B. Pietrow-Ennker (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands

Cover
Titel
Kultur in der Geschichte Russlands. Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten


Herausgeber
Pietrow-Ennker, Bianka
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Frings, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

„Meist reagiert der zeitgenössische Leser skeptisch auf ein wissenschaftliches Unterfangen, das im Sammeln intellektueller Entwürfe unter dem Dach eines kulturalistischen Oberbegriffs steht.“ (S. 370) Hätte Dmitri Zakharine, Mitarbeiter jenes Konstanzer Sonderforschungsbereiches, in dessen Kontext der zu besprechende Band erschienen ist, diesen Satz nicht selbst formuliert, so hätte der Rezensent ihn erfinden müssen. Kulturhistorische Sammelbände sind en vogue – doch ihr Erkenntniswert ist zumindest nicht unumstritten.

An diesem Problem setzt der Sammelband schon in der Einleitung an. Bianka Pietrow-Ennker, Herausgeberin des Bandes, erklärt einleitend, dass dem Band ein weiter Kulturbegriff zugrunde liege, „nach dem Kultur die Antwort des handelnden Menschen im Umgang mit der Natur, mit der Welt, mit sich und den Mitmenschen ist“ (S. 17). Kultur sei daher der Inbegriff menschlicher Sinnbildungsleistungen. Fraglich ist damit jedoch immer noch, „inwiefern man damit rechnen kann, dass der Leser über eine spannende Faktensammlung hinaus auch ein attraktives Theorieangebot in die Hände bekommt“ (S. 370).

Dieses Theorieangebot wird in fünf größeren Themenblöcken präsentiert: „Raum-Denken“ (Prozesse der Wahrnehmung, Deutung und Erinnerung des Raumes), „Vom Moskauer zum Petrinischen Reich“ (Anschluss an die westliche Welt durch neue mediale Strategien), „Russland im 19. Jahrhundert“ (Identitätskonstruktionen in der beginnenden Moderne), „Lebensweltliche Perspektiven auf gesellschaftlichen Wandel“ und „Die Narrative der Macht und die Macht der Narrative“.

Die Stärken dieses Bandes erweisen sich gerade dort, wo die Beiträger mit ihren theoretischen Überlegungen sehr vorsichtig arbeiten und vor allem auf eine breite empirische Basis setzen. Es handelt sich in diesem Fall um kleine Studien, die ein abgegrenztes Thema nachvollziehbar abhandeln. Schwächen zeigen sich vor allem, wenn weit reichende theoretische Entwürfe vorgetragen werden, die empirisch nicht eingeholt werden können; mitunter fehlt jede soziale Einbettung des historischen Gegenstands. Kurzum: Je weniger Theorie, je mehr Empirie, desto überzeugender in der Argumentation.

Im ersten Kapitel verhandelt Guido Hausmann zunächst die Aufwertung der Natur zum Erinnerungsraum in der orthodoxen Literatur im 17. Jahrhundert. Er interpretiert hierzu eine Erscheinungslegende des 17. Jahrhunderts, deren textlicher Wandel vom 17. bis zum 19. Jahrhundert eine sich ändernde Einstellung zum Raum des Flusses Wolga dokumentiert. Seine Schlussfolgerungen sind eher vorsichtig: Aussagen über das Naturverständnis der Orthodoxie werden vermieden, und die Wolga wird keineswegs als wichtiges oder gar vorrangiges Speichermedium kultureller Traditionsbildung im Russländischen Reich oder im russisch-orthodoxen Kontext vorgestellt. Diese Zurückhaltung muss positiv hervorgehoben werden.

Weniger überzeugend präsentieren sich die anderen Beiträge des Abschnittes zu Raumkonstruktionen. Oliver Reisner beispielsweise stellt zwar eine elaboriertere theoretische Überlegung zur Imagination des Raumes vor, kann diese jedoch empirisch nicht absichern. Von der Imagination des Raumes oder seiner Konstruktion ist nach der theoretischen Hinleitung kaum die Rede, eher von ethnischen Zuschreibungen, deren Untersuchung in einen anderen Abschnitt des Bandes gehört hätte. Auch die einleitend gestellte Frage, „wie und warum gerade Kaukasien solch eine wirkungsmächtige Signifikation in der russischen Öffentlichkeit erlangen konnte und nicht z.B. die Krim als erstes Beispiel einer ‚orientalischen’ Landschaft im Zarenreich Katharinas II.“ (S. 64), wird nicht erklärt; es bliebe die Frage, ob diese Aussage überhaupt zutrifft.

Diese Beobachtungen lassen sich im Kern auch in den anderen Abschnitten des Bandes machen. So präsentiert etwa Jurij Murašov weitreichende medientheoretische Überlegungen und leitet dann aus der Gleichzeitigkeit der Einführung eines neuen Mediums im russischen Kontext (dem Buchdruck) und der aufkommenden Vorwürfe gegenüber „Judaisierenden“ die kausale Verursachung der letzteren durch ersteres ab. Aus der zunehmenden Verwendung des Buchdrucks in der politischen Kommunikation „resultiert das paranoide Misstrauen, das seit den sechziger Jahren das Handeln Ivans IV. bestimmt und zu desaströsen Konsequenzen führt“ (S. 121). Korrelationen sind aber noch keine kausalen Verursachungen; dieser Nachweis wäre erst zu führen und kann auch nicht durch starke medientheoretische Überlegungen ersetzt werden.

Den Abschnitt über „Identitäten“ leitet Lutz Häfner mit einer Studie zur Geschichte des Duells in Russland vom 18. bis ins 20. Jahrhundert ein. Auch sein Beitrag überzeugt durch vorsichtige Theoriebildung und klare, ausreichende empirische Belege, die zeigen, dass das Duell in Russland keineswegs jene Funktionen übernahm, die es beispielsweise im deutschen Kaiserreich hatte. Als Produkt eines Kulturtransfers hatte es seine Rolle im Empfängerland geändert. Das Duell blieb eine Quantité négligeable, so Häfner abschließend nüchtern.

Weniger nüchtern präsentiert sich der Beitrag von Elisabeth Chauré, Antonia Napp und Elisabeth Vogel, die auf Grund eines einzigen Portraits von Orest Kiprenski und einer einzigen Erzählung Nikolai Karamsins eine zunehmende diskursive Verschränkung von Gender und Nation, ja sogar eine „signifikante Epochenschwelle“ (S. 199) ausmachen, ohne diese Kunstwerke in ihrem sozialen Kontext zu verorten. Aus sich heraus aber lassen die beiden Artefakte so weitreichende Schlüsse kaum zu.

Rainer Lindners Beitrag über Jekaterinoslaw schließlich lässt den Rezensenten wieder ratlos zurück. Dass die Stadt ursprünglich als Symbol des Katharinäischen Reiches gedacht war, mag zutreffen; wenn sie dann aber auch als Symbol des sich industrialisierenden Landes im späten 19. Jahrhundert gedeutet wird, sind wahrscheinlich zwei verschiedene Symbolbegriffe im Spiel. Oder soll tatsächlich gesagt sein, dass Jekaterinoslaw in gleicher Weise zu dem Symbol der russischen Industrialisierung wurde, wie es für das Reich Katharinas II. ein imperiales Symbol hätte sein sollen? Die theoretischen Überlegungen, die den Text durchziehen, helfen kaum, diese Frage zu klären.

Vor diesem Hintergrund wirkt dann Julia Obertreis’ Bekenntnis zu einer kulturwissenschaftlich aufgeschlossenen, aber weiterhin an den Erfahrungen der Menschen und nicht bloß ihren symbolischen Ausgestaltungen interessierten Alltagsgeschichte sehr erfrischend. Ihre materialreiche Mikrostudie zu einem Petrograder Haus erweist sich als kurzer, aber tiefer Einblick in eine Lebenswelt der frühen Sowjetunion.

Ratlos macht die abschließende Betrachtung Dmitri Zakharines, der die Beiträge synoptisch auf einen erst durch ihre Akkumulation generierten, eigenständigen Sinn (S. 369) untersuchen will. Hierzu konstatiert er zunächst eine Abkehr von traditionellen Kulturbegriffen, die insbesondere in der deutschsprachigen Slawistik lange gepflegt worden seien. Dass er dabei eine Dichotomie zwischen westeuropäisch-katholisch/protestantisch-holistischem Denken und der Betonung sprachlicher Ausdrucksmittel einerseits und einer dem Wort gegenüber misstrauischen, negativ-theologischen Denkweise im russischen Kontext konstruiert, müsste für einen Kulturwissenschaftler unter Essentialismusverdacht stehen; von hier aus ist es nicht mehr weit zu den kurz darauf postulierten „habituellen Dispositionen eines Volkes“ (S. 385).

Vielleicht noch problematischer aber ist sein Umgang mit den theoretischen Grundlagen der gesammelten Beiträge. So behauptet er etwa, Susi K. Frank appliziere ein „allgemeines Muster der Engführung von juristisch-sozialen und medizinischen Merkmalen, das bei Foucault die Diskurspraktiken innerhalb des psychopathologischen Diskurses fundiert, [...] auf die rassentheoretische Anthropologie des 19. Jahrhunderts“ (S. 379). Genau genommen zitiert Susi Frank Foucault aber kein einziges Mal, was angesichts ihres Themas geradezu gut tut. Und dass Sinndifferenzen bei Alltagshistorikern „nicht dem ‚Geist’, sondern dem menschlichen Leib inkorporierten Wissensstrukturen“ (S. 383) zugerechnet werden, ist aus dem Beitrag etwa der Alltagshistorikerin Julia Obertreis nicht ableitbar.

Ob sich also „der ‚cultural turn’ für die Erforschung der Osteuropäischen Geschichte als äußerst produktiv erweist, da er Dimensionen der Geschichte erschließt, die bisher weitgehend unerforscht geblieben sind, aber als unabdingbar für die historische Analyse gelten müssen“ (S. 13), ist zumindest fraglich. Und insofern leidet der gesamte Band möglicherweise an jenem Problem, das für einzelne Beiträge schon skizziert wurde. Die Einleitung der Herausgeberin entwirft in differenzierter und überzeugender Weise Forschungsstrategien und Fragestellungen sowie offene Felder, ohne dass die empirischen Beiträge diesem Anspruch immer gerecht werden können. Ein eigenständiger kulturwissenschaftlicher Ansatz hat sich beim Lesen nicht herausgeschält. Weder wird thematisiert, ob Kultur (und wenn, welcher Aspekt von Kultur) als Explanans oder Explanandum fungieren soll, noch, wie dies geschehen soll. Kommt die „osteuropäische Geschichtsschreibung“ damit tatsächlich zur „These von der kulturellen Determiniertheit des sozialen Verhaltens“ (S. 386)? Zumindest behauptet dies keiner der Autoren; und schon gar nicht wird man auf der Suche nach einem explizit formulierten kausalen Mechanismus, der diese Determinierung beschreiben würde, fündig. Dieser Verzicht auf eine Überbeanspruchung des Kulturbegriffs ist jedoch die eigentliche Stärke des Bandes. Die lesenswerten Beiträge zeichnen sich gerade nicht durch die elaboriertesten Kulturbegriffe oder Methodologien aus, sondern durch solide historische Arbeit, die möglicherweise auch ohne eine kulturalistische Wende möglich gewesen wäre.

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