Cover
Titel
Alltag. Zur Dramaturgie des Normalen im DDR-Fernsehen


Herausgeber
Wrage, Henning
Reihe
Materialien – Analysen – Zusammenhänge (MAZ) 20
Erschienen
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 27,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Finke, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Institut für Sozialwissenschaften

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der SED-Diktatur hat in vielen Bereichen beeindruckende Ergebnisse erbracht. Sie ist aber auch „nicht nur zu ihrem Vorteil empirisch sehr dicht [...] und auch ungemein kleinschrittig“ geworden.1 Weitere Fortschritte werden insbesondere von einer gelingenden Verknüpfung von Herrschafts-, Gesellschafts- und Alltagsgeschichte abhängen. Ein Forschungsprojekt zur Analyse von Funktion und Spezifik der Massenkommunikationsmittel steht in diesem Spannungsverhältnis. Dies gilt vor allem für das außerordentlich umfangreiche und von der DFG sechs Jahre geförderte Projekt „zur ostdeutschen Medienkultur“ mit dem Titel „Programmgeschichte des DDR Fernsehens“ mit seinen zehn Teilprojekten. Getragen von den einschlägigen Institutionen in Potsdam, Berlin, Leipzig und Halle, zählt die Publikationsliste dieses inzwischen abgeschlossenen Projekts zurzeit fünfundzwanzig Titel, weitere werden folgen. Die vorliegende Publikation ist aus dem Teilprojekt Programmgeschichte der Fernsehdramatik im DDR-Fernsehen“ hervorgegangen.

Angesichts dieses breiten Stroms von Ergebnissen und der Überfülle von Antworten muss an die Frage erinnert werden: „Was war es, was wir wissen wollten?“2 Welche Erwartungen richten sich an eine Studie mit der modisch-kryptischen Bezeichnung „Alltag. Zur Inszenierung des Normalen“? Zunächst wohl die fällige Auskunft über den Doppelsinn aller Genitivverbindungen, die immer als genitivus subjectivus oder objectivus gelesen werden können. Diese Erörterung unterbleibt aber dort, wo sie ihren Ort haben müsste, in der Einleitung, in der der Herausgeber den Versuch einer Begriffsbestimmung unternimmt, denn er weiß, vom „Alltag zu reden, hat seine Tücken“ (S. 7). Er unterlässt es auch, eine Klärung des problematischen Begriffs des „Normalen“ herbeizuführen.

„Alltag“ ist jene undurchsichtige Gegebenheit, auf die sich jeder irgendwie einstellen muss und immer eingestellt ist, deren wissenschaftlicher Durchdringung allerdings enge Grenzen gesetzt sind. Als Inbegriff des Selbstverständlichen und Vertrauten wird Alltag zum Grenzbegriff des Vagen. Er wird für alle interessierten Versuche herangezogen, in der totalitären Herrschaft Belege für vermeintliche Freiräume, für Grenzen der „Durchherrschung“ der Gesellschaft beizubringen, sozusagen als Zone einer herrschaftsfreien Kommunikation. Die sozialhistorische Alltagsforschung hat gleichwohl in empirischen Studien durchaus beeindruckende Ergebnisse über die DDR-Gesellschaft erbracht. Die Bezugnahme darauf unterlässt der Autor. Stattdessen bietet er außer einem kurzen, selektiven Durchgang durch die Begriffsgeschichte ein von Bloch angehauchtes Geraune vom utopischen Potential der „Idee“ Sozialismus als Alternative zur „Globalisierung“ (S. 12f.).

Der Autor bezieht zudem die Frage nach dem Alltag eng auf eine genuin ostdeutsche „Erinnerungskultur“ und stellt als deren wichtigste, „wissenschaftlich ambitionierteste“ Hervorbringung ein Werk aus dem Hause Badstübner vor (S. 16).3 Die dort gelieferte „Beschreibung des DDR-Alltags“ verstehe sich selbst als Gegenbewegung gegen die „universelle [sic!] Entwertung der DDR“ (S. 16) – eine Perspektive auch für die Erforschung des DDR-Medienalltags? „Ein Kessel Buntes“ als „authentisches“ Identitätsreservoir oder gar als „das Andere der Seele“ (S. 8f.)? Eine begriffliche Volte am Ende: Der Autor spricht unvermittelt statt von „Alltag“ plötzlich von „Lebenswelt“ (S. 22), so als wären diese Begriffe nicht an unterschiedliche Theorien gebunden. Vor allem die Nichtthematisierung des Lebensweltparadigmas von Habermas, der mit der Kolonialisierungsthese einen theoretisch fundierten Ansatz für die vorliegende Studie hätte bilden können, gibt an dieser Stelle Rätsel auf. Und damit ist bereits der Hauptmangel genannt: Eine Einbettung der einzelnen Fallstudien in einen theoretisch ausformulierten Erkenntniszusammenhang wird vom Autor nicht geleistet, die mögliche Produktivität eines medientheoretischen Ansatzes für die Leitfrage nach dem Alltag wird nicht stringent begründet, die Vermittlung beider Ebenen gelingt nicht. Der Autor behilft sich schließlich mit der unterkomplexen Formel: „Wahrscheinlich ist die Frage nach einer authentischen DDR heute ohnehin kaum zu stellen […]“ (S. 21).

Die aus dieser Einführung folgenden Befürchtungen werden im Hauptteil allerdings nicht bestätigt, im Gegenteil: die acht, in drei thematische Bereiche gegliederten Einzelstudien können insgesamt überzeugen. Aus der Perspektive der Leitfrage erscheint der erste Bereich, „Alltag kontrastiv“, als der interessanteste. Tilo Prase: „Das aufgehäufte Elend. Der östliche Alltag des Westens“ diskutiert an einigen Formaten des DDR-Fernsehens mediale Varianten des Systemvergleichs. Er zeichnet die zur Anwendung kommenden ideologischen Topoi an der Serie „Alltag im Westen“ nach, die der „ABC-Berichterstattung“ diente, wobei A für „Arbeitslosigkeit“, B für „Berufsverbote“, C für „Crisis“ stand (S. 30). Seine Überlegungen zu „Gemeinsamkeiten im negativen Spiegelbild“, die er „frappierend“ nennt, führt er auf „Prägungen und Deformationen im Kalten Krieg“ (S. 43) zurück. Dieses und andere ähnlich weitreichende Urteile – auch in anderen Beiträgen – stehen im Kontext der Versuche, die „asymmetrischen“ deutsch-deutschen Bezüge in eine „Parallelgeschichte“ (Christoph Kleßmann) zu integrieren; Thesen, die einen erhebliche Diskussionen auslösen.

Der zweite Beitrag:„Von West nach Ost – von Ost nach West: Irrlicht und Feuer“ ist der umfangreichste des Bandes. Der Autor Thomas Beutelschmidt stellt in bemerkenswerter Dichte der Recherche und in überzeugender Argumentation an einem Fall künstlerischer Wirklichkeitsdarstellung die Irritationen und Probleme medialer Selbstdarstellungen vor. Dieser Fall ist der Roman von Max von der Grün „Irrlicht und Feuer“ (1963), hervorgegangen aus den aufklärerischen Bestrebungen der Dortmunder „Gruppe 61“, die wahre Lage der Arbeiter unter dem westdeutschen Kapitalismus ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Rezeption und Verwertung der Vorlage bilden eines der interessanten Kapitel des west-östlichen Kulturtransfers: Der DFF hatte sich, aus einsichtigen Gründen („Spiegelbild der Klassengesellschaft“, S. 85), sofort an die Verfilmung gemacht, der Export in die bundesdeutschen Fernsehanstalten stieß auf allerlei aus heutiger Sicht abstruse Bedenken. Die Ausstrahlung konnte schließlich trickreich von Günter Gaus (S. 93ff.) durchgesetzt werden. Die Studie von Beutelschmidt ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie durch präzise Rekonstruktion von Sachverhalten und ihrer angemessenen Kontextualisierung Erkenntnisgewinne zu erzielen sind. In einem Punkt allerdings muss dem Autor widersprochen werden: Der ad nauseam wiederholte Verweis auf Kenntnis der „Gestaltungsprinzipien der Nouvelle Vague“ (S. 75) und der damit evozierte Eindruck der „künstlerischen Meisterschaft“ (Honecker) von Horst E. Brandt und Heinz Thiel, die den Fernsehfilm realisiert haben, ist falsch. Wer je einen genaueren Blick auf die Spielfilme von Brandt/Thiel geworfen hat, etwa den berüchtigten Mauerrechtfertigungsfilm „Der Kinnhaken“(1962), oder die brachial die Kontingenz wegerzählende Fabel vom Aufstieg eines kommunistischen Kaders in „Brot und Rosen“ zu Ehren des VII. Parteitags der SED (1967), der wird dem Autor hier nicht folgen wollen.

Der zweite thematische Bereich untersucht „Inszenierungsformen des DDR-Alltags“ in Fernsehshows, in Familienserien, in der Kriminalserie „Polizeiruf 110“ und im Sport. Der dritte Bereich: „Alltag und Gesellschaft“ analysiert Literaturverfilmungen unter dem Alltags-Aspekt. Rüdiger Steinleins Gegenstand sind fünf „Verfilmungen gegenwartsbezogener DDR-Jugendliteratur“ (S. 198); Susanne Liermann betrachtet filmische Varianten von Maxie Wanders „Guten Morgen, Du Schöne“ (S. 249).

Die Einzelstudien des Bandes bieten wichtige neue Einsichten in bislang weniger bekannte Genres des DDR-Fernsehens; in der Detailanalyse können sie überzeugen, in der Verallgemeinerung reproduzieren sie die Paradoxien des Ansatzes. Dem prädikativ verschlossenen Alltag werden Prädikate wie „das Normale“, „Kollektivität“ oder „arbeiterlich“ (Wolfgang Engler) zugeschrieben. Die vorausliegende Bestimmung dessen, wovon sich nichts sagen lässt, präformiert aber die Bezugnahme von „Alltag“ und „Inszenierung“. Es gilt auch hier das, was Kant für die Vernunftkritik feststellte: Es ist etwas sehr „Ungereimtes, von der Vernunft Aufklärung zu erwarten“ und ihr doch durch einen vorher gefassten Begriff der Vernunft „vorzuschreiben, auf welche Seite sie notwendig ausfallen müsse.“4

Anmerkungen:
1 Kocka, Jürgen, Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75. Geburtstag, in: Deutschland Archiv 36 (2003), 5, S. 764–771, hier: S. 767.
2 Blumenberg, Hans, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1981, S. 9.
3 Badstübner, Evemarie u.a. (Hrsg.), Befremdlich anders. Leben in der DDR. Texte zur Alltags-, Sozial- und Milieugeschichte der DDR-Deutschen, Berlin 2000.
4 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, Riga 1787, S. 775.

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