A. Janatková u.a. (Hrsg.): Wohnen in der Großstadt 1900-1939

Titel
Wohnen in der Großstadt 1900-1939. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich


Herausgeber
Janatková, Alena; Koziń ska-Witt, Hanna
Erschienen
Stuttgart 2006: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
474 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Schäfer, Dresden

Der Sammelband „Wohnen in der Großstadt 1900-1939“ präsentiert 21 Beiträge einer im Februar 2001 am „Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“ (GWZO) an der Universität Leipzig abgehaltenen Tagung. Die Projektgruppe „Kulturelle Pluralität, nationale Identität und Modernisierung in ostmitteleuropäischen Metropolen 1900-1930“ des GWZO hat hier Ergebnisse ihrer Forschungen vorgestellt und auswärtige Kollegen eingeladen, die an vergleichbaren Themen gearbeitet haben. Die Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit den Problemen großstädtischer Wohnungspolitik zwischen Jahrhundertwende und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, mit der Entwicklung neuer und moderner Formen urbanen Wohnens und Prozessen sozialer Segregation in städtischen Wohnquartieren. Es handelt sich dabei überwiegend um empirische Fallstudien, die Städte des ehemaligen Habsburgerreiches (Triest, Krakau, Brünn, Wien, Budapest, Lemberg) und der ehemals preußisch-deutschen und russischen Gebiete des heutigen Polens bzw. Litauens (Posen, Breslau, Kattowitz, Gdingen, Warschau, Lodz, Wilna) in den Blick nehmen. Daneben finden sich Studien zu einigen (heute noch) deutschen Städten (Leipzig, Frankfurt am Main, Berlin), der schwedischen Hauptstadt Stockholm sowie einige Beiträge mit überlokalem Bezug. Adelheid von Saldern hat eine Einleitung beigesteuert, in der sie einige thematische Stränge des Bandes aufgreift und bündelt. Die einzelnen Aufsätze sind vier thematischen Blocks zugeordnet: „Großstädtische Stadtviertel und Wohnmilieus“, „Kommunale Wohnpolitik und gemeinnütziger Wohnungsbau“, „Modernisierung des Wohnens und soziale Disziplinierung“ sowie „Schicht-spezifisches Wohnen“.

Ein großer Vorzug dieses Bandes besteht darin, dass er Befunde für Regionen und Städte präsentiert, die in der deutschsprachigen Stadtgeschichtsschreibung meist wenig zur Kenntnis genommen werden, da ja nun die wenigsten deutschen Stadthistoriker des Polnischen, des Italienischen, des Ungarischen oder des Tschechischen mächtig sind. Es hat sich dabei als fruchtbar erwiesen, die Spannbreite des Tagungsbandes auf ein relativ überschaubares Themengebiet und einen zeitlichen Rahmen von knapp vier Jahrzehnten zu beschränken. Dadurch war es leichter, einen gegenseitigen Bezug zwischen den einzelnen Beiträgen herzustellen. Es entsteht so ein differenziertes Bild der Geschichte des Wohnens und der Wohnungspolitik im ostmitteleuropäischen Raum in einer Schlüsselperiode urbanen Wandels. Die Umrisse eines Gesamtbildes, zu dem sich die Beiträge des vorliegenden Bandes zusammenfügen, möchte ich im Folgenden in einigen, mir wesentlich erscheinenden Zügen skizzieren.

1. Die Beiträge verweisen auf ein Grundmuster der städtischen Wohnungspolitik in Ostmitteleuropa zwischen dem späten 19. Jahrhundert und der Zwischenkriegszeit, das eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem deutschen oder auch dem britischen Fall aufweist. Cum grano salis können wir in den Städten des Habsburgerreiches eine Abfolge verschiedener Phasen der Wohnungspolitik beobachten, die bemerkenswerte Analogien zur Entwicklung in west- und mitteleuropäischen Städten aufweist: vor 1914 zunächst Maßnahmen sanitär- und baupolizeilicher Regulierung, dann Versuche indirekter Steuerung durch flankierende Maßnahmen (etwa der Vergabe städtischen Baulandes zu günstigen Bedingungen oder der Förderung gemeinnütziger und philanthropischer Projekte); nach 1918 der Übergang zu aktiver staatlicher Wohnungsbauförderung und zum kommunalen Wohnungsbau. Auch in den neuen Staaten Ostmitteleuropas – Polen und der Tschechoslowakei – engagierte sich die Zentralregierung nachhaltiger im Wohnungsbau, indem sie staatliche Mittel bereit stellte und die Kommunen in die Pflicht nahm, eine aktivere Wohnungspolitik zu betreiben. Zwar setzten die Staatsregierungen und Kommunen durchaus unterschiedliche Akzente. Doch lassen sich solche Unterschiede kaum entlang der Ost-West-Linie festmachen. Es war wohl eher auf politische Konstellationen – nationale wie kommunale – zurückzuführen, ob sich öffentliche Wohnungsbaupolitik in Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei eher auf den Bau von Arbeitermietshäusern, auf die Errichtung von Wohnungen für die unteren Mittelklassen oder auf die Förderung des Eigenheimbaus ausrichtete. Ein einfaches Ost-West-Schema besitzt im Übrigen auch für die Zeit vor 1914 wenig Aussagekraft, um unterschiedliche Entwicklungen in den untersuchten Städten zu erklären. Während nämlich die Wohnungspolitik in den Großstädten des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns in ganz ähnlicher Weise sich nach dem oben dargelegten Muster entwickelte, weisen die russisch-polnischen Vergleichsstädte Lodz, Warschau und Wilna markante Unterschiede auf. Hier ist die Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg durch städteplanerischen Wildwuchs geprägt, der wohnungspolitische Gestaltungsdrang der Städte war allenfalls rudimentär ausgebildet. Dabei machten sich die weitgehend fehlenden Selbstverwaltungsrechte der polnischen Städte des Zarenreichs bemerkbar. In dieser Hinsicht lag Lemberg näher an Frankfurt am Main als an Lodz.

2. Wesentlich stärker als in den meisten Städten des Westens bestimmten in Ostmitteleuropa ethnische Differenzen die großstädtische Sozialtopographie wie auch die lokalpolitischen Auseinandersetzungen. Vor allem dort, wo sich soziale Schichtung und ethnische Identität überlagerten, wirkten die Spaltungen der städtischen Gesellschaft auf die kommunale Wohnungspolitik zurück. So zeigte das italienischsprachige Großbürgertums Triests, der wichtigsten Hafenstadt des Habsburgerreiches, offenbar wenig Interesse an der stadtplanerischen und wohnungsbaulichen Verbesserung der von slowenischen und kroatischen Zuwanderern bevölkerten Armenviertel der Stadt. In der preußischen Provinzhauptstadt Posen war die städtische Wohnungspolitik in den Jahrzehnten vor 1914 in starkem Maße der antipolnischen „Ostmarkenpolitik“ untergeordnet. Hier wurde mit öffentlichen Mitteln vor allem der Bau von Wohnungen für deutsche Beamte gefördert, während die überwiegend polnische Arbeiterbevölkerung Posens nicht in den Genuss wohnungspolitischer Fördermaßnahmen kam.

3. Die Sektionsüberschrift „Modernisierung des Wohnens und soziale Disziplinierung“ deutet an, dass die einzelnen Autoren von durchaus unterschiedlichen theoretischen Prämissen ausgehen. Eine Modernisierung des Wohnens macht sich in den Beiträgen des Bandes meist an der Verbreitung sanitärer Standards (Toiletten und Badezimmer), am Anschluss an die Gas- und Stromversorgung oder an der Diffusion von elektrischen Haushaltsgeräten fest. Solche Standards modernen Wohnens verbreiteten sich seit der Jahrhundertwende zwar relativ zügig in bürgerlichen Wohnungen, erreichten aber die Behausungen der Unterschichten – wenn überhaupt – erst ganz am Ende des Untersuchungszeitraums. Hier lag denn auch ein grundsätzliches Dilemma wohnreformerischer Bestrebungen: Je gesünder und komfortabler sich das „neue Wohnen“ in den Projekten der Gartenstadt-Enthusiasten ausnahm, desto weniger erschwinglich wurden solche Wohnungen für Arbeiterfamilien. In der Tendenz gelten diese Befunde zur Modernisierung des Wohnens sowohl für den deutschen und den schwedischen Fall als auch für die mittelosteuropäischen Städte. Ein „zivilisatorisches“ West-Ost-Gefälle war zumindest in den Großstädten vor und zwischen den Kriegen bedeutend weniger ausgeprägt, als dies vermutet werden könnte.

4. Andere Autoren behandeln die Diskurse und Projekte, die mit der „Reform“ und der „Modernisierung“ des Wohnens in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts verbunden waren, im Interpretationsrahmen von Modellen sozialer Disziplinierung. Ein reger internationaler Austausch auf Kongressen, bei Studienaufenthalten oder in Fachzeitschriften sorgte dafür, dass auch ostmitteleuropäische Architekten, Stadtplaner und Sozialpolitiker in diese Diskurse einbezogen waren. Dabei wird aber nicht zuletzt deutlich, dass sich die Bewohner nicht widerstandslos zu „neuen Menschen“ formen ließen. Sie setzten sich sowohl gegen eine überzogene Modernisierung des Wohnens zur Wehr, die nicht an ihren Bedürfnissen, Wünschen und Ressourcen orientiert war, als auch gegen nationalsozialistische „Primitivsiedlungen“. Ein Beitrag präsentiert dabei einen Gegenentwurf zu den auf Disziplinierung ausgerichteten „Wohnreformen“ unterschiedlicher Couleur: Die „Wiener Schule“ der Zwischenkriegszeit ging von einer undogmatischen, benutzerorientierten Definition von Funktionalität aus, die den Bewohnern möglichst alle Möglichkeiten des Wohnens offen halten wollte. In deutschen wie in polnischen, österreichischen oder tschechischen Städten hielt sich aber die Umsetzung wohnreformerischer Konzepte vor und nach dem Ersten Weltkrieg in engen Grenzen. Wesentlich bedeutsamer für die Schaffung von Wohnraum im Grünen erwiesen sich unter Umständen Entwicklungen, die auf die Eigeninitiative der Bewohner selbst zurück gingen. Die ausgedehnten privaten Stadtrandsiedlungen im Großraum Berlin, deren Einfamilienhäuser oft aus provisorischen „Wohnlauben“ hervorgingen, belegen dies eindrucksvoll.

Natürlich könnte man bei dem einen oder anderen Beitrag auch kritische Anmerkungen anbringen. Einige der Themenstellungen der Einzelaufsätze mögen für eine vergleichende Perspektive etwas zu speziell sein. Am positiven Gesamteindruck dieses Tagungsbandes ändert dies aber nichts. Die Befunde und Thesen der allermeisten Beiträge lassen sich mühelos an die Problemstellungen und Perspektiven der westeuropäischen und deutschen Stadtgeschichts- und Urbanisierungsforschung anschließen und bieten auf der vergleichenden Ebene eine Menge interessanter und bemerkenswerter Erkenntnisse und Hinweise. Dies gibt der von Alena Janatková und Hanna Kozińska-Witt herausgegebenen Aufsatzsammlung „Wohnen in der Großstadt“ einen Gebrauchswert, den solche Tagungsbände sonst eher selten besitzen.

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