer Überblicksdarstellung der postkolonialen Studien und kritischer Weißseinsforschung unterstreicht die Autorin die wichtigen Impulse, die von beiden Theorierichtungen angeregt wurden. Es geht diesen nämlich nicht mehr nur darum, rassistische Sichtweisen der Konstruktion des „Anderen“, des „Fremden“ zu analysieren, sondern kritisch das weiße privilegierte Subjekt das ebenso rassifiziert ist wie die rassifizierten Objekte, als unmarkierte Norm in den Blick zu bekommen. Obwohl sie auch auf Schwachstellen der postkolonialen Theorie verweist, kommt Dietrich doch zu dem Schluss, dass eine postkoloniale Perspektive für den deutschen Kontext unerlässlich sei, „[…] um rassistische Strukturen und rassifizierende Praxen in Deutschland historisieren und kritisieren zu können“(S. 39).

Edward Said hat in dem Klassiker „Orientalism“2 den deutschen Kolonialismus im Vergleich zu den Kolonialmächten England und Frankreich als kurzlebig und marginal dargestellt. Dietrich zeigt nun unter Rückgriff auf die neuesten Forschungsergebnisse, dass sich die Wirkmächtigkeit von Deutschland als Kolonialmacht nicht nur auf den tatsächlichen Besitz der Kolonien seit der Berliner Afrikakonferenz 1885 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges erstreckt. Postkoloniale und kulturwissenschaftliche Ansätze beziehen darüber hinaus auch diskursive, wirtschaftliche und kulturelle Praxen mit ein. Demnach war Deutschland sowohl vorher, beispielsweise durch Handelsvertreter, als auch später durch kolonialrevisionistische Vereine, die die Wiedererlangung der deutschen Kolonien forderten, in ein koloniales Projekt verstrickt, das sich seit Anbeginn der europäischen Expansion nachweisen lässt.

Im zweiten Kapitel erläutert die Autorin, wie in den zeitgenössischen nationalistischen Ideologien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mithilfe des Entwurfs eines Bevölkerungskörpers eine Äquivalenzbeziehung zwischen Nation und dem Körper des weißen Individuums hergestellt wurde. Dessen Hygiene sollte die „Reinhaltung“ der Nation und „Rasse“ gewährleisten. Dietrich stellt darüber hinaus verschiedene Strömungen der Frauenbewegung ab den 1860er-Jahren dar und konstatiert einen Umschwung von einem anfänglich dominierenden egalitären Geschlechterkonzept hin zu einem Feminismus, in dem die Doktrin der „geistigen Mütterlichkeit“ hegemonial wurde. Die bisher in der Privatsphäre angesiedelten weiblich konnotierten sozialen Kompetenzen und Werte sollten nun auf die Nation übertragen werden. Geschlechterungleichheit konnte so von imperialen Frauenverbänden wie dem Deutsch-Kolonialen Frauenbund oder dem Flottenbund deutscher Frauen positiv gedeutet werden: „Die national ausgerichtete Frauenbewegung überbrückte soziale Kluften und stabilisierte den Nationalstaat. Durch den Bezug auf vornehmlich weibliche Kompetenzen und Bereiche entschärften sich zugleich die Gegensätze zwischen feministischen Partizipationsforderungen und bürgerlich-patriarchaler Geschlechterordnung, da die Geschlechterverhältnisse mit klar verteilten gesellschaftlichen Aufgabenbereichen der nationalen Gesellschaft untergeordnet wurden.“ (S. 85)

Unter Rückgriff auf den neuesten Forschungsstand zeigt Dietrich in ihrem Kapitel über Frauen und Kolonialismus weiterhin, dass Frauen sich aktiv an der Werbung für Kolonialismus und Kolonialgesellschaft beteiligten. Bestanden anfangs in den Kolonialverbänden noch Vorbehalte gegen eine Einbeziehung von Frauen in die Kolonialpolitik, so konnten besonders durch den Kolonialenthusiasmus nationalistischer Frauen Bedenken gegen deren Beteiligung ausgeräumt werden – zumal die von den Frauenverbänden geforderte stärkere weibliche Partizipation die direkte Konkurrenz zu den Männern vermied und deren Privilegien somit nicht angetastet wurden. „Insofern wurde die Forderung nach Partizipation nicht politisch oder frauenrechtlich, sondern als Beitrag der Frau zum Wohl der Nation begründet.“ (S. 245)

Bereits in den 1890er-Jahren und um die Jahrhundertwende entspann sich in verschiedenen Frauenorganisationen eine rege Debatte um die Frage, wie der so genannten „Verkafferung“ männlicher weißer Siedler, hervorgerufen durch intime Kontakte zu afrikanischen Frauen, entgegengewirkt werden könne. Die gezielte Einwanderung weißer Frauen wurde vom Kolonialen Frauenbund propagiert, um den Anfang des 20. Jahrhunderts besonders virulenten Vorstellungen von „Rassenhygiene“ zu entsprechen: Die weiße Frau wurde als Hüterin der deutschen Kultur konstruiert, die zudem die Reproduktion der „reinen weißen Nation“ sichern sollte. Der Mangel an weißen Frauen in den Kolonien wurde als Kern des Problems der „Rassenmischung“ angesehen, weshalb Organisationen wie der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft für die Entsendung von weißen Frauen in die Kolonien warben. Diese Werbung für die gezielte Einwanderung wurde nach den Kolonialkriegen in „Deutsch-Südwest“- und „Deutsch-Ostafrika“ noch intensiviert, weil nun die Meinung überwog, es bedürfe der Einwanderung weißer deutscher Frauen, um die Herrschaft in den Kolonien zu sichern und das Problem der „Rassenmischung“ zu lösen. Somit wurden die Weiblichkeitsentwürfe rassifiziert. Weiße Frauen wurden zur notwendigen Partnerin des Kolonialherrn stilisiert, um die „weiß“ codierte Familie und Nation zu erhalten.

Dietrich arbeitet überzeugend heraus, dass es inhaltliche Anknüpfungspunkte der Kolonialbewegung an die bürgerliche Frauenbewegung gab, weshalb sie von einer wechselseitigen Annäherung des kolonialen Frauenbundes und der bürgerlichen Frauenbewegung ausgeht (S. 270). Dies bedeute jedoch nicht, dass diese Annäherung dezidiert emanzipatorische Positionen in rechten Frauenvereinen hervorgerufen hätte. Beispielsweise grenzte sich der Koloniale Frauenbund unter der Leitung ihrer ersten Vorsitzenden Ada von Liliencron in den Jahren 1907 bis 1909 explizit gegen die Frauenbewegung im Deutschen Reich ab, berief sich auf die Werte der Mütterlichkeit und sah sich als Akteur in einem „Rassenkrieg“. Auch die Protagonistinnen der radikalen Frauenbewegung sahen die Lösung des „Problems“ der „Rassenmischung“ in der Stärkung der Position der weißen Frau, wie Dietrich anhand der Analyse der zeitgenössischen Zeitschrift des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform zeigen kann. Der weiße Frauenkörper sollte diskursiv als Symbol für Reinheit und Vorherrschaft hergestellt und somit das „Rassenproblem“ beseitigt werden.

Ausführlich geht die Autorin nicht nur auf die in der Frauenbewegung geführten Debatten um Eugenik und „Mischehen“ zwischen weißen Siedlern und afrikanischen Frauen in den Kolonien ein, sondern auch auf die Propaganda gegen die vermeintliche „Degeneration“ und „Schändung“ des deutschen „Volkskörpers“ durch Afrikaner in Deutschland. Die Stationierung von afrikanischen Truppen durch die Siegermacht Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg führte zur Kampagne der „Schwarzen Schmach“. Demgemäß sei aufgrund der Präsenz von Schwarzen die „Reinheit“ der deutschen Nation gefährdet, weil diese weiße Frauen vergewaltigen würden und eine „Rassenmischung“ die Folge sei. Dietrich kann zeigen, dass sich die Diskurse um „Rasse“, Geschlecht und Nation in dieser rassistischen Propaganda verschränkten. Sie kommt so zu ähnlichen Ergebnissen wie Iris Wigger in ihrer Monographie über die „Schwarze Schmach“. 3 Die zentrale Schlussfolgerung von Dietrich ist demnach, „[…] dass die Konstruktion des rassifizierten Anderen immer auch eine rassifizierte, weiße Selbstkonstruktion beinhaltet“(S. 376).

Zu monieren bleibt einzig, dass Dietrich unkritisch den Begriff von der „Krise der Männlichkeit“ gebraucht, als sie koloniale Vorstellungen von den Kolonien als „frauenfreie Räume“ referiert und dann auf einen Aufsatz verweist, der sich auch mit der „Krise der modernen Männlichkeit, die durch die gesellschaftlichen Veränderungen ausgelöst wurde“ (S. 246) auseinandersetzt. Die Rede von der „Krise der Männlichkeit“ ist deshalb problematisch, weil sie suggeriert, es gäbe eine einzige, „wesentliche“ Männlichkeit als Norm, von der abgewichen würde. Dieser Krisentopos steht deshalb immer in der Gefahr, wie die kritische Männlichkeitsforschung betont 4, Männlichkeit zu essentialisieren und nicht als sozial konstruiert, historisch variabel und von Kategorien wie „Rasse“, Klasse oder Region überdeterminiert zu verstehen. Wenn es aber die Männlichkeit nicht gibt, macht auch die Rede von der „Krise der Männlichkeit“ keinen Sinn. Die Verwendung des Krisenbegriffs irritiert umso mehr, als die Autorin in ihrem Buch an vielen Stellen den Konstruktcharakter von Geschlechteridentitäten betont. Eine Problematisierung dieses Terminus hätte somit erwartet werden können.

Insgesamt stellt „Weiße Weiblichkeiten“ aber eine sehr kenntnisreiche und den Forschungsstand zum deutschen Kolonialismus erweiternde Studie dar, weil Dietrich den strukturellen und historischen Nexus von Geschlechterverhältnissen mit Rassifizierungsprozessen anhand der Beteiligung der bürgerlichen Frauenbewegung an Rassen- und Kolonialpolitik sehr detailliert herausarbeitet.

Anmerkungen:
1 Walgenbach, Katharina, „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“: koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt am Main 2005.
2 Said, Edward, Orientalism, London 2003 [1978].
3 Wigger, Iris, Die ‚Schwarze Schmach am Rhein’. Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und Rasse, Hamburg 2007.
4 Vgl. Martschukat, Jürgen; Stieglitz, Olaf, ‚Es ist ein Junge!’ Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit, Tübingen 2005, S. 82-85.