J. Kochanowski u.a. (Hrsg.): Die "Volksdeutschen"

Titel
Die "Volksdeutschen" in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität


Herausgeber
Kochanowski, Jerzy; Sach, Maike
Reihe
Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau n12
Erschienen
Osnabrück 2006: fibre Verlag
Anzahl Seiten
431 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingo Eser, Köln

Bücher über deutsche Minderheiten, deutsche „Volksgruppen“ oder kurz „das Deutschtum“ in verschiedenen Ländern Ostmittel- und Südosteuropa gibt es viele. Eine neuere Veröffentlichung, die ausdrücklich den Begriff „Volksdeutsche“ im Titel führt, fällt jedoch auf. Das Deutsche Historische Institut (DHI) in Warschau bedient sich nun dieser kleinen Provokation, um die Aufmerksamkeit auf ein heikles Thema der deutsch-polnischen Geschichte zu lenken. Denn, wie die Herausgeber richtig bemerken, das Problem der „Volksdeutschen“ wurde in Polen lange Zeit tabuisiert (S. 9f.), dem Begriff selbst haftet der Ruch des Verrates und der Kollaboration an, während man ihn in Deutschland wohl am ehesten mit völkischer bzw. nationalsozialistischer Ideologie assoziieren dürfte.

Der nun vorliegende Sammelband vereinigt im Wesentlichen die Beiträge einer gleichnamigen Tagung, die das DHI im April 2003 in Zusammenarbeit mit dem Haus für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit in Gleiwitz (Gliwice) veranstaltete. Die Idee zu dieser Tagung reicht jedoch, wie die Herausgeber selbst schreiben, bis in die 1990er-Jahre zurück (S. 10). Damals beschäftigte sich ein deutsch-polnisches Forschungsprojekt mit der Geschichte der Deutschen in Polen 1945–1950 und kam zu dem Schluss, dass die Problematik der „Volksdeutschen“ weit komplexer war, als dies die historische Forschung bis dahin wahrgenommen hatte.1 Diese Vielschichtigkeit wird in der Konzeption des Sammelbandes jedoch nur bedingt sichtbar, ist im Untertitel doch lediglich von „Mythos und Realität“ des Untersuchungsgegenstandes die Rede. (Wäre hier „Stereotyp“ nicht angemessener gewesen als der doch eher positiv besetzte Begriff des „Mythos“?)

Zu den Stärken des Buches gehört zweifelsohne sein weit gefasstes Untersuchungsfeld.2 Im Zentrum des Interesses steht zwar Polen (Gerhard Wolf über die deutschen Minderheiten als Instrument deutscher Außenpolitik, Winson W. Chu über die Deutschen in Lodz und Zentralpolen 1918–1939, Jerzy Kochanowski über das Problem der „Volksdeutschen“ vor und nach 1945, Eugeniusz Cezary Król über die „Volksdeutschen“ im polnischen Film), doch finden Ungarn und die Tschechoslowakei fast ebenso starke Beachtung (zu Ungarn: Krisztián Ungváry zur Genese der „Deutschtumsfrage“, Norbert Spannenberger über den Volksbund der Deutschen und Ágnes Tóth über die Frage der Aussiedlung der Deutschen nach 1945; zu Tschechien bzw. der Slowakei: Ota Konrád über deutsche Hochschullehrer in Prag, Volker Zimmermann über das Verhältnis von Reichs- und Sudetendeutschen nach 1938 sowie Tatjana Tönsmeyer über die Slowakeideutschen vor 1945). Das Elsass als Grenzregion Frankreichs zu Deutschland wird immerhin mit zwei Beiträgen bedacht, wobei die Zeit nach 1945 leider nur gestreift wird (Christiane Kohser-Spohn über die Vertreibung [!] der Deutschen nach 1918 und Jean-Marc Dreyfus über die Germanisierungspolitik 1940–1945). Ergänzt wird die Länderumschau durch Exkurse in die Sowjetukraine (Natalija Rublova über die Deutschen in der Sowjetukraine 1933–1939) und nach Rumänien (Ottmar Trasca über Rumäniendeutsche in der Waffen-SS). Des Weiteren enthält die Publikation Beiträge, die ohne direkten regionalen Bezug die nationalsozialistische Rasse- und Umsiedlungspolitik thematisieren (Isabel Heinemann über die „Rasseexperten“ der SS, Rainer Schulze über die „Rückholung“ der „Volksdeutschen“ aus dem Osten) bzw. Fragen der Nachkriegsrezeption behandeln (Christof Morrisey über die kollektive Erinnerung der Karpatendeutschen und Stefan Zwicker über das Bild der Sudetendeutschen in der Publizistik und im Film der Nachkriegszeit).

Zeitlich wird im Sammelband ein weiter Bogen gespannt, der das gesamte „kurze 20. Jahrhundert“ umfasst. Zu diesem Zweck sind die Beiträge in drei Blöcke untergliedert (vor 1939, Zweiter Weltkrieg, nach 1945), den drei Teilen vorangestellt ist eine Einleitung. Diese an und für sich einleuchtende Ordnung, die wohl dem komparativen Ansatz der Tagung entspricht, wird jedoch mehrfach durchbrochen, da einige Beiträge über die Zäsur von 1939 bzw. 1945 hinausgreifen (so z.B. Norbert Spannenberger oder auch Jerzy Kochanowski). Dies ist zwar bei einigen Themen zweifellos sinnvoll, beeinträchtigt jedoch die Übersichtlichkeit des Gesamtbandes.

Besonders das Konzept der Einleitung mag nicht recht überzeugen. In ihr gelingt es lediglich Ingo Haar, einige grundlegende Gedanken zum „Volksgruppen-Paradigma“ zu entwickeln, das er primär als Mechanismus begreift, um einer Assimilierung deutscher Bevölkerungsgruppen entgegenzuwirken. Dabei spitzt Haar in bekannter Weise zu und bedient sich einiger allzu ambitionierter Formulierungen, die gelegentlich über das Ziel hinausschießen (z.B. wenn er Flucht und Vertreibung der Deutschen als „Massenzwangsauswanderung“ charakterisiert, vgl. S. 37). Den zweiten Beitrag der Einleitung, in dem sich Gerhard Wolf mit den deutschen Minderheiten in Polen beschäftigt, wäre aufgrund seiner engen thematischen Ausrichtung wohl besser in Teil II oder III untergebracht. Wolf entwickelt kaum Thesen, die zu weiterführenden Überlegungen anregen (wie dies von einem Einleitungstext zu erwarten wäre), sondern verblüfft eher durch eine recht stereotype Sicht auf die deutsche „Fünfte Kolonne“, die in dieser Undifferenziertheit selbst von vielen polnischen Historikern nicht mehr geteilt wird.3

Wie bei einem recht umfangreichen Tagungsband nicht anders zu erwarten, fallen die Beiträge der drei Hauptteile recht unterschiedlich aus. Manchen Autoren wünscht man etwas mehr Mut, über das bloße Aufzählen historischer Fakten hinauszugehen und eigene Thesen und Fragestellungen zu formulieren. Andere Beiträge bestechen durch ihre klare Fragestellung, konzise Darstellungsweise und zielführende Bearbeitung des Themas (so z.B. Volker Zimmermann, der der These widerspricht, dass die einheimischen Deutschen im „Sudetengau“ gegenüber den zugezogenen Reichsdeutschen benachteiligt gewesen seien).

Ohne auf sämtliche Texte im Detail eingehen zu können, sei im Folgenden zumindest auf einige Beiträge hingewiesen, die – aus der subjektiven Sicht des Rezensenten – Erwähnung verdienen. Bemerkenswert z.B. die These von Christiane Kohser-Spohn, dass es sich bereits bei der Abschiebung von Deutschen aus dem Elsass nach 1918 um eine Art ethnische „Säuberung“ gehandelt habe. Dieser Vorgang hat in der gegenwärtigen Diskussion über Zwangsmigrationen bislang nur wenig Beachtung gefunden. Spannend zu lesen auch Winson W. Chu, der die Gegensätze innerhalb der deutschen Minderheit in Polen in den 1920er- und 1930er-Jahren herausarbeitet und dadurch die Frage aufwirft, inwieweit wir hier überhaupt von einer homogenen „Volksgruppe“ ausgehen können.

Ottmar Trascas Darlegungen im zweiten Teil erlauben Einblicke in das deutsch-rumänische Verhältnis während des Weltkrieges, das von massiven Interessenkonflikten hinsichtlich der staatsbürgerlichen Stellung der Rumäniendeutschen gekennzeichnet war. Der Beitrag ergänzt insofern jüngere Forschungen über Angehörige dieser Minderheit in der Waffen-SS.4

Dem Thema „Mythos“ der „Volksdeutschen“ kommt Eugeniusz Cezary Król im dritten Teil am nächsten. In seiner Untersuchung zum polnischen Film nach 1945 schildert er, wie sich ein negatives Bild von den Deutschen verfestigte, dabei aber auch an Schärfe verlor. Christof Morrisey schließlich vertritt die These, dass kollektives Erinnern keineswegs rückwärtsgewandt sein muss. Am Beispiel der Karpatendeutschen (das heißt der Deutschen aus der Slowakei) zeigt er, wie Landsmannschaft und Heimatschrifttum halfen, sich nach 1945 mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren, quasi also als „Anpassungsschleuse“ fungierten.5

Der Beitrag Morriseys zeigt aber auch ein grundsätzliches Manko des Sammelbandes: Es wird nicht immer deutlich, was dies alles mit dem Problem „Volksdeutsche“ zu tun hat. Manche Ausarbeitung, so interessant sie auch sein mag, hätte man ebenso in einem Buch über Minderheiten, Zwangsmigrationen, Integrationsprozesse etc. erwarten können. Der Terminus und das Thema „Volksdeutsche“ werden an keiner Stelle hinreichend problematisiert. Dies hat zur Folge, dass immer wieder essentialistische Vorstellungen dessen durchschimmern, was unter „volksdeutsch“ zu verstehen ist. Wiederholt wird der Terminus durch den unverfänglich wirkenden Ausdruck „ethnisch deutsch“ ersetzt, jedoch ohne ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass es sich bei den „Volksdeutschen“ um eine imaginierte Gemeinschaft handelte, die durch Selbst- und Fremdzuweisung geformt wurde, als kleinsten gemeinsamen Nenner aber ursprünglich nur ihre nichtdeutsche Staatsangehörigkeit aufwies. Auch wird nicht recht deutlich, an welche Grenzen der „Volksdeutschen-Mythos“ stößt – ist er z.B. für die Verhältnisse im Elsass überhaupt relevant? Und wäre es nicht sinnvoll, das Phänomen auch vor dem Hintergrund der Kollaboration während des Zweiten Weltkrieges zu untersuchen, die nach 1945 auf ähnliche Weise tabuisiert wurde wie die „Volksdeutschen“? Und worin bestand überhaupt das Tabu, das nach 1945 die „Volksdeutschen“ umgab?

Die Herausgeber schreiben, dass es sich angesichts der Vielfalt der Themen als schwierig erwiesen habe, einen solchen gemeinsamen Fragenkatalog zu entwickeln. Dies vermag jedoch nicht ganz zu überzeugen, wäre es doch zumindest nach der Tagung bzw. am Schluss des Bandes möglich gewesen, einige Widersprüche und Grundprobleme aufzuzeigen bzw. Hypothesen zu formulieren. So fällt z.B. auf, dass die „Volkstums“- und „Rassen“-Politik der Nationalsozialisten keineswegs einheitlich beurteilt wird. Isabel Heinemann betont deren rassistischen Charakter, während Gerhard Wolf und Jerzy Kochanowski eher auf die pragmatische Umsetzung der sog. „Deutschen Volksliste“ in den annektierten Teilen Polens während des Zweiten Weltkrieges hinweisen. Auch fällt auf, dass Kochanowski der einzige ist, der sich mit der juristischen „Abwicklung“ der „Volksdeutschen“ auseinandersetzt, während Ágnes Tóth im Hinblick auf Ungarn dieses Problem gleichsam überspringt, und im Falle der ČSR die Beneš-Dekrete überhaupt keine Erwähnung finden.

Einen Wermutstropfen stellt die sprachliche Bearbeitung der Texte dar. Einige Beiträge, vor allem diejenigen, die erst ins Deutsche übertragen werden mussten, hätten einer sorgfältigeren Redaktion bedurft. Zugleich weist der Band eine übereifrige Zeichensetzung auf, die mitunter sinnentstellend ist. Insgesamt ist es dem DHI in Warschau jedoch gelungen, ein wichtiges Thema aufzugreifen und dafür eine Reihe interessanter Autorinnen und Autoren zu gewinnen. „Mythos und Realität“ der „Volksdeutschen“ sind damit keineswegs erschöpfend behandelt, sondern bedürfen der weiteren Erforschung, wozu der vorliegende, sehr anregende Tagungsband hoffentlich Anlass gibt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Niemcy w Polsce 1945–1950. Wybór dokumentów [Deutsche in Polen 1945–1950. Eine Quellenauswahl], Bd. 1–3 hg. v. Wlodzimierz Borodziej und Hans Lemberg, Bd. 4 hg. v. Daniel Bockowski, Warszawa 2000–2001. Auf Deutsch: Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945–1950. Dokumente aus polnischen Archiven, 4 Bde, hg. v. Wlodzimierz Borodziej u. Hans Lemberg (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas 4, I–IV), Marburg 2000–2004.
2 Einen Überblick über den Inhalt auf der Homepage des Verlages, vgl. URL: http://www.fibre-verlag.de/2d-dhi.htm (23. August 2007).
3 Vgl. Matelski, Dariusz, Niemcy w Polsce w XX wieku [Deutsche in Polen im 20. Jh.], Warszawa u.a. 1999, S. 171–182; Kotowski, Albert S., Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919–1939 (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 23), Wiesbaden 1998, S. 338–344; Blanke, Richard, Orphans of Versailles. The Germans in Western Poland 1918–1939, Lexington 1993, S. 225–232. Im Gegensatz dazu Waszkiewicz, Ewa, Doktryna hitlerowska wsród mniejszosci niemieckiej w województwie slaskim w latach 1918–1939 [Die Nazi-Doktrin bei der deutschen Minderheit in der Wojewodschaft Schlesien in den Jahren ...] (Acta Universitatis Wratislaviensis 2315), Wroclaw 2001.
4 Vgl. Milata, Paul, Zwischen Hitler, Stalin und Antonescu. Rumäniendeutsche in der Waffen-SS (Studia Transylvanica 34), Köln u.a. 2007.
5 Zum Bild der „Anpassungsschleuse“ vgl. Treibel, Annette, Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung und Gastarbeit, Weinheim u.a. 1990, S. 137.

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