H. Weitenhagen: "Wie ein böser Traum..."

Titel
"Wie ein böser Traum...". Briefe rheinischer und thüringischer evangelischer Theologen im Zweiten Weltkrieg aus dem Feld


Autor(en)
Weitenhagen, Holger
Reihe
Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 171
Erschienen
Anzahl Seiten
XX, 460 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Winkler, Berlin

Der kürzlich verstorbene Walter Kempowski berichtete im Vorwort des dritten Bandes seines „Echolots“ von einem Erlebnis aus seiner Göttinger Studentenzeit. Während eines Spaziergangs sah er Fotos und Briefe, deutlich erkennbar als Feldpost, auf der Straße liegen. Fußgänger traten achtlos darauf, beschmutzten und zerstörten schließlich die letzte Hinterlassenschaft eines in Russland getöteten deutschen Soldaten. Für Kempowski waren dies eine Barbarei und eine „Verschwendung“. Seien doch die Zeugnisse vorangegangener Generationen, Fotos, Tagebücher und Briefe, „an uns gerichtet“; „unsere Geschichte“ sei es, „die da verhandelt wird“.1

In seinem neuesten Buch hat sich Holger Weitenhagen eines speziellen Teils „unserer Geschichte“ angenommen: den rheinischen und thüringischen Pfarrern und Theologen, die als Soldaten im Zweiten Weltkrieg kämpften und in ihrer Feldpost über ihre Erlebnisse, ihre Gedanken, ihre Überzeugungen und Hoffnungen berichteten. Für seine Arbeit schöpfte Weitenhagen aus drei bislang wissenschaftlich nicht bearbeiteten kirchlichen Beständen und bewältigte dabei ein großes und beeindruckendes Pensum. 7.500 Feldpostbriefe – etwa zweitausend Briefe an Helmut Rößler, Mitglied im deutsch-christlich geleiteten rheinischen Konsistorium, fast dreitausend Schreiben an Oberkirchenrat Johannes Schlingensiepen, Mitglied des Rheinischen Bruderrates der Bekennenden Kirche, sowie rund 2.500 Dokumente soldatische Eingangspost an die Mitglieder des Landeskirchenamtes Thüringen2 – sichtete der ehemalige Bundeswehroffizier, Kirchenhistoriker und ehrenamtliche Gemeindepfarrer für sein Werk.

Die vorliegende Briefauswahl, die auch verschiedene konsistoriale und bruderrätliche Rundschreiben an die Front umfasst, berücksichtigt ausschließlich Briefdokumente, „die sich relativ prägnant auf den Krieg, das Soldatsein im Krieg und die Gedanken des Theologen in dieser Situation beziehen. Auch die Fragen nach fremden Ländern und Menschen wie ebenso die nach der Heimat, persönliche Empfindungen von Schönheit oder Schrecken des Krieges und die Gefühle von Schuld und Feindschaft gehören dazu“ (S. 19). Weitenhagen präsentiert die Briefauszüge nach Beständen bzw. Adressaten geordnet in drei Abschnitten, die er wiederum nach Schwerpunkten der Briefthemen und der Kriegsphasen (1939-1942, 1943, 1944/45) unterteilt.

Der sich angesichts der Adressaten (der schillernde, politisch eigenwillige Rößler, das exponierte Mitglied der Bekennenden Kirche Schlingensiepen sowie auch der Landesbischof der Deutschen Christen, Martin Sasse) anbietenden vergleichenden Analyse begegnet Weitenhagen mit dem Hinweis, dass es ihm „in keiner Weise um eine Gegenüberstellung der Kirchenprovinz Rheinland und der Thüringer evangelischen Kirche [gegangen sei] – etwa: Wie ‚anständig‘ hat sich eine bestimmte Landeskirche verhalten und wie viel weniger die andere“ (S. 17). Auch seien, so Weitenhagen, „alle Wertungen dazu [also den unterschiedlichen kirchenpolitischen Ausrichtungen des rheinischen Konsistoriums, des rheinischen Bruderrates und der thüringischen Landeskirchenamts, U.W.] bereits ausführlich in den zahlreichen Untersuchungen zum Kirchenkampf“ (S. 17) dargelegt worden. Im Hinblick auf den Krieg, den Umgang mit dem „fremden Nächsten“ sowie der Kriegsteilnahme von Pfarrern ist diese Aussage nicht ganz zutreffend, stehen doch Forschungen etwa zu Rechtfertigungs- und Bewältigungsstrategien der verschiedenen evangelischen „Lager“ nach wie vor aus. Weitenhagen will „die Quellen für sich sprechen lassen“ (S. 17). Eine Kommentierung sei, so der Autor, ein „Nachbewerten“ (S. 18). Allerdings fasst er die von ihm ausgewählten Briefauszüge unter zum Teil wertenden Überschriften („Idealismus in allen Lagen“, „Keine Zweifel! – Völkisches Denken und standfester Glaube“, „Reste ‚alten Denkens‘“, „Noch ein Blick auf die Italiener“) zusammen. Auch leitet er die Briefauszüge gelegentlich kommentierend ein. Dieser Ansatz, der der Leserin/dem Leser im Großen und Ganzen die Einordnung der Mitteilungen in das Kriegsgeschehen – eine Chronik im Anhang soll dies erleichtern – überlässt und von ihr bzw. ihm eigene Wertungen und Schlussfolgerungen abverlangt, diene, so Weitenhagen, dem Versuch zu verstehen, „wie es eigentlich gewesen ist“ (S. 17). Anzumerken ist hier indes, dass es den „eigentlichen“ Krieg nicht gegeben hat. Erlebte doch jeder, der in den Krieg zog, seinen „persönlichen“ Krieg und machte – vor dem Hintergrund seines „sozialen Wissens“ bzw. seinen individuellen „Vorprägungen des sozialen Bewusstseins“3 – seine eigenen Erfahrungen.4

Da Weitenhagen aber umfassende Informationen (beruflicher Abschluss, Einsatzgebiet, Einsatzart, militärischer Rang, kirchenpolitische Orientierung usw.) über die „Pfarrersoldaten“ bietet, ermöglicht er so nicht nur Rückschlüsse auf deren damalige Situation, sondern auch auf deren Beweggründe, bestimmte Dinge so zu schildern und zu bewerten, wie sie es schließlich taten. Zudem bietet Weitenhagen die vollständigen und richtigen Namen der Schreibenden, um, wie er schreibt, „der grundsätzlichen historiographischen Forderung nach Namensnennung zu entsprechen“ (S. 20). Dies bedeutet jedoch auch den Verzicht auf die Veröffentlichung von Briefen, die in „physischen oder psychischen Ausnahmesituationen“ (S. 19) geschrieben wurden „und damit zuweilen sogar im Gegensatz zur restlichen Post desselben Autors stehen“ (ebd.). Vielleicht wäre aber gerade die Veröffentlichung dieser Briefe für ein vertieftes Verstehen der existentiellen, auch der Glaubensnot von Christen im Krieg wichtig gewesen.

Weitenhagen präsentiert in der Folge differenziert ausgewählte Briefauszüge, die in beeindruckender Weise vom Blick evangelischer Christen auf viele Facetten eines Krieges zeugen, den sie in ihrer Mehrheit zwar nicht unbedingt bejubelten, aber auch nicht ablehnten. Hier bildeten auch die der Bekennenden Kirche nahe stehenden Pfarrer und Theologen keine Ausnahme. Allerdings wandelten sich die Einschätzungen eines Teils der Kriegsteilnehmer – gleich welcher kirchenpolitischen Zugehörigkeit – mit abnehmendem Kriegsglück im Laufe der Zeit. Bemerkenswert ist weiterhin, wie beeindruckt die evangelischen „Pfarrersoldaten“ von ihren Begegnungen mit katholischen Amtskollegen und Soldaten schrieben, deren „Kirchlichkeit viel stärker war“ (S. 198, 219). Nicht nur die Schilderungen der Pfarrer und Theologen über Alkoholexzesse ihrer Kameraden („Veralkoholisierung“) (S. 196) oder ihre Bemerkungen über „den listigen und verschlagenen Polen“ (S. 361), die Nachfragen eines Kriegsteilnehmers nach dem Stand der „Euthanasie“ (S. 87), sondern auch die Weigerung eines Offiziers-Anwärters, die Erklärung, dass er „rückhaltlos auf dem Boden der n.s. Staatsauffassung stehe“ (S. 196) zu unterzeichnen sowie der Bericht über eine „Partisanenjagd“ („verrohte Untermenschen“, die „wie die Tiere hausen, gemein und gefährlich“ S. 412) tragen zur (noch ausstehenden) Erforschung des spezifischen Kriegserlebens und der Kriegserfahrung von evangelischen Theologen einen wertvollen Teil bei. Die Briefauszüge wurden zwar, wie erwähnt, grob kategorisiert, aber nicht weiter in ihre Einzelthemen zerlegt, so dass sich mehrere spannende Aspekte in einem Briefauszug finden können. Eine gründliche Lektüre ist daher ebenso gefordert wie der Versuch, das Gelesene vor allem zu den Ergebnissen der grundlegenden Studien von Klaus Latzel und Martin Humburg in Bezug zu setzen.5

Insgesamt ist hier eine differenzierte Materialsammlung entstanden, die zukünftig einen unverzichtbaren Trittstein in die noch wenig bekannte Forschungslandschaft „Christen bzw. Kirche im Krieg“ bilden wird.6

Anmerkungen:
1 Kempowski, Walter, Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch Januar und Februar 1943, Bd. 1, 3. Aufl. München 1993, S. 7.
2 Alle Adressaten werden in biographischen Skizzen vorgestellt, dankenswerterweise reichen sie bis in die Nachkriegszeit hinein.
3 Koselleck, Reinhart, Der Einfluss der beiden Weltkriege auf das soziale Bewusstsein, in: Wette, Wolfram (Hrsg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, 2. Aufl. München 1995, S. 324-343, S. 326ff.
4 Grundsätzlich: Latzel, Klaus, Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997), S. 1-30, hier S. 4.
5 Latzel, Klaus, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn 1998; Humburg, Martin, Das Gesicht des Krieges. Feldpostbriefe von Wehrmachtssoldaten aus der Sowjetunion 1941-1944, Wiesbaden 1998.
6 Allererste Forschungsergebnisse sind nachzulesen in: Kaiser, Jochen-Christoph, Protestantismus und Krieg, in: Pohl, Karl Heinrich (Hrsg.), Wehrmacht und Vernichtungspolitik. Militär im nationalsozialistischen System, Göttingen 1999, S. 67-85. Düringer, Hermann; Kaiser, Jochen-Christoph (Hrsg.), Kirchliches Leben im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2005; Prolingheuer, Hans; Breuer, Thomas (Hrsg.), Dem Führer gehorsam: Christen an die Front. Die Verstrickung der beiden Kirchen in den NS-Staat und den Zweiten Weltkrieg. Studie und Dokumentation, Oberursel 2005; Hummel, Karl-Joseph; Kösters, Christoph (Hrsg.), Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945, Paderborn u.a. 2007; Winkler, Ulrike, Männliche Diakonie im Zweiten Weltkrieg. Kriegserleben und Kriegserfahrung der Kreuznacher Brüderschaft Paulinum von 1939 bis 1945 im Spiegel ihrer Feldpostbriefe, München 2007 (im Erscheinen).

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