D. Lederer: Madness, Religion and the State

Cover
Titel
Madness, Religion and the State in Early Modern Europe. A Bavarian Beacon


Autor(en)
Lederer, David
Reihe
New Studies in European History
Erschienen
Anzahl Seiten
361 S.
Preis
€ 79,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elena Taddei, Universität Innsbruck

Das vorliegende Werk macht sich auf die Suche nach den Wurzeln der modernen Psychologie und Psychiatrie im frühneuzeitlichen Europa am regionalen Beispiel Bayerns. Ursprünglich als Rekonstruktion eines lokalen Kultortes in Süddeutschland gedacht, einer Wallfahrtsstätte für die Heilung von Geisteskrankheiten, soll es jetzt Lücken in der Entwicklung des Umganges mit und der Behandlung von Geisteskrankheiten schließen. Bayern, eines der größten und (religions)politisch kompaktesten Länder des Heiligen Römischen Reiches, wurde zwischen 1579 und 1679 von drei für die Entwicklung der medizinischen Versorgung des Landes bedeutenden Fürsten regiert (Herzog Wilhelm V., Kurfürst Maximilian I. und Kurfürst Ferdinand Maria). Lederers Quellen sind neben den Verwaltungsakten, vor allem des Rentamts München, den Gerichtsakten und anderen Serienakten die Wunderbücher der beiden berühmtesten Wallfahrtsorte für Geisteskranke Bayerns, nämlich St. Anastasia in Benediktbeuern und Beata Alta in Pürten. In diesen Heilungs- oder Wunderbüchern wurden alle PilgerInnnen mit Namen, Herkunft, Leiden, Heilung und dem abgelegten Gelübde eingetragen.

Im einleitenden ersten Kapitel bringt Lederer einen Überblick über die medizinischen Lehrmeinungen der Zeit, über das Erkennen, Benennen und Erklären von psychischen Erkrankungen. Gleich in den ersten Zeilen wird der Schlüsselbegriff der „spiritual physic“ eingeführt: “In early modern Europe, one specific form of mental health care fell within the purview of the clergy. Known as spiritual physic […]. Above all, spritual physic aimed at restoring equilibrium on the souls of troubled individuals.” (S. 1) Was darunter zu verstehen ist, wird allerdings erst im Verlauf der folgenden Kapitel deutlich. Eine genauere Definition gleich zu Beginn wäre jedoch von besonderer Wichtigkeit gewesen, betont doch Lederer selbst (S. 3f.), dass hier die Wurzeln und das ideologische Fundament liegen, woraus die moderne Psychiatrie entstehen wird.

In der Folge werden die zeittypische Auffassung von „gesund“ und „krank“, „normal“ und „außerhalb der Norm“ und die entsprechenden medizinischen Erklärungsmodelle angeführt. Die bedeutendsten Merkmale des frühneuzeitlichen medizinischen Verständnisses sind die Untrennbarkeit von Seele und Körper und ihre notwendige gesamtheitliche Gesundheit. Daraus resultiert eine komplizierte Überlappung von klerikaler Autorität (medici spirituali) mit akademisch gebildetem und nicht akademischem Heilpersonal (medici corporali).

Die frühneuzeitliche Auffassung von „Irrsein“ ist eng mit der Sünde verbunden, während „heil“ semantisch mit „heilig“ verwandt ist. „Irrsein“ bedeutete, außerhalb der sozialen Ordnung zu stehen. Auch wenn mit dem 17. und 18. Jahrhundert die akademischen Ärzte bei der Heilung der erkrankten Seele die Oberhand gewannen, so ist der religiöse Aspekt aus der Wahrnehmung, Behandlung und Erklärung von Geisteskrankheiten bis heute nicht ganz verschwunden. Im 16. Jahrhundert wandten die vorrangig geistlichen „Seelenheiler“ verschiedene Behandlungen für die unterschiedlichen „Seelenqualen“ an – Beichte, Kommunion, Wallfahrt, Händeauflegen, Reliquienkult oder Exorzismus. Der Beichtvater wurde so zum „Seelenarzt“, einem Zuhörer, bei dem man sich Ängste, Sorgen und Beschwerden „von der Seele“ reden konnte. Als Ziel galt es, das humoralpathologisch konstruierte Gleichgewicht der vier Säfte, das auch durch eine Trübung der Moral oder die Sittenlosigkeit eines Menschen gestört werden konnte, wieder herzustellen. Diese Praxis wertete die Geistlichen im Zuge der Gegenreformation auf und diente der Bekämpfung von Aberglaube und Häresie, wozu auch das Instrument der Beichtzettel genutzt wurde.

Im zweiten Kapitel legt Lederer den Schwerpunkt auf die durch das Konzil von Trient revitalisierte Beichte als Mittel des Trostes und der Erleichterung, aber auch der sozialen Kontrolle. Während der Krisenzeit des Dreißigjährigen Krieges brachte die „Seelenheilung“ Hoffnung und Erleichterung für die häufig aufgrund von persönlichen, familiären oder finanziellen Problemen seelisch Erkrankten aller Gesellschaftsschichten, beider Geschlechter und jeder Altersgruppe. In dieser krisengeschüttelten Zeit der Religions- und Bürgerkriege fühlte sich die europäische Bevölkerung schuldig und suchte in seiner Angst vor dem Zorn Gottes nach Hilfe, die sie in den ermahnenden und tröstenden Worten der Geistlichen und in den ritualisierten Handlungen der Beichte fand. Es war der Beichtvater, der als erster die Anzeichen einer seelischen Erkrankung erkennen musste und gegebenenfalls andere Heilmittel wie die Wallfahrt, ein Gelübde oder – im extremsten Fall – einen Exorzismus empfahl. Die in Bayern besonders einflussreichen Jesuiten waren zum einen für das Volk als Seelentröster im Dienst und standen zum anderen den Herzögen selbst als spirituelle Berater und Beichtväter zur Seite.

Das dritte Kapitel legt den Fokus auf die Konstruktion einer regionalen Identität durch die „Bavaria Sancta“, ein von den Wittelsbachern patronisiertes Programm der Marien- und Heiligenverehrung, die das Aufkommen der beiden genannten Wallfahrtsorte ermöglichte. Die Pilgerfahrt war dabei nicht allein Buße, sondern auch die zweite Stufe in der Behandlung einer kranken Seele. Als das Phänomen der Pilgerreise im Laufe des 16. Jahrhunderts exponentiell zunahm, wurde es notwendig, von Seiten der Kirche diesen Gang zur Heilfindung zu organisieren. Dass die Wirtschaft mit der Berühmtheit der Wahlfahrtsorte florierte, ist bekannt. Allerdings brachten diese großen Bevölkerungsbewegungen auch Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Gewalt und Verbrechen mit sich.

Das vierte Kapitel, „Spiritual afflictions“, untersucht im Bewusstsein der methodologischen Probleme der Transferierung der beschriebenen Beschwerden und Symptome in unser heutiges medizinisches Erklärungsmodell und der Problematik der retrospektiven Diagnose die verschiedenen Typen von Seelenleiden, ihre Phänomenologie und ihre Behandlung. Lederer betont hier die Bedeutung des europäischen Vergleichs, wenn man mit solchen Kategorien arbeiten will, und spricht eines der momentan größten Probleme der Psychiatriegeschichte an, nämlich das der sprachlich und inhaltlich unterschiedlichen Definition sowohl von Diagnosen als auch von Verwahrungsorten (Heilanstalt, Pflegeanstalt, Asylum etc.). Die sechs vertretenen Kategorien der Geisteskrankheiten, die Lederer in diesem Kapitel einzeln ausführt, sind: madness (Wahnsinn/Irrsinn), somatic disorder (humorales Ungleichgewicht, Epilepsie), fear/terror (Furcht, Schrecken), affective disorders (Gemütskrankheiten), evil thoughts/demonic temptations (böse Gedanken, Verzweiflung), obsession/possession (dämonische Besessenheit) (S. 154).

Das fünfte Kapitel zeigt den Niedergang der übernatürlichen und das Aufkommen der pathologischen Erklärungsmodelle für seelische Störungen. Vor allem die Aufruhr verursachenden und vom Skeptizismus der Gesellschaftseliten in Frage gestellten Exorzismen fanden ab dem 18. Jahrhundert – wie die Hexenverfolgungen – selbst unter den Jesuiten keinen großen Anklang mehr, wenn sie auch nicht ganz verschwanden. Fürst, Staat und Behörde bemühten sich, alternative Strategien anzuwenden und unterstützen ein stärker säkularisiertes System der bürgerlichen, geistlichen und fürstlichen Versorgungshäuser zur Verwahrung von psychisch Kranken, wozu das bereits seit 1333 unter bürgerlicher Führung stehende Heiliggeist-Spital oder das St. Josephs- und das Elisabeths-Spital in München zählten. Wie Lederer im sechsten Kapitel zeigt, wird das „Problem“ der Geisteskrankheit, ebenso wie der Umgang mit Selbstmord aus Geistesverwirrung oder Teufelswerk, verstaatlicht. Die Politik des „Wegsperrens“ und des „Versperrens“, also des Gebrauchs von Ketten, die zum Symbol der „Irren“ werden sollen, hatte aber ihre Grenzen in den Kompetenzstreitigkeiten zwischen Stadt und Herzogtum, in Platzproblemen und Kosten und zeigte letztlich die Aussichtslosigkeit der staatlichen Bemühungen.

Was ist am Ende das Vermächtnis der frühneuzeitlichen „Seelenheilung“? Das siebte und letzte Kapitel bietet einerseits eine Rückschau, andererseits einen Ausblick auf das Zeitalter der Vernunft und die Gründung der ersten Kurfürstlichen Bayerischen „Irrenanstalt“ in Giesing, die, wie Lederer zeigt, nicht endgültig die „Seelenheilung“ verbannte. Selbst Sigmund Freud soll sich im Zuge seiner Arbeit über Dämonologie noch mit den bayerischen Beispielen und dem Phänomen der „Seelenheilung“ auseinandergesetzt haben.

Lederer ist eine gute Arbeit zum Beginn der Psychiatrisierung anhand eines regionalen Beispiels gelungen. Er versäumt es nicht, Ergebnisse anderer regionaler und überregionaler Studien vergleichend heranzuziehen. Die Entwicklung von der „Seelenheilung“ zur „Psychiatrie“ wird gut in das politische Geschehen, weniger erschöpfend auch in den mentalitätsgeschichtlichen Rahmen der Zeit eingeordnet, und wird durch die Einflechtung der „Fallgeschichten“ besonders lebhaft. Es bleibt jedoch die Frage, ob hier nicht wie sonst bei sensiblen Daten, trotz der zeitlichen Distanz, auch eine Anonymisierung der persönlichen Angaben der Betroffenen erforderlich gewesen wäre.

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