Cover
Titel
Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948-1972)


Autor(en)
Lotz, Christian
Reihe
Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 15
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ursula Rombeck-Jaschinski, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße war in den 1950er- und 1960er-Jahren sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR Gegenstand erinnerungspolitischer Kontroversen. Betrachtet man die Diskussionen um das geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin, so ist das Thema nach einer Phase weitgehenden Desinteresses in der Gegenwart wieder aktuell. Die vorliegende Dissertation von Christian Lotz widmet sich einer Analyse der teilweise heftigen Konflikte um die Deutung der Geschichte der Vertreibung und der Geschichte der vom Deutschen Reich abgetrennten Ostgebiete in den 1950er- und 1960er-Jahren. Lotz möchte mit seinem Werk ausdrücklich „auch zu einer Versachlichung der laufenden Diskussionen beitragen“. Er ist der Meinung, dass die „Konfrontationsmuster“ der aktuellen Debatte über die „Formen der Musealisierung“ der Vertreibungsgeschichte verständlicher würden, wenn die „Ursprünge dieser Auseinandersetzungen freigelegt werden“ (S. X).

Die Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über die Geschichte der Vertreibung und der deutschen Ostgebiete verliefen in mehreren Phasen und wurden in beiden Teilen Deutschlands mit großer Härte geführt. Ins Zentrum der Auseinandersetzungen rückten dabei mehr und mehr die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnischer Staatsgrenze und der damit verbundene endgültige Verzicht auf die früheren deutschen Ostgebiete.

Das Buch ist chronologisch aufgebaut. Nach einer ausführlichen Einleitung, in der die Begrifflichkeit, der Forschungsstand, die Quellen, Methoden und Fragestellungen dargelegt werden, schließen sich drei analytische Hauptkapitel an. Sie beschäftigen sich mit drei Zeitabschnitten, in denen „jeweils spezifische erinnerungspolitische Kräfteverhältnisse“ (S. 25) der Vertriebenengeschichte der Jahre 1948 bis 1972 sichtbar gemacht werden. Zur besseren Vergleichbarkeit sind die drei Hauptkapitel nach dem gleichen Muster aufgebaut. Es folgen eine Zusammenfassung in deutscher, polnischer und englischer Sprache, ein ausführliches Verzeichnis von Quellen, Literatur und Kartenmaterial sowie abschließend ein Personen- und ein Ortsregister, das sowohl die alten deutschen als auch die neuen polnischen Ortsnamen enthält.

Im Fokus der Untersuchung stehen die Landsmannschaft Schlesien als größte und wichtigste Vertriebenenorganisation, die Helmut-von-Gerlach-Gesellschaft, die später im Osten in „Deutsch-polnische Gesellschaft“ und im Westen in „Deutsche Gesellschaft für Kultur- und Wirtschaftsaustausch mit Polen“ umbenannt wurde, sowie die Schlesische Evangelische Kirche, die in der Bundesrepublik als „Gemeinschaft evangelischer Schlesier“ und in der DDR als „Evangelische Kirche von Schlesien“ firmierte. Auf der staatlichen Ebene werden die Bundesministerien für Vertriebene und für gesamtdeutsche Fragen sowie auf DDR-Seite die Agitationsabteilung des Zentralkomitees der SED und das Ministerium für Staatssicherheit einbezogen.

Während sich in der Bundesrepublik die Begriffe „Flucht und Vertreibung“ sowie „Vertriebene“ oder „Heimatvertriebene“ zur Beschreibung der damaligen Ereignisse durchsetzten, war in der DDR beschönigend von „Umsiedlung“, „Aussiedlung“ oder „Übersiedlung“ die Rede (Kapitel I). Damit wurde im Gegensatz zum Westen von Beginn an eine Unumkehrbarkeit der Ereignisse zum Ausdruck gebracht. Subsumieren lassen sich die unterschiedlichen zeitgenössischen Begriffe, die Lotz synonym verwendet, unter dem analytischen Oberbegriff der „Zwangsmigration“. In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden Millionen von Menschen zum Verlassen der Provinzen Ostpreußen, Pommern und Schlesien gezwungen, die im früheren Deutschen Reich als „deutsche Ostgebiete“ oder „Ostdeutschland“ bezeichnet wurden. Seit den 1960er-Jahren war mit dem Begriff „Ostdeutschland“ jedoch zunehmend das Territorium der DDR gemeint. Es hat also auch in der Sprache eine Westverschiebung stattgefunden, die allerdings viel allmählicher war als die Gebiets- und Bevölkerungsverschiebung.

Im Kapitel II wird der Zeitabschnitt von 1948 bis 1956/57 untersucht. Diese Phase war grundlegend für die erinnerungspolitischen Kontroversen bis in die 1970er-Jahre hinein, ging es doch erst einmal darum, die Ereignisse von Flucht und Vertreibung zu deuten und damit eine Argumentationsbasis für die Zukunft zu gewinnen. Besonders einflussreich war in dieser Phase die Landsmannschaft Schlesien, die die Vertreibung von vier Millionen Schlesiern als völkerrechtswidriges Unrecht verurteilte und ein Recht auf Rückkehr in die Heimat für alle Vertriebenen forderte. In den 1950er-Jahren hatten Vertriebenentreffen großen Zulauf, auch von Heimatvertriebenen aus der DDR, deren Organisationen in der DDR bekämpft und als „revanchistisch“ diffamiert wurden. Es war das erklärte Ziel der Vertriebenenverbände, die Forderung nach einer Revision der Oder-Neiße-Linie in der öffentlichen Diskussion präsent zu halten. Der rigide Antikommunismus der Verbände stieß in den 1950er-Jahren überwiegend auf positive Resonanz. Im Hinblick auf künftige Friedensverhandlungen war es auch im Interesse der Bundesregierung, die alten Reichsgrenzen in den Köpfen der Menschen lebendig zu erhalten. Dagegen erkannte die DDR-Regierung die Oder-Neiße-Linie schon sehr bald als Staatsgrenze zu Polen an.

In diesem Sinn arbeitete die in Ost-Berlin und in Düsseldorf vertretene Helmut-von-Gerlach-Gesellschaft, die sich für eine Verständigung mit Polen einsetzte. Von einem Unrecht oder gar Vertreibungsverbrechen konnte aus ihrer Sicht keine Rede sein. Es wurde vielmehr in Frage gestellt, ob es sich bei den Gebieten jenseits von Oder und Neiße überhaupt um deutsche Gebiete handle, da schon seit dem 19. Jahrhundert eine massive Abwanderung von Deutschen nach Westen stattgefunden habe. Geblieben seien die deutschen Gutsbesitzer und Magnaten, die die vorwiegend polnische Bevölkerung ausgebeutet hätten. Damit wurde eine klassenkämpferische Umdeutung der Geschichte vorgenommen, die nicht nur im Osten, sondern in modifizierter Form auch im Westen propagiert wurde, dort in den 1950er-Jahren allerdings auf wenig Resonanz stieß. Die Düsseldorfer Gerlach-Gesellschaft stand im Verdacht einer kommunistischen Tarnorganisation und wurde zeitweilig vom Verfassungsschutz beobachtet. Zu einem Verbot reichte es zwar nicht, doch ist sicher, dass die Gerlach-Gesellschaft finanziell am Tropf der DDR hing. Im Gegensatz zu den beiden Antipoden, der Landsmannschaft Schlesien einerseits und der Gerlach-Gesellschaft andererseits, bemühte sich die evangelische Kirche um eine sinnstiftende theologische Deutung des Vertreibungsgeschehens. Insgesamt ist für die erste Phase festzustellen, dass die Deutungshoheit ganz wesentlich bei den Landsmannschaften lag. Dies gilt trotz des intensiven Bemühens der DDR-Regierung um alternative Deutungsangebote auch für die Mehrheit der DDR-Bürger.

Schon zu Beginn der zweiten Phase, die Lotz zufolge von 1956/57 bis zur Mitte der 1960er-Jahre reichte, trat eine Verschiebung der erinnerungspolitischen Kräfteverhältnisse ein (Kapitel III). Der Einfluss der Vertriebenenverbände ging spürbar zurück. Die Erinnerung an die deutschen Ostgebiete wurde schwächer und beschränkte sich mehr und mehr auf die Gruppe der Heimatvertriebenen. Zunehmend galt die Forderung nach einer Revision der Nachkriegsgrenzen als geschichtlich überholt. Gegen den Widerstand der Landsmannschaften wurde die Vertreibung der Deutschen verstärkt in einem kausalen Zusammenhang zur NS-Geschichte gesehen, und die anfangs vorherrschende Interpretation der Vertreibung als Unrecht wurde in Frage gestellt. Die Vertriebenenverbände verloren in dieser Phase aus demographischen und integrationspolitischen Gründen erheblich an Mitgliedern. Viele Heimatvertriebene waren nur noch an gesellschaftlichen Kontakten zu alten Freunden und Nachbarn interessiert. Eine solche „Streuselkuchenmentalität“ wurde von der Führung der Landsmannschaft Schlesien entschieden verurteilt, die nunmehr den verschärften Kurs einer einseitigen Politisierung der Erinnerung verfolgte und im Verband durchsetzte.

Diese Haltung führte die Vertriebenenverbände in der dritten Phase von der Mitte der 1960er-Jahre bis zum Jahr 1972 (Kapitel IV) ins vollständige politische Abseits. Durch den Warschauer Vertrag war die Politik der Vertriebenenverbände de facto gescheitert. Allerdings gelang es ihnen dennoch, zumindest in der Bundesrepublik, die Deutungshoheit über den Raum zu behaupten, das heißt über die Geschichte der Ostgebiete. In der DDR setzte sich derweil mehr und mehr die klassenkämpferische Interpretation der Geschichte der Ostgebiete durch.

Das Thema Vertreibung und Ostgebiete, in den 1960er- und 1970er-Jahren zunehmend auf die Oder-Neiße-Thematik verengt, verschwand seit den 1970er-Jahren weitgehend aus der Öffentlichkeit. Lotz hält dies nicht für ein bewusstes Verdrängen, Verschweigen oder gar Tabuisieren der Ereignisse1, sondern interpretiert das nachlassende öffentliche Interesse als Ergebnis eines Prozesses, dessen Entstehungsbedingungen er mit seiner Arbeit ein Stück weit erhellen möchte. Kritisch zu hinterfragen bleibt in diesem Zusammenhang der von Lotz schon sehr früh angesetzte Bedeutungsverlust der Vertriebenenverbände. Im politischen Bereich gilt diese Feststellung eigentlich nur für das linke Spektrum. Gerade in den politischen Auseinandersetzungen über die Ostverträge in den 1970er-Jahren waren die Vertriebenenverbände noch sehr präsent. Der eigentliche Bedeutungsverlust erfolgte erst nach dem Amtsantritt von Bundeskanzler Helmut Kohl, der im Gegensatz zu den Hoffnungen vieler Vertriebenenfunktionäre die Ostpolitik seiner Vorgänger fortführte.

Positiv ist hervorzuheben, dass Lotz den Umgang mit der Vertriebenengeschichte in der DDR in seine Untersuchungen einbezieht. Dabei gelangt er zu der überraschenden Erkenntnis, dass es der DDR-Regierung trotz restriktiver Maßnahmen nicht gelungen ist, kritische Debatten über dieses Thema zu unterdrücken. Das vorliegende Buch ist ein wichtiger Beitrag zu einer kontrovers geführten wissenschaftlichen Diskussion über die Erinnerungspolitik – nicht nur der Bundesrepublik, sondern auch der DDR.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu Kittel, Manfred, Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutschen Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982), München 2007 (siehe auch meine Rezension: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-048).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch