A. Marshall: The Russian General Staff and Asia

Cover
Titel
The Russian General Staff and Asia, 1800-1917.


Autor(en)
Marshall, Alex
Reihe
Routledge Studies in the History of Russia and Eastern Europe
Erschienen
London 2006: Routledge
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
€ 92,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Gumb, Humboldt-Universität zu Berlin

Eine der „wichtigsten imperialen Institutionen“ des russischen Zarenreiches, so der Historiker Aleksei Miller kürzlich in einem Essay, sei immer noch nicht ausreichend erforscht: die russische Armee.1 Und Miller hat Recht. All den wichtigen Erkenntnissen und Überlegungen der Forschung der letzten Jahre zum Trotz – die Geschichte der Armee im Zarenreich als Instrument imperialer und kolonialer Machtausübung ist eher unterbelichtet.

Alex Marshall hat nun eine Institution innerhalb der Strukturen dieser Armee untersucht: die „Asienabteilung“ des russischen Generalstabs. Er behandelt damit eine Einrichtung, die für den russischen Kolonialismus in vieler Hinsicht zentral war. Sie sammelte und systematisierte Informationen über die Untertanen in den neuen Gebieten, sie entwarf politische und militärische Strategien und sie koordinierte die Zusammenarbeit von zivilen und militärischen Institutionen. Nicht zuletzt war sie auch die Kaderschmiede für zukünftige koloniale Experten.

Marshalls Anliegen ist allerdings nicht von Beginn an klar. Er will, so formuliert er im Vorwort seiner Arbeit reichlich vage, die Rolle der russischen Armee in Asien hinterfragen. Hierbei interessiert ihn vor allem die Planung und Ausführung der unterschiedlichen Feldzüge (S. xii). Erst im letzten Kapitel wird dann deutlich, was die Arbeit tatsächlich zusammenhalten soll: die Frage nach dem Grad der Professionalität, der Effektivität und damit der Modernität zentraler Institutionen der russischen Armee. Gerade dies ist nun in unendlichen Variationen bereits bearbeitet worden.2 Das Risiko, dass eine solche Studie mit sich bringt, ist damit klar. Denn Arbeiten dieses Zuschnitts manövrieren nur allzu oft zwischen zwei Polen, zwischen der euphorischen Bestätigung des modernen Anspruchs russischer Generalstäbler und der traditionsreichen Fortschreibung russischer Rückständigkeit.

Die Expansion des russischen Reiches war vor allem ein Produkt der Tätigkeit des Kaiserlichen Generalstabs – mit dieser Feststellung eröffnet Marshall sein Buch. Denn in dieser Institution arbeiteten die Experten für die eroberten Territorien. Von einem Generalstabsoffizier des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Asien etwa konnten sowohl genaueste Kenntnisse lokaler „Sitten und Bräuche“ wie auch der topographischen Gegebenheiten unterschiedlichster Regionen verlangt werden (S. 9). Dieses Expertentum stand allerdings am Ende eines langen Lernprozesses.

Denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich Netzwerke militärischer und ziviler Experten, die eine aktivere und zielgeleitete russische Großmachtpolitik in Asien befürworteten. Beeinflusst von zeitgenössischen wissenschaftlichen Trends waren dies junge Beamte und Offiziere, die an der östlichen und südlichen Peripherie des Imperiums eingesetzt waren. Doch dort mussten sie feststellen, dass zuverlässige Informationen über ihre Einsatzgebiete Mangelware waren. Folglich begannen sie, wissenschaftliche Expeditionen in die neuen Gebiete des Reiches durchzuführen. Sie gründeten Institutionen wie die „Kaiserliche Geographische Gesellschaft“, in denen die gesammelten Informationen systematisiert und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Es war dies die Geburtsstunde der russischen „Wostokowedenie“, der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Asien.3

Bekanntermaßen war hier eine Person besonders wichtig: der spätere Kriegsminister Dmitri A. Miljutin, der durch seine Erfahrungen als junger Offizier im Kaukasus geprägt worden war. Miljutin war es, der die einflussreiche Disziplin der Militärstatistik gründete, und Miljutin war auch der Gründungsvater der Asienabteilung des Generalstabs, dem, so Marshall, wichtigsten Knotenpunkt in diesen Expertennetzwerken. Personen wie Miljutin protegierten auch das Entstehen einer „asiatischen Lobby“ im Zarenreich (S. 45). So konnte 1898 gar ein Mann Kriegsminister werden, in dem Marshall den imperialen russischen Soldaten par excellence verkörpert sieht: General A. N. Kuropatkin.

Diese Informationen waren, gerade durch die Arbeiten David Alan Richs, weitgehend bekannt. In seinem vierten und gelungensten Kapitel („Tactics of Expansion“) allerdings kann Marshall Neues bieten. Denn Untersuchungen zur militärischen Praxis in den kolonialen Räumen des Zarenreiches sind bisher rar. Gerade hier sah sich die zarische Generalität mit einer Kampfweise konfrontiert, auf die sie nicht vorbereitet war. Und hier, unter den Bedingungen der Peripherie, konnten russische Soldaten dann auch mit taktischen Neuerungen experimentieren.

