R. L. Braham (Hrsg.): A magyarorszagi Holokauszt földrajzi enciklopedaja

Titel
A magyarországi Holokauszt földrajzi enciklopédája. Geographische Enzyklopädie des Holocaust in Ungarn


Herausgeber
Braham, Randolph L.
Erschienen
Budapest 2007: Park Könykiadó
Anzahl Seiten
1590 S.
Preis
HUF 19.500
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz Horváth, University of Southampton

Entstanden ist diese dreibändige, mit dem Bestimmungswort „geographisch“ versehene Enzyklopädie des Holocaust in Ungarn unter der Leitung von Randolph L. Braham, der selbst Autor mehrerer Dutzend Werke über den Holocaust und seine Folgen in Ost- und Ostmitteleuropa ist. Als Verfasser der einzelnen Artikel konnten namhafte Spezialisten der ungarisch-jüdischen Geschichte und des Holocaust in Ungarn gewonnen werden (z.B. Szabolcs Szita, Zoltán Vági). Die ersten beiden Bände enthalten eine flüssige, sich auf das Wesentliche konzentrierende Darstellung des Holocaust in Ungarn (in den Grenzen von 1944) sowie Artikel zu jedem Ort und Komitat (Verwaltungseinheit), wo es Verfolgungen und Deportationen gegeben hat. Im dritten Band findet der Leser eine umfangreiche Bibliographie, ein „Wörterbuch“ zur Erklärung jüdischer und hebräischer Begriffe bzw. Institutionen, eine Zeittafel zur Geschichte der Juden in Ungarn zwischen 1867 und 2006 und schließlich ein Namens- und Ortsregister.

Die Enzyklopädie kann angesichts der Unmenge dargebotener Details nur kurz vorgestellt werden, wobei das Augenmerk auf dem Einleitungstext und einigen ausgewählten Beiträgen liegen wird. Ersterer stammt von Braham, dessen 1981 erschienenes zweibändiges Werk über den Holocaust in Ungarn Maßstäbe gesetzt hat.1 Sein Überblick skizziert die Hauptlinien der jüdisch-ungarischen Beziehungen von 1867 bis zur Befreiung Ungarns und dies ohne einen Anmerkungsapparat oder auf Forschungskontroversen einzugehen. Stattdessen widmet er sich ausführlich der Lage der jüdischen Gemeinde (fast 800.000 Menschen) während des Krieges, ihrer Entrechtung, Ghettoisierung und Deportation. Brahams Ausführungen erfüllen nicht alle Erwartungen, die an eine Einleitung gestellt werden können. Zwar konzentriert er sich auf die Rekonstruktion der Ereignisse unter Berücksichtigung der Opferperspektive, dies jedoch weitgehend unbeeinflusst von neueren Ansätzen der Holocaustforschung, die den sozialpolitischen, und volkswirtschaftlichen Bezug der Judenpolitik betonen.2 In den letzten Jahren sind zudem explizit den Holocaust in Ungarn behandelnde Monografien erschienen, die herausarbeiteten, wie groß das Interesse sowohl der ungarischen Regierungsstellen als auch der Bevölkerung vor Ort am Vermögen, an der Enteignung und auch an der Entfernung der Juden aus dem städtischen Raum gewesen war.3

Der von Braham benutzte Begriff der „Goldenen Ära“ (Bd. I., S. 7) zur Beschreibung der jüdisch-ungarischen Beziehungen nach 1867 scheint angesichts dieser Forschungsergebnisse zu plakativ und überholt, da er das Aufkeimen eines modernen christlich-katholischen Antisemitismus in Ungarn nach 1880 zu eindeutig überdeckt.4 Schließlich wäre das Aufgreifen der Täterforschung auch im Falle Ungarns (wie dies ansatzweise bereits geschah5) bestimmt fruchtbar gewesen.

Doch wie sehen die alphabetisch geordneten Artikel zu den einzelnen Komitaten und Ortschaften aus? Jedem Komitatsartikel ist zuerst eine kurze Einleitung vorangestellt, in der die regionale Geschichte der jüdischen Bevölkerung eher allgemein nachgezeichnet wird. Darauf folgen in Qualität und Quantität unterschiedliche Beiträge zu Dörfern, größeren Orten und Städten. Die Autoren haben Lexika, Ortsmonographien, nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Gedenkbücher über die lokalen jüdischen Gemeinden (so genannte Jizkor-Bücher) sowie mehr oder weniger umfangreich wissenschaftliche Literatur ausgewertet. Bei kleineren Orten begnügten sie sich zumeist damit, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten nachweisbare Größe der jeweiligen Gemeinde aufzuführen, eventuell ihre Ausrichtung zu erwähnen (Reform-, Status Quo oder chassidische Gemeinde) und das Datum der Transporte in das jeweils nächstgelegene Ghetto mitzuteilen. Im Falle größerer Städte nehmen die Artikel teilweise den Umfang von Aufsätzen an.6 Die unterschiedlichen Akzentsetzungen in den jeweiligen Artikeln legen den Eindruck nahe, dass die Autoren in ihrer Arbeit weitgehend freie Hand hatten. So berücksichtigen Szita und Löwy in einem stärkeren Maße das Verhalten der christlichen (ungarischen, rumänischen oder siebenbürgisch-sächsischen) Bevölkerung während der Verfolgungen, als dies Tibori Szabó tat. Dieser setzt sich jedoch kritisch mit dem Verhalten jüdischer Gemeindevorsteher in Klausenburg auseinander, was die beiden ersteren unterlassen. Einige Autoren gehen auch auf die Entstehung der lokalen jüdischen Gemeinden ein, und schildern den Aufbau (oft auch die Spaltung) von Vereinen und Institutionen (Synagogen, Bäder, Wohltätigkeits- und Bestattungsvereine usw.).

Da es sich beim vorliegenden Werk um eine geografische Enzyklopädie handelt, wäre es interessant gewesen zu erfahren, inwieweit die jüdischen Einrichtungen zentral oder peripher (abseits und abgesondert), in besseren oder in eher anrüchigen Stadtteilen gelegen haben. Hieraus ließen sich Rückschlüsse auf ihre Akzeptanz und Eingliederung ins Stadtbild sowie in die Gesellschaft ziehen (oder auf „typische“ Straßenzüge, wie sie etwa aus Polen bekannt sind). Die Aufzählung der wichtigsten Persönlichkeiten, Schulen, Sportvereine, Krankenhäuser, Geschäfte oder Fabriken verdeutlicht die große Rolle der Juden in der ungarischen Gesellschaft. Das Gros der Artikel klingt mit Betrachtungen über den Schwund der übrig gebliebenen jüdischen Gemeinden aus. (Im heutigen Ungarn konzentriert sich die Gemeinde weitgehend auf Budapest; aus den heute zu Rumänien, der Slowakei und Serbien gehörenden Städten sind die Juden fast restlos ausgewandert).

Bei der Darstellung des Holocaust im lokalen Rahmen scheint in manchen Artikeln dessen volkswirtschaftliche Dimension auf, so etwa wenn Dániel Löwy im Artikel über Großwardein Péter Hain zitiert. Dieser freute sich im Sommer 1944, in seiner Eigenschaft als Chef der „ungarischen Gestapo“7 darüber, dass nach den Enteignungen und dem Foltern in den Ghettos alleine in Großwardein 41 Millionen Goldpengő „wieder“ in den Besitz der ungarischen Gesellschaft gelangte. Teilweise blitzt auch die Täterdimension auf, wenn Löwy und Tibori Szabó einzelne Personen benennen, die sich 1944 besonders brutal verhielten und dafür nach dem Krieg langjährige Haftstrafen erhielten. Das geografische Element der Enzyklopädie wäre aber stärker hervorgetreten, wenn die Autoren das Verhalten der ungarischen Bevölkerung und Politiker in den ehemals zu Rumänien und zur Tschechoslowakei gehörenden Städten vor und nach ihrer Rückgliederung an Ungarn (1938 bzw. 1940) miteinander verglichen hätten. Wie z.B. verhielten sich die ungarischen Lokalpolitiker in eigener Minderheitensituation den Juden gegenüber, als sie Gleichberechtigung und Minderheitenrechte für ihre Ethnie forderten und was änderte sich in ihrer späteren Rolle als Vertreter der ungarischen Staatsmacht? Dies ist keine rhetorische Frage. Bedenkt man allein, wie sich der aus den ehemals tschechoslowakischen Gebieten stammende und dort in der Zwischenkriegszeit als führender ungarischer Politiker tätige Andor Jaross 1944 als Innenminister in der Sztójay-Regierung aktiv an der Judenverfolgung beteiligte, wofür er 1946 als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde.

Kritische Erwägungen wie diese schmälern freilich den Wert der Enzyklopädie genauso wenig wie die Anmerkungen zur Einleitung. Sie sollten vielmehr aufzeigen, dass der Holocaust in Ungarn trotz der in den letzten Jahren gewachsenen Zahl an Veröffentlichungen neue Fragen aufwirft, wenn man Ansätze und Ergebnisse der westlichen Forschung berücksichtigt. Die vorliegende Enzyklopädie wird künftig vor allem bei der Erstellung von Lokalstudien als unverzichtbares Referenzwerk dienen. Dazu werden nicht zuletzt die vielen Fotos und qualitativ hochwertigen farbigen Karten beitragen, die jedem Kapitel über die einzelnen Komitate vorangestellt sind und die Größe der Gemeinden, die der Ghettos und Sammellager sowie die Deportationsrouten samt der Anzahl der Zugtransporte abbilden. Es bleibt somit zu hoffen, dass die Enzyklopädie möglichst bald auch in einer der Weltsprachen einer internationalen Leserschaft zugänglich gemacht wird.

Anmerkungen:
1 Braham, Randolph L., The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary, 2 Bde., New York 1981 (1991).
2 Aly, Götz, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005.
3 Gerlach, Christian; Aly, Götz, Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden 1944-1945, Frankfurt am Main 2004; Kádár, Gabor; Vági, Zoltán, Self-financing Genocide. The Gold Train, the Becher Case and the Wealth of the Hungarian Jews, Budapest 2004.
4 Nicht von ungefähr lautet der Untertitel eines vor kurzem erschienenen Sammelbandes über die ungarischen Juden in der betreffenden Periode „Erfolg und Krise“, vgl. László Varga (Hg.), Zsidóság a dualizmus kori Magyarországon. Siker és válság [Das Judentum im dualistischen Ungarn. Erfolg und Krise), Budapest 2005; Fischer, Rolf, Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn 1867-1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Symbiose, München 1988 (Südosteuropäische Arbeiten 85); Gyurgyák, János, A zsidókérdés Magyarországon. Politikai eszmetörténet (Die Judenfrage in Ungarn. Eine politische Geistesgeschichte), Budapest 2001.
5 Kádár/Vági, Self-financing Genocide, S. 39f., 42, 50-52.
6 Besonders gelungen: Győr/Raab (Szabolcs Szita, Bd. I., S. 478-482); Nagyvárad/Großwardein – (Dániel Löwy, Bd. I., S. 323-334); Kolozsvár/Klausenburg – (Zoltán Tibori Szabó. Bd. I., S. 595-613).
7 Szita, Szabolcs, A Gestapo Magyarországon. A terror és a rablás történetéből (Die Gestapo in Ungarn. Aus der Geschichte des Terrors und des Raubes), Budapest 2002, S. 160-179.

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