G. Ingendahl: Witwen in der Frühen Neuzeit

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Titel
Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie


Autor(en)
Ingendahl, Gesa
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke Hufschmidt, LWL-Freilichtmuseum Hagen, Westfälisches Landesmuseum für Handwerk und Technik

Nicht zuletzt die ausdrucksstarken bildlichen Darstellungen von Witwen aus der Frühen Neuzeit haben dazu beigetragen, das Interesse der Forschung auf ungewollt männerlose Frauen zu ziehen. Insbesondere mit aufwendigen Epitaphien setzten bürgerliche Witwen sich und ihren verstorbenen Ehemännern mitunter beeindruckende Denkmäler. Damit kamen neben den sprichwörtlich armen Witwen Frauen in den Blick, die über außerordentlich große Handlungsräume verfügten und mitunter geradezu als Vorbilder für moderne Emanzipationsbestrebungen geeignet schienen.1 Gesa Ingendahl hat sich Witwen nun in ihrer Dissertation aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive genähert und die verschiedenen Funktionen und Positionen herausgearbeitet, die Witwen in der städtischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit zugeschrieben wurden, die sie selbst anstrebten und die sie real einnahmen. Am Beispiel der süddeutschen Reichsstadt Ravensburg konstatiert sie einen Bedeutungszuwachs des Witwenstandes in der Frühen Neuzeit und sieht ihn als "Referenz- und Kristallisationspunkt für gesellschaftliche Diskurse", die über die Kategorien Geschlecht, Beruf und Eigentum geführt wurden und über die sich die frühneuzeitliche Öffentlichkeit maßgeblich konstituierte (S. 19). Sie zeichnet detailliert nach, wie sich die Witwenschaft zu einem rechtlich institutionalisierten Stand entwickelte, der es Frauen ermöglichte, als Haushaltsvorstände eigenständig öffentlich zu handeln. Dabei erweitert sie die bisher vorherrschende sozialgeschichtliche Betrachtungsweise um einen volkskundlich-kulturhistorischen Zugang.

Die Arbeit beginnt mit zwei Einleitungen. Der traditionellen, auf hohem Niveau argumentierenden ersten Einleitung folgt eine zweite, die der Witwenschaft in den kulturellen Bildern der Frühen Neuzeit gewidmet ist. Diese wurden von einem Spannungsverhältnis geprägt: Nach der christlichen Lehre übernahm die Witwe stellvertretend Buße für den verstorbenen Ehemann. Ihre Hauptaufgabe bildete Trauer und lebenslange Totensorge. Im Kontrast dazu standen die lebensweltlichen Faktoren der Witwenschaft – Witwen mussten ihre Existenz sichern und nahmen stellvertretend für ihre verstorbenen Ehemänner verschiedene Funktionen in städtischer Wirtschaft und Gesellschaft wahr. Um etwa die öffentliche Ordnungsfunktion des vom Ehepaar gemeinsam geleiteten, aber vom Ehemann nach außen vertretenen Haushalts auch nach dessen Tod aufrechterhalten zu können, erhielten Witwen umfangreiche Rechte als Haushaltsvorstände. Nicht nur bei dieser Feststellung wird deutlich, wie maßgeblich die Arbeit auf den Forschungen von Heide Wunder zu Bedeutung und Funktion des "Arbeitspaares" in der Frühen Neuzeit beruht. So wie mit der Entstehung des „Arbeitspaares“ die Familiarisierung von Arbeit und Leben seit dem Mittelalter greifbar wird, ist die Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft mit dessen Ablösung verbunden. Dabei werden fundamentale Veränderungsprozesse an dem Umstand ablesbar, dass im 18. Jahrhundert der "Alleinernährer" zu einem ständischen Distinktionsmerkmal avancierte, das insbesondere Pfarrer und Beamte von anderen Bürgern unterschied. Ihre beruflichen Aufgaben erlaubten kaum mehr Stellvertreterfunktionen für deren Witwen. Da es etwa dem Ansehen des Pfarrerstandes schadete, wenn sich Pfarrerswitwen mit (Hand-)Arbeit ernährten, wurden Pensionskassen eingerichtet. Damit war das Grundauskommen der Witwen gesichert, ihnen kam aber auch kaum mehr eine gesellschaftliche Bedeutung zu. Sie waren damit zugleich gegenüber Handwerkerwitwen abgegrenzt, von denen erwartet wurde, dass sie sich im Witwenstand wie bereits zuvor ihren Lebensunterhalt selbst verdienten.

Im ersten Kapitel "Witwen als historische Präsenz: Die Sichtbare" benennt Ingendahl Rahmenbedingungen der Stadt Ravensburg, die das Witwendasein bestimmten, wie beispielsweise die Struktur des Handwerks, die Modalitäten der Besitztransfers anlässlich von Heirat und Erbfall sowie die geschlechtsbezogene Arbeitsteilung. Zunehmend „sichtbar“ wurden Witwen, als die schriftliche Überlieferung der Stadt im 18. Jahrhundert enorm anwuchs. In ganz unterschiedlichen Quellenarten bilden Witwen die zweitgrößte erfassbare Gruppe nach nur selten nach Hausstand differenzierten Männern. Zwar zählten sie zu den strukturell Armen in der Stadtgesellschaft, aber Witwe war nicht gleich Witwe – im Koordinatensystem ständischer Strukturen wirkte sich eine Witwenschaft ganz unterschiedlich aus. Plastisch ablesbar wird das an Steuerbüchern und "Seelenbeschrieb", den zentralen Quellen des zweiten Kapitels über die Witwe als "Einwohnerin". An der Position Erfassung von Frauen in den Steuerbüchern lassen sich die Standesunterschiede sehr deutlich nachweisen. Verloren Patrizierfrauen ihren Ehemann, blieben sie "Frauen" und behielten den Platz ihrer Familie, während Handwerkerwitwen als Gruppe am Ende der Liste zu finden waren. Anhand des sogenannten Seelenbeschriebs, der die Stadtgesellschaft hausbezogen erfasste und Personen Haushalten und Hausständen, Geschlechtern und bürgerlichem Status zuordnete, weist Ingendahl quellenkritisch nach, welche sozialen Gegebenheiten jeweils mit den für die Witwen verwendeten Begrifflichkeiten korrespondierten. Sie belegt, dass die meisten Witwen mit Erwerbsarbeiten ihren Lebensunterhalt selbst sicherten, immerhin ein Drittel empfing aber auch Almosen.

Das dritte Kapitel widmet sich Witwen als Stadtbürgerinnen, als die sie vor allem "Stellvertreterinnen" waren. Sie verfügten in Ravensburg wie an anderen Orten über passive Bürgerrechte, aber keinesfalls über Beteiligungsmöglichkeiten am politischen Geschehen. Aktiv tätig waren sie aber im Handwerk. Witwenrechte in den Handwerksordnungen sind zwar bereits häufiger analysiert worden, doch zeigt Ingendahl schlüssig, dass sich am Umgang mit Witwen größere wirtschaftliche und politische Veränderungen ablesen lassen, als die Forschung bisher konstatiert hat. So belegt sie, dass der Zeitraum, in dem die Witwe eine Werkstatt führen durfte, abhängig von gewerbepolitischen Überlegungen war. Die mitunter zeitlich unbegrenzte Erlaubnis der Betriebsführung von Witwen, wie sie in Ravensburg galt, war damit verbunden, dass ein Geselle in dem Betrieb arbeiten musste, der die Qualität der Arbeiten garantierte. Solche Handlungsräume waren in erster Linie der Bedeutung des "Arbeitspaares" geschuldet. Im Zuge der Professionalisierung etwa des Berufs des Wundarztes konnten Witwen aber diese Stellvertretung nicht mehr übernehmen. Zugleich schränkte die neue Auffassung der "Geschlechtscharaktere" den Aktionsradius von Frauen ein.

Ganz anders geartete Stellvertreterfunktionen übernahmen Witwen als Erbinnen und Schuldnerinnen. Ehepaare lebten in Ravensburg im Stand der Gütertrennung, die Ehemänner besaßen die Verfügungsgewalt über das Vermögen ihrer Ehefrauen. Mit der Vermögensregelung in der Ehe war die Frage verbunden, in welchem Umfang Frauen für die Schulden ihrer verstorbenen Ehemänner aufkommen mussten. Die seit 1760 immer häufiger aufgesetzten Eheverträge legten die ehelichen Vermögensverhältnisse offen – und minderten die Möglichkeit, das Vermögen von Frauen aus Schuldverfahren auszuklammern. Die Etablierung einer modernen Kapitalwirtschaft führte mithin zu einer Beschneidung der bis dahin Frauen gewährten Besitzrechte.

1774 griff der Rat der Stadt das Problem der "Geschlechtsvormundschaft" auf. Ein Statut sollte verhindern, dass Witwen (zu) eigenständig agierten. Allerdings widersetzten sich die Betroffenen recht erfolgreich den Bemühungen, sie unter die Kontrolle von Männern zu stellen. So wollten Händlerinnen keineswegs Einblicke in ihre Geschäftsbücher gewähren. Die Frage nach "unterstützten Witwen" beschließt das Kapitel. De facto waren viele verwitwete Frauen – wie auch ledige Frauen – auf Unterstützung angewiesen. Das Verwitwetsein an sich reichte als Grund für Almosen allerdings nicht aus. Nur unverschuldet Arme erhielten eine Beihilfe. Hilfe zur Selbsthilfe war das vorherrschende Prinzip. Die beste Versorgung stellte aber die Wiederverheiratung dar. Deshalb auch erleichterte die Stadt den Zuzug von unverheirateten Personen, die als Heiratskandidaten für Witwen und Witwer in Frage kamen.

Das vierte Kapitel "Witwen in der Familie: Die Haus-Frau" bietet eine sehr profunde Auseinandersetzung mit einem in der Forschung lange vernachlässigten Thema – den frühneuzeitlichen Eheverträgen und ihrer grundlegenden Bedeutung für den Transfer von Vermögen, der das Leben einer Frau als Ehefrau und als Witwe entscheidend prägte. Ingendahl erläutert den Stellenwert dieser in Ravensburg seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in großer Zahl aufgesetzten Schriftstücke als Zeichen des Übergangs vom Gedächtnis zur Schrift und Ausdruck gesellschaftlicher Normen jenseits des gesetzten Rechts. Ihre detaillierten Auswertungen führen zu zahlreichen Erkenntnissen über Witwen. Indem verschiedene Paarkonstellationen (Ehemann Witwer, Ehefrau zuvor unverheiratet, beide Ehepartner verwitwet etc.) untersucht werden, können Erwartungen erschlossen werden, die jeweils mit dem Ehestand verbunden wurden.

In den Schlussgedanken "Witwen in Ravensburg: Die Teilhaberin" arbeitet Ingendahl sehr klar die beiden Ebenen heraus, die das Phänomen der Witwenschaft in der Frühen Neuzeit prägten: die kulturellen Deutungsmuster, die sich mit dem Widerspruch eigenständiger männerloser Frauen in einer männlich-dominierten Gesellschaft auseinandersetzten, und die Ebene der normativ-rechtlichen Formierung des Witwenstandes im Rahmen von Verschriftlichungs- und Verrechtlichungsprozessen. Mit dem Ende der ständischen Gesellschaft und dem Wandel zur modernen Gesellschaft entwickelte sich der Witwenstand von einer rechtlichen zu einer sozialen Kategorie.

Ein besonderer Verdienst der Verfasserin besteht in der profunden Analyse vermögensrechtlicher Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen. Die stringente Gliederung der gut lesbaren Arbeit ist auch an den gelungenen Überschriften der Kapitel und Unterkapitel ablesbar. Pointierte Zusammenfassungen bündeln die gewichtigen Einzelerkenntnisse. Ingendahl gelingt es überzeugend, ihre Ergebnisse in übergeordnete Prozesse einzuordnen und damit zugleich neue Perspektiven auf eben diese Prozesse zu eröffnen.

Anmerkung:
1 Dazu bereits kritisch Opitz, Claudia, Emanzipiert oder marginalisiert? Witwen in der Gesellschaft des späten Mittelalters, in: Bea Lundt (Hrsg.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München 1991, S. 25–48.

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