Titel
Makom. Orte und Räume im Judentum. Real. Abstrakt. Imaginär


Herausgeber
Kümper, Michal; Rösch, Barbara; Schneider, Ulrike; Thein, Helen
Reihe
Haskala. Wissenschaftliche Abhandlungen 35
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Malo, Universitätsbibliothek Stuttgart

„Makom. Ort und Orte im Judentum. Zur Bedeutung und Konstruktion von Ortsbezügen im europäischen Judentum“ war das Graduiertenkolleg des Studiengangs „Jüdische Studien“ an der Universität Potsdam betitelt, das vom Sommersemester 2001 an von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und vom Land Brandenburg gefördert wurde und im März 2007 ausgelaufen ist. Im Rahmen dieses Graduiertenkollegs wurden, so sein Sprecher, Julius H. Schoeps im „Grußwort“ des anzuzeigenden Bandes, circa vierzig Dissertationen und drei Habilitationen gefördert.

In dem vorliegenden Band werden 23 dieser Projekte in sehr kurzen, sprachlich durchweg gelungenen „Essays“ vorgestellt. Dies bedeutet, dass die Kernthesen der jeweiligen Qualifikationsschriften ohne großen wissenschaftliche Apparat, Diskussion des Forschungsstandes oder methodische Verankerung im jeweiligen Wissenschaftsfach vorgestellt werden. Durch den Essaycharakter der einzelnen Beiträge soll das Buch einer breiteren Öffentlichkeit als allein der fachwissenschaftlichen zugänglich gemacht werden. Ergänzt werden die Projektvorstellungen durch kurze thematisch verwandte Beiträge von Gastwissenschaftlern und ebenfalls in diesem Kontext Forschenden und Lehrenden. Durch die Idee, Promovierende und Promovierte, Habilitierte und bereits etablierte Wissenschaftler an diesem Projekt mitarbeiten zu lassen, weist die Leistungsschau des Graduiertenkollegs eine beträchtliche Vielfalt in der theoretischen Reichweite der einzelnen Ansätze und Beiträge auf. Dazu kommt die beträchtliche Spannbreite der fachlichen Disziplinen, aus denen sich die Beiträger dem von ihnen gewählten Gegenstand nähern. Neben dem überwiegenden geschichts- und literaturwissenschaftlichen Zugängen finden sich architekturhistorische, philosophische, politologische, soziologische und theologische Ansätze.

Nivelliert wird diese Breite durch die Entscheidung der Herausgeber, jedem Beitrag ein übergeordnetes „Schlagwort“ zuzuweisen, das die Reihenfolge der Beiträge festlegt: „Vorangestellt ist jedem Essay ein Schlagwort, das den Kern des behandelten Themas benennt und einen wichtigen Aspekt der jeweiligen Forschungsarbeit aufgreift. Die alphabetische Anordnung macht zum einen das Kaleidoskop dessen, was unter jüdischem Ort verstanden werden kann, sichtbar. Zum anderen weist sie auf unseren Wunsch hin, die Ortsbegriffe nicht zu hierarchisieren.“ (S. 9) Diese Entscheidung der Herausgeber ist höchst anfechtbar, rückt sie den Band seiner Anlage nach doch in die Nähe eines enzyklopädischen Werks, das zahlreiche Lücken aufweist (so fehlt zum Beispiel ein Beitrag zum Begriff „Konzentrationslager“, der lediglich im Aufsatz über „Zwischen-Orte“ von Anne Clara Schenderlein, S. 315 kurz gestreift wird 1). Zugleich wird vor allem bei denjenigen Essays, die unter ein abstraktes Schlagwort gestellt sind, die Frage aufgeworfen, warum sie unter dieses und nicht etwa unter ein anderes Schlagwort rubriziert worden sind – so fehlt z.B. das Schlagwort „Identität“, das in einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Beiträgen eine Schlüsselrolle spielt. Querverweise zwischen den Beiträgen existieren da, wo sich die Beiträge explizit auf ein anderes der gewählten Schlagworte beziehen.

Die verwendeten Schlagworte beziehen sich keinesfalls immer auf die in den Essays behandelten Orte, sondern reichen von völlig ortlosen Abstrakta eminenter theoretischer Reichweite wie „Gedächtnis“, „Sprache“ und „Öffentlichkeit“ über abstrakte Orte wie „Diaspora“, „Heimat“ oder „Utopie“ bis hin zu konkreten Orten wie „Friedhof“, „Lehrhaus“ oder „Schoagedenkstätte“. Die Herstellung des Zusammenhangs zwischen Schlagwort und Essay gelingt nicht allen Beiträgern in überzeugender Weise, vor allem nicht in denjenigen Fällen, in denen ein Begriff mit beachtlicher theoretischer Reichweite auf das zwangsläufig eher begrenzte Thema einer Dissertation trifft. Je konkreter und näher am eigentlichen Forschungsgegenstand die Schlagworte sind, desto aussagekräftiger sind auch die Begriffsdefinitionen.

Unter dem Schlagwort „Diaspora“ findet sich etwa der Beitrag von Lydia Fritzlar, der sich unter dem Titel „Lümpchen aber lebt noch! Diaspora als Kennzeichen moderner jüdischer Existenz im Schreiben Heinrich Heines“ mit der Umdeutung der „Diaspora“-Existenz von einer religiös begründeten und überhöhten Lebensform zu einem Charakteristikum des jüdischen Menschen unter den Bedingungen der sich konstituierenden Moderne bei Heine befasst: „So ist in den Texten Heines jüdisches Leben in der Diaspora nicht länger Ausdruck eines göttlichen Gebots, nicht mehr Zeichen der Auserwähltheit einer unterdrückten Minderheit. Diasporische Existenz ist vielmehr ein nackter Umstand der Geschichte, historischer Fakt, Ausdruck eines gegenwärtigen jüdischen Lebens.“ (S. 27) Die für ihre Arbeit notwendigen Begriffsklärung, die keinesfalls eine umfassende Begriffsdefinition und -geschichte inklusive sprachwissenschaftlicher Herleitung erfordert hätte, wäre im Argumentationsgang, etwa an der Stelle, wo von Heines säkularer Umdeutung der bis dahin im Judentum religiös konnotierten „Diaspora“-Metaphorik die Rede ist, stimmiger platziert gewesen als zu Beginn des Textes.

Dagegen gehen in Anja Kurths Beitrag „Schoagedenkstätten in Israel. Besondere Orte der Erinnerung“ Begriffsklärung und Gegenstand der Untersuchung eine enge Verbindung ein. Nach einer kurzen Definition erklärt die Verfasserin, wie sich die Schoagedenkstätte zu den üblichen Denkmalkonzeptionen (Erinnerung an positiv konnotierte Ereignisse) verhält. Daraufhin ordnet sie die Schoagedenkstätte in traditionelle jüdische Gedenkkonzepte ein und zeichnet die Diskussionen um dieses Gedenkstättenkonzept nach, das in großer räumlicher und zunehmender zeitlicher Distanz zum Geschehen funktionieren muss und sich an das traditionelle jüdische Konzept von Erinnerung anschließen lässt. „Am Beispiel dreier grundverschiedener Schoagedenkstätten“ (S. 206) kann sie dann die wesentlichen Gemeinsamkeiten dieses Konzepts – „die erstmalige Verknüpfung eines Museums, einer Begegnungsstätte, eines Studienzentrums und eines Denkmals an einem Ort“ (S. 213) – sowie die unterschiedliche Motivation ihrer Errichtung (privates – religiöses – zionistisches Gedenken) herausarbeiten.

Auch Anna-Dorothea Ludewig gelingt ein plausibler Übergang vom Terminus „Schtetl“ zum eigentlichen Gegenstand ihrer Arbeit: „Ghettogeschichte und deutsch-jüdischer Identitätsdiskurs im 19. Jahrhundert am Beispiel von Karl Emil Franzos“. In ihrem literaturgeschichtlichen Essay beschreibt die Autorin nach einem kurzen Überblick über das Genre der „Ghettoliteratur“ ihre spezifische Ausgestaltung bei Karl Emil Franzos, dessen Ghettogeschichten sich unter dem Einfluss des zunehmenden Antisemitismus der 1880er-Jahre und 1990er-Jahre in Deutschland veränderten. Die frühe Ablehnung der Lebensform im ostjüdischen Schtetl und die Verherrlichung der Akkulturation weicht allmählich einem vertieften Verständnis des Chassidismus und Franzos gesteht den Ostjuden „das Recht auf einen eigenen Weg aus ihrer ‚selbstverschuldeten Unmündigkeit’ zu, einen Weg, der nicht mehr länger ausschließlich bestimmt ist von der Vorstellung einer heilbringenden deutschen Kultur.“ (S. 220)

Diese beliebig herausgegriffenen Beispiele stehen stellvertretend für die insgesamt dreißig Beiträge, die der Rezensent – das sei hier noch einmal betont – durchweg mit Gewinn gelesen hat. Gerade die Vielfalt der in diesem Band versammelten Disziplinen und Themen eröffnet allgemein verständliche Einblicke und Perspektiven auf – in Abhängigkeit von der Sozialisation des Lesers – teils bekannte, teils unbekannte Forschungsgegenstände. Dieser Eindruck wird auch durch die oben skizzierten Mängel nicht geschmälert.

Anmerkung:
1 Schenderlein lehnt das Konzentrationslager wie auch das Gefängnis als jüdische Orte ab, weil sich hier „die Juden nicht freiwillig hineinbegeben“ (S. 315) hatten. Diese Beobachtung ist zwar richtig, trifft aber natürlich auf eine ganze Menge anderer Orte dieses Bandes – einschließlich ihrer Zwischenorte, die ja alle in der Diaspora liegen – ebenfalls zu, rechtfertigt also ihre Entscheidung in keiner Weise.

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