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Titel
Geschichte der Verlierer. Historische Selbstreflexion von hochrangigen Mitgliedern der SED nach 1989


Autor(en)
Jung, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jeannette van Laak, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Wer schreibt die Geschichte, die „Gewinner“ oder die „Verlierer“? Oder sind es Dritte, die vom Rande her die Geschehnisse beobachten und für die Nachwelt festhalten? Wenn die „Gewinner“, aber auch die „Verlierer“ Geschichte schreiben, ist der Überraschungsgehalt in aller Regel überschaubar. Ihre Art der Geschichtsschreibung konzentriert sich vornehmlich auf Selbstreflexionen in Form von Autobiografien, Biografien und Memoiren, die eine nicht unbeachtliche Faszination auf das Publikum ausüben. Hofft es doch, bisher Unbekanntes aus erster Hand zu erfahren.

Die in der vorliegenden Dissertation des Historikers Christian Jung untersuchten Selbstreflexionen hochrangiger SED-Funktionäre stammen aus den Federn von Funktionären, die sich einst als die „Gewinner der Geschichte“ verstanden. Nach den politischen Ereignissen um die friedliche Revolution von 1989/90 jedoch fanden sie sich auf der Verliererseite wieder. Jung hebt in seinem griffigen Titel auf die von deutungsmächtigen SED-Funktionären gern verwendete Paraphrase von den „Verlierern der Geschichte“ ab, die sich in ihrer Wahrnehmung jenseits des Eisernen Vorhangs befanden. Mit dessen Fall lösten sich die bis dahin von den SED-Funktionären proklamierten Gewissheiten in nichts auf. In den 1990er-Jahren standen die kommunistischen Führer und ihre Anhänger vor den Trümmern ihrer Ideologie. Diese versuchten sie in den folgenden Jahren zu sortieren und zu interpretieren. Seit Anfang der 1990er-Jahre erschienen zahlreiche Bücher, in denen ehemalige kommunistische Funktionäre ihr Leben und ihr Wirken zu erklären versuchten. Christian Jung hat sich durch diesen Bücherberg an Selbstreflexionen – in der Regel Autobiografien, Erinnerungen, Memoiren und Zeitungsinterviews – gearbeitet, was zu einer über einhundert Seiten umfassenden Bibliografie führte.

Der Untertitel evoziert beim Leser die Erwartung, dass der Autor die historischen Selbstreflexionen hochrangiger SED-Funktionäre analysiert, dass die Art der Darstellungen reflektiert wird. Man nimmt an, dass der Autor das Reizvolle dieser Quellen erklärt, die er als „wertvolle Artefakte der deutschen Zeitgeschichte“ (S. 60) verstanden wissen will. Doch er beabsichtigt vielmehr eine „deskriptive Darstellung der in den Autobiografien behandelten Themen, Komplexe und Selbstreflexionen, um sie in einer vergleichenden Analyse gegeneinander zu stellen und auf ihre Verifizierbarkeit zu untersuchen“ (S. 29). Außerdem sollen „bewusste oder unbewusste Verfälschungen durch Selbstzensuren“ (ebd.) der SED-Funktionäre berücksichtigt werden, wobei sich der geneigte Leser fragt „Wozu?“. Jungs Interesse am historischen Gegenstand will – in dieser Reihenfolge – einer weiteren Geschichtsverklärung der DDR entgegen wirken, Opfer und Verfolgte des SED-Regimes würdigen und einer „undifferenzierten Erinnerungskultur“ (S. 30) vorbeugen.

Jung wird der angestrebten deskriptiven Darstellung in sieben Abschnitten tatsächlich mehr als gerecht. Doch es bleibt fraglich, ob mit einer erneuten Beschreibung der Ereignisse aus Sicht der DDR-Funktionäre einer Geschichtsverklärung vorgebeugt, die Opfer und Verfolgten des SED-Regimes damit gewürdigt und damit tatsächlich ein Beitrag zu einer differenzierten Erinnerungskultur geleistet wird. Weder nach der Einführung, noch nach dem Überblick über die „schreibenden Funktionäre“ wird deutlich, welche historisch relevanten Fragen Jung an seine Quellen stellt. Auch der theoretische Diskurs über Definitionen von „Erinnerung“, „Autobiografie“ und „Memoirenliteratur“ liefert hierfür keine Anhaltspunkte. Zwar klassifiziert er seine Quellen „als autobiografische Berichte mit selektiven Memoirenbestandteilen“ (S. 60). Doch was folgt daraus für die in Aussicht gestellte Analyse?

Eine theoretische Vorüberlegung lässt Jung zudem unberücksichtigt: Die „schreibenden Funktionäre“ sind in der Regel Arbeiterfunktionäre, die ihre Autobiografien nach anderen Kriterien als bürgerliche Honoratioren verfassen. In ihrer Darstellung ordnen sie sich noch einmal ihrer Ideologie unter, präsentieren sich als „Rädchen im Getriebe“, als Teil der kommunistischen Bewegung. Dies ist ein wichtiger Unterschied zum sonst üblichen autobiografischen Schreiben, bei dem der Autobiograf um das Herausheben seiner Individualität bemüht ist.1 Dabei beziehen sich die schreibenden Funktionäre ausdrücklich auf ihre Herkunft und ihre Sozialisation. Wiederholt betonen sie, aus einfachen Verhältnissen zu stammen. Ob dies etwas mit sozialromantischer Verklärung oder mit biografischer Konstruktion zu tun hat, sei dahin gestellt. Vielmehr scheinen die Erzählungen über die Kindheit und Jugend der Funktionäre die eigentliche Motivation für ihr späteres Handeln zu bergen. Denn auf einen ideologischen Überbau, auf eine kommunistische Weltanschauung beziehen sich die wenigsten SED-Funktionäre. Es sind in diesem Falle also nicht das Weltbild und ihre propagandistisch verbreiteten Ideologeme, sondern die Kindheits- und Jugenderfahrungen, die für die DDR-Politiker handlungsleitend waren.

Dem deskriptiven Anspruch bleibt sich der Autor auch in den Kapiteln treu, die die Kommentare hochrangiger SED-Funktionäre zur Regierungszeit Honeckers und zum Ende der DDR beinhalten. Anschließend befragt der Autor seine Quellen nach „Schuld und Verantwortung“, um mit einem Blick in die Zukunft zu enden. Dabei gelingt es ihm im Ganzen zwar, die gut ausgewählten Zitate der Funktionäre aufeinander zu beziehen, doch eine Analyse sucht man auch hier meist vergeblich. Auch wenn Jung, vielleicht von der Materialfülle überfordert, es nicht ausdrücklich benennt: Einmal mehr wird deutlich, dass die SED-Funktionäre seit den 1970er-Jahren weder Illusionen noch Visionen hatten, sondern vor allem mit ihrem Machterhalt beschäftigt waren. Dies schien all ihre Kräfte zu binden. Die Strukturen sollten möglichst nicht verändert werden, was zu der oft konstatierten Agonie in allen Sphären der Gesellschaft führte. Einmal mehr erfahren wir indirekt, wie rat- und hilflos die Parteielite den Ereignissen im Herbst 1989 gegenüber stand. Jung erzählt insofern eine „Geschichte von Verlierern“, die noch nach ihrem Machtverlust unfähig zu sein scheinen, die Zeichen der Zeit „richtig“ zu deuten. Aus diesem Grund warnt er wiederholt vor der drohenden Gefahr der Linkspartei und der Unverbesserlichkeit ihrer Altfunktionäre.

Die schreibenden Arbeiterfunktionäre hingegen wollen sicher gehen, dass ihre Geschichte „richtig“ erzählt wird. Und – auch das sollte nicht verschwiegen werden – sie beanspruchen für den Moment der Darstellung und Rezeption natürlich erneut die Deutungsmacht. Das scheint das Besondere dieser Quellen auszumachen. Über die sich erklärenden Funktionäre hingegen erfährt der Leser alles in allem wenig. Jungs Arbeit zufolge haben wir es mit einer in sich starren Personengruppe mit äußerst begrenzten Handlungsspielräumen zu tun. Die Funktionäre sind fast so erstarrt wie die Honecker-Zeit selbst. Im Gegensatz dazu stehen übrigens die Schilderungen der Kindheit und Jugend der Funktionäre, die in aller Regel farbiger und lebendiger ausfallen. Doch nicht einmal diese Diskrepanz wird analytisch aufgegriffen. Vielleicht ist es dem Autor aufgrund der Materialfülle nicht aufgefallen, vielleicht hat er sie sich bei aller moralischen Empörung über die Unverbesserlichkeit ihrer Anschauungen auch gar nicht gestellt. Doch handelt es sich bei den SED-Funktionären tatsächlich um monolithisch anmutende Personenhüllen ohne Inhalte und Charaktere? Waren sie tatsächlich so macht- und einflusslos, wie sie sich nach 1989 präsentierten? Warum übernahmen sie in der Regel keine Verantwortung, sondern schieben diese nach wie vor höheren Funktionären zu? Thematisierten sie Ängste, Zweifel? Ist die Darstellung in sich schlüssig, nachvollziehbar? Eine solche Metareflexion zu einem an sich hochinteressanten Material bleibt wohl vorerst einer anderen Arbeit vorbehalten.

Anmerkungen:
1 Frerichs, Petra, Bürgerliche Autobiografie und proletarische Selbstdarstellung, Frankfurt am Main 1980.

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