H. A. Winkler: Auf ewig in Hitlers Schatten?

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Titel
Auf ewig in Hitlers Schatten?. Anmerkungen zur deutschen Geschichte


Autor(en)
Winkler, Heinrich August
Erschienen
München 2007: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Heinrich Pohl, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Heinrich August Winkler gehört zweifellos zu denjenigen Historikern, die mit ihren innovativen methodischen Ansätzen, ihrem umfangreichen Œuvre und ihrer langjährigen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Tätigkeit den Weg der deutschen Geschichtswissenschaft maßgeblich beeinflusst haben. Seit der Herausgabe des wegweisenden Sammelbandes „Organisierter Kapitalismus“1 zählt Winkler zu den wichtigsten Vertretern eines sozialhistorischen Ansatzes. Immer hat er versucht – und damit unterscheidet er sich von vielen Kollegen –, auch die außeruniversitäre Öffentlichkeit mit seinen historischen Erkenntnissen und Positionen bekannt zu machen. Er ist damit dem selbstgestellten Postulat der Sozialhistoriker, auch über die akademische Welt hinaus aufklärerisch wirken zu wollen, (mit) am weitesten nachgekommen.

Nun ist Winkler emeritiert worden, und dies hat ihn offensichtlich inspiriert, historiographisch Bilanz zu ziehen. Mit dem neuen Sammelband, der aus 20 bereits publizierten Beiträgen besteht und sich in seinem Untertitel an einen berühmten Titel Sebastian Haffners anlehnt2, hat Winkler einen Querschnitt seiner Tätigkeit vorgelegt, der sich von 1978 bis heute erstreckt. Der Schwerpunkt liegt jedoch deutlich auf den letzten 15 Jahren; nur ein einziger Beitrag datiert aus den 1970er-Jahren, und nur drei stammen aus der Mitte der 1980er-Jahre. Insgesamt handelt es sich fast ausnahmslos um Artikel aus Wochen- und Tageszeitungen, die „sich ganz bewusst an ein breiteres, historisch interessiertes Publikum, also nicht nur an Fachleute“ richten (S. 9). Damit betont Winkler unmissverständlich, dass er sich auch – vielleicht sogar in erster Linie – als historischer Publizist versteht. Und in der Tat: Winkler hat sich nicht nur wissenschaftlich mit Geschichtspolitik beschäftigt, sondern er hat – und in den letzten Jahren besonders intensiv – selbst Geschichtspolitik „gemacht“.

Wie viele Historiker seiner Generation ist auch Winkler vor allem von der Frage nach einem „deutschen Sonderweg“ und dessen Ursachen umgetrieben worden. Er hat immer wieder und mit verschiedenen Zugriffen nach Erklärungen gesucht, warum gerade in Deutschland der Aufstieg eines solch gewalttätigen Unrechtssystems möglich war, wie es der Nationalsozialismus darstellte. Schwerpunkte von Winklers Forschungen stellen das Kaiserreich, die Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus und die Auseinandersetzungen mit ihm dar (ein Beitrag über den Nationalsozialismus selbst fehlt im vorliegenden Band allerdings). Mehr als die meisten seiner Kollegen hat Winkler betont, wie entscheidend in diesem Kontext die Abwendung Deutschlands von westlichen Traditionen gewesen sei.

In dem chronologisch angeordneten Band erstreckt sich der Gegenstandsbereich der Beiträge über mehr als zwei Jahrhunderte. Die Artikel reichen von der Auseinandersetzung mit Preußen und seiner Geschichte über die Revolution von 1848, das Ende des Kaiserreiches und die Begründung der Weimarer Republik, die Beschäftigung mit dem Scheitern von Weimar bis hin zu Fragen der Nachkriegsgeschichte und vor allem zu Problemen des Umgangs mit dem Nationalsozialismus, umfassen also auch das, was wir heute als Geschichtspolitik bezeichnen. Historische Fluchtpunkte stellen für Winkler die Jahre 1933, 1945 und schließlich auch 1989/90 dar. Der zentrale Aspekt, um den sich seine Gedanken in erster Linie drehen, ist jedoch die Auseinandersetzung mit dem Holocaust als dem wichtigsten Ereignis der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Unter diesem Gesichtspunkt ist die eher lockere Anbindung einzelner Essays an den Titel des Bandes verzeihlich.

Alle Beiträge zeigen Winkler als einen profunden Kenner der deutschen und europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus gelingt es ihm in hohem Maße, seine wissenschaftlichen Positionen so klar und überzeugend darzustellen, dass sie ein gebildetes Publikum jenseits der akademischen Geschichtswissenschaft zu erreichen vermögen. Dass sein Historikerherz dabei „links“ schlägt (oder muss man, auf die Gegenwart bezogen, lieber „linksmittig“ sagen?), verhehlt er an keiner Stelle. Das Wertesystem, von dem aus er argumentiert, steht zweifellos dem der (gemäßigten) Sozialdemokratie nahe und hat sich, wie aus diesen Beiträgen zu erkennen ist, in 30 Jahren relativ wenig verändert. Insofern kann man – wenn man das Argument anders wendet – auch von einem gewissen Konservatismus Winklers sprechen.

Ähnliches zeigt sich auch bei seinem geschichtswissenschaftlichen Vorgehen. Mochte die Sozialgeschichte in den 1970er-Jahren noch als geradezu revolutionär gelten, wo sie sich deutlich von der klassischen Politikgeschichte absetzte, weil sie bereit war, theoretisch zu argumentieren und die weiterführenden Ansätze anderer Disziplinen auch fächerübergreifend aufzunehmen, so vermisst man bei den in diesem Band publizierten Beiträgen die intensive Aufnahme neuerer Ansätze in die eigene Argumentation – etwa Ansätze der Kulturgeschichte oder der postmodernen Kritik. Winkler bleibt sich auch methodisch über 30 Jahre weitgehend treu. Dies fällt umso mehr auf, als er gegenüber seinen eigenen Grundwerten durchaus zu scharfer Kritik in der Lage ist. Er ist auf seinem „sozialdemokratischen Auge“ keineswegs blind. So findet er mit einer Reihe starker – und abgewogen diskutierter – Gründe zwar überzeugende Erklärungen dafür, warum es 1918/19 in Deutschland keine „große Revolution“ gab und man den Sozialdemokraten deswegen nicht nur Versagen zuschreiben könne. Gleichzeitig rechnet er jedoch mit der Partei schonungslos ab, wenn es darum geht, ihr den fehlenden moralischen Bruch mit dem Kaiserreich vorzuhalten, ein für Winkler „historischer Fehler“, der nicht nur die Partei, sondern das gesamte Weimarer System schwer belastet habe. Innerhalb dieser Thematik gelingt es ihm zugleich, ähnlich wie bei seiner Deutung der Problematik des Jahres 1923, Aspekte in den Mittelpunkt seiner Argumentation zu rücken, die selbst der Kenner so bislang kaum gesehen und erkannt hat. Kurzum: Winkler gelingt es in seinen Essays immer wieder, scheinbar ausdiskutierten Problemen neue Aspekte abzugewinnen sowie diese auch plastisch und anschaulich darzustellen.

Zusammengefasst ist Winklers Wirken als Historiker einerseits durch (gemäßigte) sozialdemokratische Maßstäbe und andererseits „den“ Westen und dessen Wertekanon abgesteckt. Damit machte er sich mehrfach politisch angreifbar – und ist auch angegriffen worden. Die Definition und die Auseinandersetzung mit diesen „westlichen“ Werten durchziehen nicht nur den Sammelband; sie finden schließlich auch ihren Fluchtpunkt in Winklers den Band abschließender Abschiedsvorlesung vom Februar 2007. In ihr zeichnet er ein „westliches Ideal“, das er zwar auch kritisch beleuchtet, bei dem es aber ein wenig an der scharfen Kritik fehlt, die er seinem anderen „Idealgeber“, der Sozialdemokratie, so reichlich zuteil werden lässt. Sollte der Sozialgeschichtler Winkler – so fragt man sich unwillkürlich – doch noch zu einem Ideengeschichtler mutiert sein und über den „Niederungen“ der Sozialgeschichte schweben?

Fazit: Man kann diesen Sammelband uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen. Wer sich der Mühe nicht unterziehen mag, Winklers Werke im Einzelnen zu studieren, wird durch die hier veröffentlichten Essays sicherlich auf den Geschmack kommen – und dann doch noch interessiert auf die umfangreicheren Studien zugreifen.

Anmerkungen:
1 Winkler, Heinrich August (Hrsg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974.
2 Haffner, Sebastian, Anmerkungen zu Hitler, Frankfurt am Main 1978.

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