B. Bleckmann: Fiktion als Geschichte

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Titel
Fiktion als Geschichte. Neue Studien zum Autor der Hellenika Oxyrhynchia und zur Historiographie des vierten vorchristlichen Jahrhunderts


Autor(en)
Bleckmann, Bruno
Reihe
Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Philologisch-Historische Klasse 3. Folge 277
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
154 S.
Preis
€ 68,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Walter, Universität Bielefeld

Bruno Bleckmann hat seiner Studie – ob mit Absicht, wird nicht gesagt – den gleichen Titel gegeben, den Glen Bowersocks ambitioniertes, aber auch ratlos machendes Buch über die Zunahme an Fiktionalität in der kaiserzeitlichen Prosaliteratur zwischen Nero und Julian trägt („Fiction as History“, Berkeley 1994). An einen Zufall mag man indes nicht glauben, denn Bleckmann bezieht in der Fiktionalitäts- und Methodendebatte zur antiken Historiographie klar Position: Er hält nichts von der diskursanalytischen Nacht, in der alle Katzen grau und alle Werke, gleich ob von Meistern oder mediokren Gestalten, gleichermaßen Texte sind. Wer möglichst genau wissen möchte, was tatsächlich geschehen ist, komme nicht darum herum, jeden Strang der Überlieferung und jedes mitgeteilte Detail quellen- und sachkritisch streng zu prüfen. Zwischen der Faktenebene und den historiographischen Berichten bestehe ein Zusammenhang, der nicht „der reinen Willkür, der Befindlichkeit und der Laune des einzelnen Historikers überlassen werden“ dürfe (S. 10f.). Angesichts der vergleichsweise geringen Komplexität antiker Ereignis- und Handlungszusammenhänge böten von Historiographen wie Thukydides und Polybios etablierte Qualitätskriterien wie etwa Autopsie, Zeugenbefragung und Quellenstudium durchaus eine gewisse Gewähr für einen sachgerechten und der Wahrheit nahekommenden Bericht.

Anzuzeigen ist in der Sache eine Fortsetzung von Bleckmanns Habilitationsschrift über die letzte Phase des Peloponnesischen Krieges.1 Wie dort sucht er zu zeigen, dass Xenophon und die Tradition, die auf die ‘Hellenika von Oxyrhynchos’ zurückgeht und uns zum kleineren Teil durch Papyrusfragmente dieser Schrift, zum größeren durch Diodor, Plutarch und Justin greifbar ist, nicht zwei heuristisch gleichberechtigte Quellen darstellen. Vielmehr habe der Autor der Hellenika Oxyrhynchia keine unabhängige Kenntnis der Vorgänge gehabt, sondern lediglich Xenophons Bericht durch gezielte Veränderungen, Vertauschungen, Versetzungen und Aufblähungen willkürlich umgestaltet und so den Eindruck einer thukydideischen Exaktheit und Durchdringung zu erwecken gesucht. Bleckmann schließt sich eng an eine heute weitgehend vergessene Studie von Georg Busolt an 2 und wendet sich kritisch gegen die Praxis, entweder der Hellenika Oxyrhynchia den Vorzug zu geben oder unvereinbare Traditionen zu harmonisieren, wie es besonders in Gesamtdarstellungen nicht selten geschehe.

Die „Technik des verfälschenden Zitats“ (S. 21) wird dann in instruktiver Weise an Ktesias’ Umgang mit Herodot demonstriert. Fremdes Material frei zu variieren und mit pseudo-exakten Angaben zu garnieren, um den Eindruck einer unabhängigen Autorität zu erwecken, wurde von antiken Gelehrten auch den Geschichtsschreibern Ephoros und Theopomp vorgeworfen (Eus. Praep. Ev. 10,2,2-11; S. 30f. und 32f. in Übersetzung). Bleckmann sucht auf dieser Grundlage im Hauptteil seiner Studie mit einem Stoß zwei Kugeln zu versenken: Die Hellenika Oxyrhynchia sei genau ein solches spätes und sekundäres Werk, und ihr Autor höre auf den Namen Theopomp. Durchexerziert wird der Quellenvergleich an der Anfangsphase des Korinthischen Krieges. Plausibel kann Bleckmann zeigen, wie unter dem Einfluss der athenischen Publizistik Konons Sieg bei Knidos eine Bedeutung erlangt, die Xenophon ihm noch nicht zugemessen hatte (Kapitel II). Der bei Diodor greifbare Schlachtbericht weise alle Spuren der angenommenen Variations- und Aufhöhungstechniken des Autors der Hellenika Oxyrhynchia auf.

Kapitel III behandelt den böotischen Teil des Korinthischen Krieges. Hier suchte der Autor der Hellenika Oxyrhynchia Bleckmann zufolge, in einer Rückschau aus den 360er/350er-Jahren v.Chr. den idealisierenden Eindruck einer einstigen „blockhaften innerböotischen Geschlossenheit“ (S. 68) zu erwecken, während Thukydides für das ausgehende 5. Jahrhundert v.Chr. starke Spannungen zwischen der Hegemonialmacht Theben und einigen Bundesmitgliedern konstatierte und Xenophon mal „die Thebaner“, dann wieder „die Böoter“ nannte, wenn er den Böotischen Bund meinte, da ihm die Unterscheidung zwischen Bundesorganen und Hegemonialmacht nicht so wichtig und in dem von ihm behandelten Zeitraum ohnehin Theben die dominante Macht war. Die Forschung über die griechischen Bundesstaaten wird an Bleckmanns Herabstufung der vielbehandelten Darstellung des (ersten) Böotischen Bundes in der Hellenika Oxyrhynchia zu einem Stück Tendenzhistoriographie zu arbeiten haben.

Die Mission des Rhodiers Timokrates, der nach Griechenland entsandt wurde, um dort die antispartanische Stimmung durch Geldzahlungen anzustacheln und möglichst eine ‘zweite Front’ zur Entlastung der bedrängten persischen Macht in Kleinasien zu schaffen, ist Thema von Kapitel IV. Hier geht es in erster Linie um Fragen der Chronologie, die in diesem Fall von Xenophon und der Hellenika Oxyrhynchia verdreht worden sei: Keineswegs habe das persische Geld den Korinthischen Krieg ausgelöst, sondern nur die bereits begonnenen Rüstungen finanzieren sollen. – Dem kleinasiatischen Feldzug des Agesilaos im Jahr 395 v.Chr. ist Kapitel V gewidmet. Hier biete die Hellenika Oxyrhynchia gegenüber dem echten Augenzeugen Xenophon, der die Dinge gerade aus diesem Grunde ungleichgewichtig und eher schlaglichtartig als umfassend erinnerte, eine Pseudo-Autopsie mit vielen exakten Angaben, die aber aus geographischer Literatur entnommen seien.

In seiner Bilanz „Zur Geschichte der Geschichtsschreibung nach Thukydides“ (Kapitel VI) spitzt Bleckmann ein durchaus bekanntes Deutungsmodell zu: Von der einsamen Höhe des Wahrheitsanspruches und der strengen Methode eines Thukydides sei die griechische Geschichtsschreibung sehr rasch herabgesunken („Epoche der Dekadenz“, S. 133; „fatale[r] Sündenfall“, S. 143).3 In Wirklichkeit habe es gar keine wirklichen Fortsetzer des Thukydides gegeben. Xenophon habe das gar nicht sein wollen oder können: Zwar habe er wie dieser Staaten- und Kriegsgeschichte geschrieben, doch deutlich weniger auf eine gleichmäßige Behandlung der wichtigsten Phänomene abgezielt, sondern sich weit stärker der Subjektivität hingegeben – heuristisch durch den Akzent auf Selbstgesehenem und Berichten weniger ausgewählter Zeugen, in der Interpretation durch einen deutlich erkennbaren politischen Standpunkt (gemäßigt pro-spartanisch, entschieden anti-thebanisch). Erst der Verfasser der Hellenika Oxyrhynchia sei mit Thukydides in einen Meister-Wettbewerb getreten, habe aber keine breiten Recherchen mehr anstellen können (oder wollen) und deshalb einfach Xenophons Skizzen und Gemälde benutzt, verändert und mit den Instrumenten der rhetorischen ‘amplificatio’ aufgeblasen. Dieser Autor sei mit Theopomp zu identifizieren, dessen ‘Hellenika’ in der Antike genau für die Züge kritisiert worden seien, die Bleckmann zuvor für die Hellenika Oxyrhynchia herausgearbeitet hat.

Was bleibt, wenn wir Bleckmann folgen? Wer an der pragmatischen Geschichte in den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts v.Chr. interessiert ist, hat es jetzt schwerer, weil eine bisher als wertvoll angesehene Quelle und die ganze von ihr abhängende Tradition ihren Wert verloren hat, aber auch leichter, weil er die Geschichte jetzt nur noch anhand einer einzigen literarischen Quelle (und der Urkunden natürlich) schreiben muss. Ob aber Thukydides und Polybios auf den Sockel „wissenschaftlicher Geschichtsschreibung“ (S. 144) zurückzustellen sind, erscheint mir sehr viel fraglicher – durch Komposition, Dramatisierung, subtile Sinnvermutungen und Techniken, die wir nach wie vor als fiktional betrachten sollten (wie die Reden bei Thukydides), haben sie zur Bestimmung dessen, was gute Geschichtsschreibung ist, ebenso viel beigetragen wir durch ihre methodologische Strenge und Innovationskraft. Verfallsklagen über ihre Nachfolger weisen daher meines Erachtens in die falsche Richtung.

Anmerkungen:
1 Bleckmann, Bruno, Athens Weg in die Niederlage. Die letzten Jahre des Peloponnesischen Kriegs, Stuttgart u.a. 1998; s. dazu Rez., in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.03.1999, S. 55.
2 Busolt, Georg, Der neue Historiker und Xenophon, in: Hermes 43 (1908), S. 255–285.
3 So auch schon Felix Jacoby in einem einflussreichen Aufsatz: Griechische Geschichtsschreibung, in: Die Antike 2 (1926), S. 1–29, hier S. 24ff. (= Abhandlungen zur griechischen Geschichtsschreibung, Leiden 1956, S. 73–99, hier S. 95ff.).

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