H. Biermann: Kleindeutsche Liberale und auswärtige Politik

Titel
Ideologie statt Realpolitik. Kleindeutsche Liberale und auswärtige Politik vor der Reichsgründung


Autor(en)
Biermann, Harald
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 146
Erschienen
Düsseldorf 2006: Droste Verlag
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerret Liebing Schlaber, Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig

Der deutsche Liberalismus im 19. Jahrhundert mit seiner entscheidenden Bedeutung für die Einigung des deutschen Staatsverbands ist von jeher ein viel beachtetes Thema in der Geschichtsforschung gewesen. Doch ein wichtiger Aspekt wurde bislang stark vernachlässigt: die außenpolitischen Vorstellungen der (National-)Liberalen in den drei entscheidenden Jahrzehnten vor der Reichsgründung 1871. Diesem Themenbereich hat sich nun Harald Biermann in seiner Habilitationsschrift angenommen.

Biermann widmet sich in seiner Studie den außenpolitischen Vorstellungen und Sichtweisen der kleindeutsch-orientierten Liberalen im Zeitraum zwischen der Revolution von 1848, die zu einer Politisierung weiter Teile der Bevölkerung geführt hatte, und der Gründung des Deutschen Reichs 1871, durch welche die deutsche Einheit nach dem „kleindeutschen“ Konzept unter Ausschluss der Habsburger Monarchie vollzogen wurde. Den Schwerpunkt legt er dabei auf die außenpolitischen Gedankenwelten der liberalen Führungspersönlichkeiten, die in dieser Zeit die politische Arbeit der nationalliberalen Bewegung wesentlich getragen oder durch ihr publizistisches Wirken wesentlich beeinflusst haben. Hierzu zählen unter anderem Johann Gustav Droysen, Rudolf von Bennigsen, Heinrich von Sybel, Karl Twesten, Gustav Diezel und August Ludwig von Rochau. Die Korrespondenzen und die Veröffentlichungen dieser Männer und einiger ihrer Gesinnungsgenossen bilden die quellenmäßige Grundlage der Studie. Da diese Personen aus verschiedenen politischen Strömungen und verschiedenen Staaten des Norddeutschen Bundes stammten und die Nationalliberalen eine wichtige Bedeutung für die Gründung des Nationalstaats hatten, ergibt sich eine recht breite Basis für die Untersuchung. Den Nachteil, dass bei dieser Vorgehensweise Liberale aus den süddeutschen Staaten und Österreich nicht berücksichtigt werden, gleicht Biermann durch einen im Hauptteil platzierten Exkurs über die süddeutschen „Preußenfreunde“ aus.

Der Hauptteil ist in acht Kapitel und den besagten Exkurs gegliedert. Harald Biermann geht bei seiner Analyse weitgehend chronologisch vor, so dass etwaige Änderungen in der außenpolitischen Vorstellungswelt der Nationalliberalen, aber auch Einflüsse durch neue Strömungen von außen und vor allem durch aktuelle außenpolitische Ereignisse – und das waren namentlich die zahlreichen Kriege – sichtbar werden. So dienen die Revolution von 1848, der Krimkrieg 1853-56, der Krieg in Oberitalien 1859, der Deutsch-Dänische Krieg 1864 (mit deutlich herausgearbeitetem Bezug zum Bürgerkrieg um das Herzogtum Schleswig 1848-50), der innerdeutsche Krieg 1866 und schließlich der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, an dessen Ende die Vollendung der von den meisten Liberalen gewünschten Reichseinheit unter preußischer Führung stand, als Marksteine in Biermanns Untersuchung.

Tatsächlich spielte Kriegspolitik eine wesentliche Rolle in der außenpolitischen Gedankenwelt der meisten nationalliberalen Vordenker. Sie glaubten daran, dass die von ihnen verfochtenen bürgerlichen Freiheiten nur in einem einheitlichen Deutschland verwirklicht werden konnten – und dass die erstrebte Einheit nur durch einen großen Krieg zu verwirklichen sei. Aus der gescheiterten Revolution von 1848 und besonders aus der Niederlage der deutschen Schleswig-Holsteiner im ersten deutsch-dänischen Krieg 1848-50 nahm man das Gefühl der Ohnmacht des zersplitterten Deutschlands mit. Man sah sich von einem Ring von Feinden umgeben, die angeblich nur darauf warteten, ihren Machtbereich auf Kosten Deutschlands auszuweiten.

In dieser Zeit wurde vor allem die Feindschaft zu Frankreich und Russland geradezu zu einem Programm der deutschen Liberalen. Der Krimkrieg verstärkte das Bild von Russland als rückständiger Macht, die es aufgrund ihres Bedrohungspotenzials klein zu halten galt. Der eigentliche „Erbfeind“ war aber Frankreich. Die Erinnerung an Napoleon I. war noch wach, und nun schickte sich Napoleon III. angeblich zu neuen Eroberungen an. Vor allem die endgültige Annexion Savoyens und Nizzas im italienischen Krieg von 1859, der man hilflos zusehen musste, verschärfte das Feindbild vom expansiven Frankreich. An dieser Haltung änderte sich auch nichts, als Frankreich tatsächlich keine Eroberungen im deutschsprachigen Raum unternahm. Es ging sogar so weit, dass mehrere Liberale wie z.B. von Rochau einen Präventivkrieg gegen den Nachbarstaat im Westen propagierten (S. 115).

Die Niederlage Österreichs 1859 verstärkte die ohnehin vorhandene Hoffnung, dass mit Hilfe Preußens die deutsche Einheit erreicht werden könnte. Allerdings war man enttäuscht darüber, dass Preußen weder in den Krimkrieg noch in den italienischen Krieg eingriff. Dass die Liberalen nicht über Machtmittel verfügten und die selbst empfundene Hilflosigkeit Deutschlands die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter auseinanderklaffen ließ, verstärkte nur ihren Willen zur Macht durch die Einheit (S. 144f.). So setzten in der Ära Bismarck immer mehr Liberale auf den klassischen Machtbegriff, um das Ziel der Einheit voranzubringen, allerdings ohne dass sie innenpolitisch den Glauben an Rechtsstaatlichkeit und Gesetzestreue aufgaben (S. 154). Ein entscheidender Katalysator war der militärische Sieg über Dänemark 1864, mit dem nicht nur die Ohnmacht von 1850 überwunden worden war, sondern auch ein praktikabler Weg zur Einheit vorgezeichnet wurde. Gegenüber den deutschen Interessen mit dem überragenden Ziel der Einheit waren immer mehr Liberale bereit, einige ihrer rechtlichen Grundüberzeugungen einstweilen hintanzustellen (S. 193).

Auch wenn Harald Biermann die Bedeutung der Schleswig-Holstein-Frage gut herausgearbeitet hat, hätte dieser Abschnitt noch gewinnen können, wenn er mehr dänische Autoren herangezogen hätte (die meisten dänischen Werke zu dieser Thematik sind durch deutsche Zusammenfassungen leicht zugänglich) und ein wenig mehr darauf eingegangen wäre, dass sich hier zwei nationale Bewegungen gegenüber standen, deren Protagonisten praktisch die gleichen Ziele verfolgten – nur eben unter verschiedenen nationalen Vorzeichen.

Die deutschen Nationalliberalen hielten eine deutsche Vorrangstellung für erstrebenswert und gerechtfertigt. Bemerkenswert ist dabei, dass sie sich kaum die Mühe machten, die Bedürfnisse der Nachbarstaaten zu analysieren. Ihre Gedankenwelt war letztlich eine „Außenpolitik ohne Einbeziehung des Auslands“ (S. 227). Mit dem Wissen um die Katastrophen des 20. Jahrhunderts liest man die Ausführungen der führenden Liberalen des 19. Jahrhunderts über „Erbfeinde“ der deutschen Nation, die angeblich „minderwertigen“ Slawen und Romanen (z.B. S. 70 und 236), die Sehnsucht nach dem Volkskrieg, die zu erstrebende Vorrangstellung Deutschlands usw. mit umso größerer Beklemmung. Neben dem verbreiteten Bild der liberalen Vordenker des 19. Jahrhunderts als Wegbereiter für bürgerliche Rechte und für die Überwindung der territorialen Zersplitterung muss deren Glaube an die Unvermeidlichkeit des Krieges erschrecken.

Harald Biermann hat nicht nur eine bedeutende Forschungslücke geschlossen, sondern einen wichtigen Beitrag zu einem entscheidenden Stück deutscher Geistes- und Politikgeschichte geleistet. Der klare Aufbau, die verständliche Sprache ohne endlose Zitatwiedergaben und nicht zuletzt die überschaubare Länge machen diese Pionierarbeit zudem leicht zugänglich. Dem Werk ist ein großer Leserkreis zu wünschen.