Cover
Titel
Der Weg zurück. Die Repatriierung sowjetischer Zwangsarbeiter während und nach dem Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Goeken-Haidl, Ulrike
Erschienen
Anzahl Seiten
574 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Exeler, Princeton University

Mit Ende des Zweiten Weltkrieges befanden sich mehr als 5,5 Millionen sowjetische Bürger in Mittel- und Westeuropa – sei es, weil sie von den Deutschen verschleppt worden waren, um Zwangsarbeit für das Dritte Reich zu leisten, weil sie als Kriegsgefangene in deutschen Lagern ihr Dasein fristeten oder auch, weil sie sich in den Dienst der Wehrmacht gestellt hatten. Sie sollten nun in die Sowjetunion zurückgeführt werden. Mit Ausnahme weniger hunderttausend Menschen gelang dies zwar bis Ende der 1940er-Jahre auch, der Rückführungsprozess verlief jedoch alles andere als reibungslos: Zum einen wehrten sich viele gegen ihre Repatriierung, hatten sie in der Heimat doch Repressionen, Lagerhaft und Tod zu fürchten, da sie den Bolschewiki als Vaterlandsverräter und Kollaborateure galten. Zum anderen musste Moskau mit Washington und London zusammenarbeiten, denn circa 2,5 Millionen sowjetische Bürger befanden sich nach Kriegsende in den von den westlichen Alliierten befreiten Gebieten.

An diesem Punkt setzt die Studie von Ulrike Goeken-Haidl an, die auf ihrer 2003 an der Universität Freiburg eingereichten Dissertation beruht. Die Repatriierung sowjetischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter untersucht sie dabei nicht nur als einen Teil der Geschichte des Stalinismus, sondern auch „als Teilausschnitt der sowjetisch-westalliierten Beziehungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg“ (S. 21) und somit als Teil der Geschichte des Kalten Krieges. Kein leichtes Unterfangen – und keines, das Ulrike Goeken-Haidl rundum überzeugend meistert. Die Vielzahl der Quellen, die sie durchgearbeitet hat, ist beeindruckend, aber die Lesbarkeit des Buches leidet sowohl unter überaus detaillierten Schilderungen aus den Quellen als auch unter inhaltlichen Wiederholungen, die sich durch den ersten Teil der Studie, insbesondere durch das dritte Kapitel ziehen. Eine Straffung des Textes wäre von Vorteil gewesen, ebenso wie eine stringentere Darlegung der Gliederung und der zentralen Fragestellung im einleitenden Kapitel.

Ulrike Goeken-Haidls Studie setzt sich aus zwei Hauptteilen zusammen. Der erste Teil (Kapitel I-IV) widmet sich den Auseinandersetzungen zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion über die Rückführung der sowjetischen Bürger, die sich in westalliierter Obhut befanden, und ihrem Tausch gegen rund 522.000 amerikanische, britische und französische Kriegsgefangene, die von der Roten Armee aus den deutschen Lagern befreit worden waren. Bereits die ersten Verhandlungen im Winter 1944 über ein gegenseitiges Austauschabkommen wurden von haltlosen Vorwürfen der Bolschewiki überschattet, die die Amerikaner bezichtigten, sowjetische Kriegsgefangene misshandelt zu haben. Dennoch waren Washington und London aus Angst um ihre eigenen Soldaten zu immer weiteren Zugeständnissen bereit. Das Abkommen von Jalta sah dementsprechend nicht nur die Überstellung aller sowjetischer Kriegsgefangener (einschließlich derer in Wehrmachtsuniform), sondern auch der Zwangsarbeiter vor. Im Zweifelsfall sollte ihre Rückführung auch unter Anwendung von Gewalt erfolgen.

Doch während die Briten das Abkommen recht zügig umsetzten, traten bei den Amerikanern vermehrt Zweifel an der moralischen Vertretbarkeit des Repatriierungsprozesses auf, nachdem es bei dem Versuch, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter an die Sowjetunion zu übergeben, wiederholt zu dramatischen Szenen, Fluchtversuchen und Selbstmorden gekommen war. Gleichzeitig befanden sich jedoch weiterhin tausende westalliierte Kriegsgefangene in Stalins Machtbereich, die faktisch zum Faustpfand Moskaus geworden waren. Schlussendlich überwog daher in Washington die Sorge um die eigenen Soldaten. Mit Ausnahme von circa 300.000 Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, die aus den 1939 von der Sowjetunion annektierten Gebieten in Polen und im Baltikum stammten und die von den USA nicht repatriiert wurden, übergaben die Westalliierten sowjetischen Statistiken zufolge bis zum September 1945 2,2 Millionen Menschen in die Hände der Bolschewiki.

Ulrike Goeken-Haidl weist überzeugend nach, dass die USA die sowjetischen Repatrianten eben nicht, wie teilweise von Wissenschaftlern und Publizisten behauptet wurde, skrupellos ihrem Schicksal unter Stalin auslieferten. Sowohl das Dilemma der Amerikaner als auch die zunehmenden Verstimmungen zwischen Washington und Moskau kann sie eindrücklich aufzeigen. Im Gegensatz dazu bleibt aber die Hauptthese des ersten Teils ihrer Studie – dass die Risse im sowjetisch-amerikanischen Verhältnis, die im Zuge des Repatriierungsprozesses entstanden, einen Einfluss auf die Entwicklung des Kalten Krieges gehabt hätten – in der Darstellung zu blass. Die These erscheint zwar plausibel, nur wird sie nicht ausreichend expliziert (vgl. etwa S. 51, 146f., 224, 289, 295, 554), klare Belege fehlen. Welches tatsächliche Gewicht den Repatriierungskonflikten bei der Entstehung des Kalten Krieges zukam, welche Wirkung sie in Washington im Hinblick auf andere, ähnlich gelagerte sowjetisch-amerikanische Differenzen entfalteten, darüber sagt Ulrike Goeken-Haidl nichts. So bleibt nach der Lektüre des Buches ungeklärt, ob die Repatriierungskonflikte nur einen „Mosaikstein“ (S. 147, auch S. 554) oder aber einen „Meilenstein“ (S. 51) in der Geschichte des Kalten Krieges darstellten.

Der zweite und kürzere Teil des Buches (Kapitel V-VIII) widmet sich dem Prozess der Rückführung der sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter innerhalb des sowjetischen Machtbereiches. Ulrike Goeken-Haidl berichtet hier vor allem von Repression, Gewalt, Misstrauen – und von Chaos. Zwar hatte Moskau auf die zügige Auslieferung bestanden, aber nicht selten mussten die Westalliierten an der Grenze zur sowjetischen Besatzungszone Züge voller wartender sowjetischer Repatrianten versorgen, weil die Bolschewiki diese nicht aufnehmen konnten. Befanden sie sich jedoch einmal in der Obhut Moskaus, mussten die sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter verschiedene Lager durchlaufen, in denen die Schwere ihrer „Schuld“ von Mitgliedern des NKWD ermittelt wurde. Diese Lager waren oft nur improvisiert, die Verhöre erniedrigend, die Lebensbedingungen katastrophal, das Wachpersonal grausam. Der Prozess der Überprüfung erstreckte sich gewöhnlich über mehrere Monate, an deren Ende für etwas weniger als die Hälfte der Repatrianten die Rückkehr an ihren früheren Wohnort stand, während die andere Hälfte zu weiterer Lagerhaft oder zum Dienst in Arbeitsbataillonen verurteilt wurde. Aber auch viele der in ihre Heimatorte Zurückgekehrten hatten noch 1946/1947 Verhaftungen durch den NKWD wegen „antisowjetischer Spionage“, diesmal im Dienst der Amerikaner und Briten, zu fürchten. Das Stigma des Kollaborateurs sollte den Repatrianten auf Lebzeiten anhängen.

Auch für den zweiten Teil des Buches gilt, dass sich inhaltliche Wiederholungen häufen. Ulrike Goeken-Haidl rekonstruiert minutiös den Aufbau der Repatriierungsverwaltung, den Ablauf der Rückführung von den „Übergabe- und Empfangspunkten“ über die „Sammelverschickungspunkte“ hin zu den verschiedenen „Filtrationslagern“ einschließlich ihrer „Überprüfungs-Filtrationskommissionen“. Der chaotische, zugleich bürokratische Charakter der Repatriierung wird dadurch zwar deutlich, mitunter verliert sich die Darstellung jedoch in dem Wirrwarr der Lager, Kommissionen und Anordnungen. Zudem leuchtet es nicht ein, wieso sich die Ausführungen über diejenigen Soldaten, die in deutsche Gefangenschaft gerieten, sich aus dieser jedoch schon während des Krieges befreien konnten, um dann als „Kollaborateure“ in Strafbataillone der Roten Armee überwiesen zu werden, am Ende der Studie (Kapitel VII) befinden – schließlich nahm mit ihnen die Geschichte der Repressionen gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen ihren Anfang.

Zuletzt zwei Anmerkungen, die eine definitorischer, die andere formaler Art. In ihrer Studie spricht Ulrike Goeken-Haidl von „Displaced Persons“ und meint damit ausdrücklich sowohl Zwangsarbeiter (das heißt von den Deutschen verschleppte Zivilpersonen) als auch Kriegsgefangene. Gleichzeitig jedoch verweist sie darauf, dass das Alliierte Oberkommando der Streitkräfte in Europa (SHAEF) unter dem Begriff „Displaced Persons“ ausschließlich Zivilpersonen verstand (S. 167f.). Diese definitorische Unschärfe sorgt nicht nur für Verwirrung, sondern ist immer dann problematisch, wenn die Autorin Angaben über den Umfang der „Displaced Persons“ im Nachkriegseuropa macht.

Darüber hinaus scheint es müßig, sich in Zeiten des nicht vorhandenen Verlagslektorats über Rechtschreib- und Wiederholungsfehler sowie uneinheitliche Zitierweisen bzw. Literaturangaben zu beschweren. Unerklärlich ist jedoch, wieso Ulrike Goeken-Haidl bei der Übertragung der kyrillischen in lateinische Buchstaben sowohl die deutsche Transkription und Transliteration als auch die anglo-amerikanische Transliteration miteinander vermischt (siehe beispielsweise „Alexander Solzenizyn“ auf S. 135, „Andrej Vyschinski“ auf S. 237 oder „Filipp Ivanowitch Golikov“ auf S. 274). Am phantasievollsten ist wohl die Schreibweise des Nachnamens des russischen Generals Wlassow, der in nicht weniger als sechs Varianten auftaucht. Bei der Drucklegung scheinen darüber hinaus die diakritischen Zeichen abhanden gekommen zu sein.

Abschließend lässt sich über Ulrike Goeken-Haidls Studie sagen, dass sie erhellende Einblicke sowohl in die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg als auch in den Ablauf der Repatriierung an sich bietet. Letztlich jedoch wird die Lektüre durch eine zu ausführliche Darstellung und formale Nachlässigkeit erschwert.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension