Cover
Titel
Karl Schiller (1911-1994). "Superminister" Willy Brandts


Autor(en)
Lütjen, Torben
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte 76
Erschienen
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Schanetzky, Historisches Institut, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Karl Schiller auf einem Schreibtisch sitzend, im gestreiften Anzug, die Arme kess in die Hüften gestützt, den Blick entschlossen am Fotografen vorbei in die Ferne gerichtet – Torben Lütjen hat ein emblematisches Titelbild für seine Biographie des ersten bundesrepublikanischen „Superministers“ gewählt. Es markiert nicht nur den Wendepunkt einer steilen Karriere, sondern deutet zugleich auf die Ursachen für den kurz darauf beginnenden Abstieg hin. Das Bild zeigt eine Eroberung: Eitel hatte Schiller sich auf dem Schreibtisch des soeben zurückgetretenen Bundesfinanzministers Alex Möller in Positur gesetzt. Er zelebrierte einen persönlichen Sieg über den Konkurrenten und seinen – für einen Außenseiter innerhalb der SPD – überraschenden politischen Erfolg. Als Finanz- und Wirtschaftsminister in Personalunion schien Schiller im Mai 1971 zum stärksten Mann der Regierung Willy Brandts aufgestiegen zu sein. Ein knappes Jahr später trat er von allen Ämtern zurück und verließ die SPD ebenso fluchtartig wie die politische Bühne.

Torben Lütjen hat seine Göttinger Dissertation ganz auf diesen Kulminationspunkt hin formuliert. Sie folgt den Karriereschritten ihres Protagonisten und zeichnet dabei das Bild eines ehrgeizigen sozialen Aufsteigers, der immer schon um seine Fähigkeiten wusste und darüber zu einem schwierigen Menschen wurde. Schiller, in Breslau geboren, stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und war mit einem unbändigen Erfolgsstreben ausgestattet. Ganz gleich, ob als Klassenprimus, Student der Wirtschaftswissenschaften, Doktorand oder auf dem Weg zum Ordinariat: Schiller erzielte Bestleistungen und zog ein Gutteil seines Selbstwertgefühls aus derartigen Erfolgen. Dazu passte ein blindes Vertrauen in die Rationalität wissenschaftlicher Erkenntnis. Für Lütjen verkörpert Schiller auf nahezu perfekte Weise den Typus des „Sozialingenieurs“, der sich von politischen Systemwechseln kaum irritieren ließ.

So wurde Schiller mit einer Studie über die Arbeitsbeschaffungspolitik zwischen Brüning und Hitler promoviert, arbeitete anschließend am Kieler Institut für Weltwirtschaft und war mit seiner dortigen Forschergruppe unmittelbar in die wirtschaftlichen Kriegsvorbereitungen involviert. Die Parteimitgliedschaft passte da ins Bild und diente wohl in erster Linie Karrierezwecken, denn Schiller wollte Professor werden. Nach aktivem Kriegsdienst blieb er dem Kieler Institut zunächst verbunden, wechselte dann aber auf eine Professur in Hamburg – und in die Politik, zunächst ebenfalls in der Hansestadt, wo er Wirtschaftssenator wurde. Dasselbe Amt bekleidete er später in Berlin, wo er mit Willy Brandt einen Förderer gefunden hatte. Gleichwohl kokettierte Schiller immer wieder mit seinem Abschied von der Politik, kehrte zwischenzeitlich frustriert in die Wissenschaft zurück, um dann 1965 in den Bundestag einzuziehen und kurz darauf Wirtschaftsminister unter Kurt Georg Kiesinger zu werden.

Dieser steile Aufstieg wird von Lütjen auf ein nahezu unverändertes Selbstverständnis Schillers zurückgeführt: Erneut ging es um wissenschaftliche Rationalität, die spätestens in den 1960er-Jahren zu einer zentralen politischen Legitimationsressource avancierte. In einer Hochphase der Planungs- und Wissenschaftseuphorie gab Schiller den Sozialingenieur, dessen politische Standpunkte wissenschaftlich fundiert, somit unhinterfragbar und „richtig“ waren. In diesem Erfolgsrezept war das Scheitern bereits angelegt: Selbstüberschätzung und mangelnde Kritikfähigkeit ließen aus Schiller eine unberechenbare politische „Diva“ werden, die sich weder Partei- noch Kabinettsdisziplin unterwarf. Mangels Hausmacht innerhalb der SPD blieb ihm häufig nur der Weg in die Öffentlichkeit – oder die Drohung mit dem Rücktritt. Beides mochte kurzfristig Erfolg haben, unterminierte aber auf lange Sicht seine Position. Am Ende waren Parteifreunde und Kabinettskollegen seiner einfach überdrüssig.

Schillers keynesianische Programmatik und sein technokratisches Selbstbild werden von Lütjen in ihrer ganzen gesellschaftspolitischen Tragweite herausgearbeitet. Nur: Was genau kam eigentlich vor der Rücktrittsdrohung? Mit welchen Methoden leitete Schiller die ihm unterstellten Behörden und Ministerien? Und was geschah jenseits von Konjunkturpolitik und Globalsteuerung? Dort halfen wissenschaftliche Rationalität und technokratische Aura allein ja kaum weiter, ging es doch stets um die Berücksichtigung machtvoller Interessen oder schlicht um die Ausübung von Macht. Bereits seit längerer Zeit gibt es Indizien dafür, dass sich der Minister durchaus geschickt darauf verstand, mal machtbewusst zu agieren, mal taktische Kompromisse einzugehen – etwa in der Frage der Ruhrbergbaukrise oder bei der Reorganisation des Krupp-Konzerns. Lütjen greift sie leider nicht auf.1

Dass derartige Themen, von denen die klare und äußerst zielstrebige Argumentation des Buches womöglich etwas irritiert worden wäre, ausgeklammert werden, hat auch mit der Quellengrundlage der Arbeit zu tun. Sie stützt sich neben Presseartikeln, Zeitzeugengesprächen und älteren Interviewmitschnitten fast ausschließlich auf den größtenteils unerschlossenen Nachlass Schillers. Er wurde nun erstmals vollständig ausgewertet, was eine wichtige Pionierleistung ist. Allerdings sind die Auswirkungen auf die inhaltliche Balance des Buches immer spürbar. So erklärt sich beispielsweise, warum erneut in aller Breite auf die Rolle von Schillers Ehefrau Etta eingegangen wird: Das turtelnde Paar füllte seinerzeit nicht nur die Klatschspalten; auch in den politischen Redaktionen wurde über die angebliche Abhängigkeit des Ministers von seiner jungen Gattin räsoniert. Dies trug zwar zum Autoritätsverlust Schillers bei, zumal ihm auch noch Vetternwirtschaft vorgeworfen wurde. Vieles von dem kann man aber bereits der älteren Literatur entnehmen.2 Der gleichzeitig im vollen Gange befindliche wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel wird demgegenüber nur kurz gestreift und mit dem unzutreffenden Hinweis auf den „damals noch stigmatisierten Ökonom namens Milton Friedman“ abgehandelt (S. 295). Dass der wissenschaftlichen Nachkriegskarriere Karl Schillers generell so wenig Beachtung geschenkt wird, ist kaum weniger überraschend. Schön wäre es gewesen, wenn Lütjen über Schillers langjähriges Wirken im wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium, seine Stellung innerhalb seiner akademischen Disziplin oder seine Tätigkeit als Rektor der Hamburger Universität etwas mehr geschrieben hätte.

Schillers Handeln und Wirken wird zwar immer wieder kontextualisiert und meinungsfreudig bewertet – aber alle Analysen bleiben doch häufig ausschließlich auf die Person Schillers fixiert. Das ist besonders problematisch, wenn seine wissenschaftliche Karriere im Nationalsozialismus betrachtet wird – in diesen Passagen schrammt Lütjen haarscharf an der Apologetik vorbei. Da wird auf fünf Seiten ausführlich aus Entnazifizierungsunterlagen referiert, wie sehr die „Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums“ Schillers Dissertation ablehnte. Am Ende erfährt der Leser in wenigen Sätzen, dass dies für die akademische Karriere bedeutungslos war und fragt sich, was damit denn nun gezeigt werden sollte (S. 57-62). Auf ähnliche Weise trägt die Studie immer wieder Argumente für Schillers innere „Distanz“ zum Nationalsozialismus zusammen – ohne einen einzigen analytischen Hinweis auf diesen nach 1945 geradezu klassischen Topos der biographischen Selbstkonstruktion. Dabei war Schiller bis 1940 im „Think-Tank des OKW“ tätig, war dort an konzeptionellen Überlegungen zur Großraumwirtschaft beteiligt und wirkte kräftig an der ökonomischen Gegnerbeobachtung mit. Zwar wird man ihn deshalb noch nicht in eine Reihe mit den „Vordenkern der Vernichtung“ stellen können. Aber in Kenntnis der Debatten, die in den letzten Jahren über die politische Rolle von Wissenschaftlern im Nationalsozialismus, insbesondere über jene Generation, der auch Schiller angehörte, geführt worden sind, hätte Schillers „innere Distanz“ durchaus etwas kritischer betrachtet werden können. Außerdem wird jede Reflexion darüber vermieden, inwiefern sich die Deutung des „Sozialingenieurs“ mit Schillers eigener Selbstbeschreibung vom „unpolitischen“ Technokraten deckt und welche analytischen Probleme aus dieser Übereinstimmung womöglich folgen. Lütjen behilft sich in seinem NS-Kapitel notgedrungen mit Spekulationen über Schillers „geniale Begabung“, alles Unerwünschte auf geradezu autistische Weise ausblenden zu können (S. 75) – womit dieser aber nun wirklich nicht allein stand!

Die erste wissenschaftlichen Ansprüchen genügende und in Buchform publizierte Biographie Karl Schillers ist anschaulich und meidet den akademischen Jargon auf ganz erfreuliche Weise. In den denkbar eindeutigen und geradlinigen Urteilen liegt aber zugleich ihre größte Schwäche: Viel spricht für die zentrale These vom letztlich unpolitischen Politiker Karl Schiller. Auf welche Weise dieser aber im mühsamen politischen Alltagsgeschäft agierte, ob er auch ein unpolitischer Wissenschaftler, insgesamt womöglich ein reiner Technokrat war – all das bleibt nach der Lektüre dieses Buches leider weiter offen.3

Anmerkungen:
1 Abelshauser, Werner, Der Ruhrkohlenbergbau seit 1945. Wiederaufbau, Krise, Anpassung, München 1984; Nonn, Christoph, Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958-1969, Göttingen 2001; Gall, Lothar (Hrsg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002.
2 insbesondere Baring, Arnulf, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982.
3 Vgl. bei der Deutschen Nationalbibliothek online publiziert, jedoch deutlich hinter Lütjen zurückbleibend die folgende Arbeit Hochstätter, Matthias, Karl Schiller. Eine wirtschaftspolitische Biografie, Diss. Hannover 2006.

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