An den Beispielen China (die „gelbe Gefahr“), Kaukasus und Zentralasien untersucht Marshall in den folgenden Kapiteln, wie die oben umrissenen Neuerungen in der Praxis griffen und wie die strategische Planung des Zarenreiches beständig zwischen einer Orientierung nach Europa oder nach Asien lavierte. Der stetige Informationsfluss aus dem Osten, aufbereitet durch die Asienabteilung, spielte eine zentrale Rolle bei der stetig wachsenden „strategischen Paranoia“ – so Marshalls gelungene Formulierung – russischer Militärs angesichts der langen Binnengrenze im Osten. Diese Paranoia führte unter anderem dazu, dass noch unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkrieges an der Westgrenze des Reiches Festungen geschleift wurden, während man im Osten ein aufwendiges Festungsbauprogramm startete (S. 105).

Die Zeit nach dem russisch-japanischen Krieg, bei dem sich die zarische Armee im Kampf mit einem Gegner aus Asien diskreditiert hatte, sah auch den Niedergang der Asienabteilung. Zwar spielte sie bei der Reform der Sprachausbildung des Offiziersnachwuchses noch eine Rolle, aber das war auch schon ihr letzter administrativer Erfolg.

War die Asienabteilung, so fragt Marshall abschließend, nun etwa der „panoptische Wächter“ der russischen Kolonialpolitik? Manche Zeitgenossen sahen in ihr tatsächlich allumfassende Kontrolle und „governance“ verkörpert (S. 178). Marshalls Antwort auf diese Frage nun kommt keineswegs überraschend: Nein, sie war es nicht. Sie war kein allsehender, sondern ein „kurzsichtiger Wächter“ (myopic guard). Ihre effektive Arbeit wurde durch unzureichende Finanzierung und organisatorisches Unvermögen behindert (S. 180f.). So war die Rolle der Asienabteilung im institutionellen Wirrwarr zarischer Außenpolitik völlig unklar (S.182). Im russisch-japanischen Kriege etwa gingen Informationen schlicht auf irgendwelchen Schreibtischen verloren. Zeitgenossen verglichen Kuropatkins Amtsantritt als Oberbefehlshaber in der Mandschurei mit einem Boxer, der blind in den Ring steigt.4

Doch die schrittweise Entmachtung der „Asienabteilung“ und der Aufbau der „Hauptverwaltung des Generalstabs“ (Glawnoe Uprawlenie General’nowo Schtaba, GUGSch) nach 1905 unterstreichen paradoxerweise ihren langfristigen Erfolg. Denn der Krieg von 1905 hatte gezeigt, dass in zukünftigen Kriegen das Sammeln und Verarbeiten von Informationen entscheidend sein würde. Und daraus, so Marshall, resultierte eine „knowledge panic“, die zum Ausbau der GUGSch und damit zur Entwicklung jener Prozeduren führte, die im Erfassen, Kategorisieren und schließlich aktiven Umgestalten der Bevölkerung des Imperiums vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg mündete. Und dies mit katastrophalen Folgen.5

Edward Said wurde von russischen Militärs, so Marshall abschließend, auf den Kopf gestellt. Denn diese repräsentierten den Osten nicht als abgeschieden, statisch und rückständig. Im Gegenteil: „It was the very consciousness of the fact that the East was changing and awareness of the poverty of its instruments to monitor this development, which caused increasing levels of concern in the Tsarist military’s policy-forming departments.“ (S. 185)

Marshalls Studie ist für den Spezialisten, der zu Detailfragen russischer Militärgeschichte, Außenpolitik oder der asiatischen Peripherie des Zarenreiches arbeitet, von großem Nutzen. Sie macht aber auch die Grenzen eines Ansatzes deutlich, der sich über weite Strecken auf die Geschichte von Institutionen konzentriert. Denn Marshalls Buch vermag gerade dort zu fesseln und Neues zu bieten, wo es sich der Geschichte von Praktiken widmet. Die Geschichte von der gescheiterten Reform und Professionalisierung des Zarenreiches und seiner Armee dagegen ist nun wirklich nicht neu.

Anmerkungen:
1 Miller, Aleksei, Imperija Romanowych i nazionalism. Esse po metodologi istoritscheskowo issledowanie [Das Reich der Romanows und Nationalismus. Ein Essay zur historiographischen Methodologie], Moskau 2006, hier S. 7.
2 Etwa in: Fuller, William C., Civil-Military Conflict in Late Imperial Russia 1881 – 1914, Princeton 1985; Rich, David Alan, The Tsar’s Colonels. Professionalism, Strategy and Subersions in Late Imperial Russia, Cambridge 1998; Schimmelpenninck van der Oye, David; Menning, Bruce (Hrsg.), Reforming the Tsar’s Army. Military Innovation in Imperial Russia from Peter the Great to the Revolution, Washington DC 2004.
3 Zur akademischen Disziplin: Tolz, Vera, European, National and (Anti-)Imperial. The Formation of Academic Oriental Studies in Late Tsarist and Early Soviet Russia, in: David-Fox, Michael u.a. (Hrsg.), Orientalism and Empire in Russia, Bloomington 2006, S. 107-134.
4 Menning, Bruce W., Miscalculating One’s Enemies: Russian Military Intelligence before the Russo-Japanese War”, in: War in History 13 (2006), S. 141-170, Zitat S. 154.
5 Holquist, Peter, To Count, to Extract, and to Exterminate: Population Statistics and Population Politics in Late Imperial and Soviet Russia”, in: Suny, Ronald G.; Martin, Terry, (Hrsg.), A State of Nations: Empire and Nation-Making in the Age of Lenin and Stalin, Oxford 2001, S. 111-144.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension