S. Wiesinger-Stock u.a. (Hrsg.): Vom Weggehen

Cover
Titel
Vom Weggehen. Zum Exil von Kunst und Wissenschaft


Herausgeber
Wiesinger-Stock, Sandra; Weinzierl, Erika; Kaiser, Konstantin
Reihe
Exilforschung heute 1
Erschienen
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Pape, Wien

Der vorliegende, von der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung herausgegebene Band schließt an das an der Universität Wien im Jahr 2004 abgehaltene Symposium „Brüche und Brücken – Exilforschung heute“ an und stellt den ersten Band einer neuen Buchreihe mit dem Titel „Exilforschung heute“ dar. Er umfasst 33 Aufsätze aus unterschiedlichen Disziplinen und Richtungen wie zum Beispiel Naturwissenschaften, Medizin, Psychologie, Psychoanalyse, Fotografie, Film, Theater, Musik und Architektur. Ergänzt werden diese Bereiche durch ein Kapitel, dass der Frage nachgeht, wie und für wen Exilforschung betrieben wird, einem Kapitel zu Geschichte und Politik und einem zu den Orten des Exils. Weitere Abschnitte befassen sich mit Rückkehr aus dem Exil und dem Verhältnis zwischen Universität und Exil.

Zielsetzung der vorliegenden Rezension ist es nicht, alle Aufsätze des Bandes einzeln zu besprechen, sondern vielmehr eine exemplarische Übersicht über das Gesamtwerk zu geben. Die Subjektivität in der Auswahl ist somit unweigerlich gegeben.

Unter dem Nationalsozialismus wurden 135.000 ÖsterreicherInnen vertrieben, was für die Betroffenen einen massiven individuellen Lebensbruch, darüber hinaus aber auch eine nachhaltige Zäsur für die österreichische Geistes- und Kulturgeschichte darstellte. Nur ein sehr geringer Prozentsatz der Vertriebenen kehrte auf Dauer nach Österreich zurück. Trotz dieser bekannten Tatsachen ist die Exilforschung in der österreichischen universitären Landschaft nur marginal institutionalisiert. „Vom Weggehen“ steuert durch den interdisziplinären Ansatz diesem Manko entgegen, wirft aber gleichzeitig die Frage auf, warum Österreich gerade in diesem wichtigen Forschungsbereich internationale Tendenzen lange Zeit anscheinend verschlafen hat. Im ersten Kapitel, das sich mit den Methoden der Exilforschung auseinandersetzt, liefert Konstantin Kaiser dazu eine sehr interessante Erklärung: Er spricht von der „spezifisch österreichischen Tradition der Subjektlosigkeit“ (S. 18) und setzt deren Beginn in der Ära Franz I. und Metternichs an, in der die Aufklärung „abgewürgt“ (S. 18) worden sei. Die Subjektlosigkeit besteht „in einer durchaus katholischen Weise [darin], die tiefsten und höchsten Dinge der Erkenntnis und des Lebens dem Dogma und einer gesellschaftlichen und akademischen Arbeitsteilung [zu überantworten]“ (S. 18f.). Das Exil stellt gemäß dieser Auffassung eine Kontinuität zu Traditionen der Aufklärung dar. Ein weiterer Ansatz, vor allem hinsichtlich der Geschichte der Zweiten Republik, wäre natürlich die Thematisierung des so genannten „Opfermythos“, der eine Auseinandersetzung mit der Rolle Österreichs im Nationalsozialismus und damit auch der Frage des Exodus und der Remigration erst spät – vor allem seit 1986 – ermöglichte. Gerade die spärliche Remigration kann auch als Indikator für Österreichs Umgang mit der NS-Vergangenheit angesehen werden. Die Erforschung der Remigration ist in Österreich noch sehr unterentwickelt, wie Friedrich Stadler in seinem Beitrag „Brüche und Brücken“ darstellt (S. 28). Aber gerade die wenigen RemigrantInnen haben maßgebliche Innovationen, meist außerhalb der universitären Landschaft, gesetzt. So, um nur einige Beispiele zu nennen, das „Österreichische College“ (heute „Forum Alpach“), das „Institut für Höhere Studien“ (IHS), das „Institut für Wissenschaft und Kunst“ (IfWK) und das „Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands“ (DÖW).

Ein Teil der Texte beschäftigt sich mit den Orten des Exils. Konkret thematisiert werden Irland, Argentinien und die Philippinen. In Irland bestand die einheimische jüdische Gemeinde aus 3.800 Mitgliedern, gerade einmal 70 Flüchtlingen aus Zentraleuropa gewährte Irland Einlass, unter anderem einer Gruppe Wiener Juden aus dem Bezirk Kagran, die sich zu einem landwirtschaftlichen Kollektiv zusammenschlossen um für den Arbeitsmarkt akzeptabel zu sein. Philipp Mettauer zeichnet in seinem Aufsatz über österreichische EmigrantInnen in Buenos Aires die individuellen Erfahrungen mit den Mitteln der Oral History nach. In über 80 Interviews kommen Menschen zu Wort, die sich im Großen und Ganzen nicht künstlerisch oder politisch artikulierten und daher von der Exilforschung lange Zeit marginal behandelt wurden (S. 113). Gerade in Argentinien, wo unter Präsident Perón nationalsozialistische Kriegsverbrecher Unterschlupf fanden, war es sehr schwer, jüdische Identität zu leben. Trotzdem entwickelte sich in Buenos Aires eine große jüdisch-deutschsprachige Gemeinde und jüdische Hilfsvereine, die für Neuankömmlinge eine große Hilfe darstellten. Der Beitrag von Christine Kanzler zeigt erste Forschungsergebnisse über österreichische EmigrantInnen auf den Philippinen. Sie stützt sich dabei unter anderem auf Fragebögen, die sie von EmigrantInnen und deren Nachfahren beantworten ließ. Anhand der oben genannten Beispiele zeigt sich die, wie auch Konstantin Kaiser eingangs erwähnt, Subjektzentriertheit der Exilforschung und die Wichtigkeit von Oral History in diesem Themenfeld.

Ein Beispiel für die vollständige Vertreibung einer Berufsgruppe ist jenes der PsychoanalytikerInnen. An prominentester Stelle steht natürlich Sigmund Freud, der weniger als drei Monate nach dem „Anschluss“, am 4. Juni 1938, nach London emigrierte; seine Schwestern wurden in Konzentrationslagern ermordet. Jedoch hatten einige Vertreter der Psychoanalyse Österreich bereits während der Jahre des „Austrofaschismus“ (1934-1938) verlassen. Der „Kulturkampf“ gegen die Psychoanalyse hatte schon in den Jahren der Ersten Republik (1918-1934) begonnen, wobei die Gegner zu dieser Zeit primär aus dem katholischen Lager kamen. Die damalige Kritik war freilich kaum sachlich vorgetragen, vielmehr wurde versucht, die Psychoanalyse mit Schlagworten wie „jüdische Wissenschaft“ und „bolschewistisch unterwandert“ zu denunzieren. Ab 1938 nahmen die Angriffe zu, wobei jedoch nicht allein der Vorwurf des „Jüdischen“ im Vordergrund stand, sondern unter anderem argumentiert wurde, dass die Lehre Freuds „dem Trieb einen Primat vor dem ethischen Begriff der Pflicht eingeräumt [hat]“.1 So hieß es dann entsprechend auch im „Feuerspruch“ bei der nationalsozialistischen Bücherverbrennung: „Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud.“ Thomas Aichhorn führt in seinem Beitrag „Zurück nach Wien?“ aus, dass die PsychoanalytikerInnen Wien nicht deshalb verlassen hätten, weil sie PsychoanalytikerInnen waren, sondern weil sie ihrer jüdischen Abstammung wegen bedroht waren (S. 261). Unzweifelhaft war diese Bedrohung unmittelbar gegeben, man muss aber ergänzend anmerken: Die betroffenen Personen mussten Wien auch deshalb verlassen, weil sie PsychoanalytikerInnen waren. So flüchtete, um nur ein Beispiel zu nennen, auch Richard Sterba, ein Psychoanalytiker, der nicht jüdischer Herkunft war, bereits am 16. März 1938 aus Wien. Von den aktiven Mitgliedern der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ blieben nur Alfred Winterstein, Richard Nepallek und August Aichhorn in Wien.

Auch auf anderen Gebieten, wie zum Beispiel der Fotografie, zeigten die Vertreibungen nachhaltige Wirkungen über 1945 hinaus: Während in anderen Ländern Fotografiegeschichte längst zum wissenschaftlichen Alltag gehört, besteht in Österreich beispielsweise an der Exilfotografie nur sehr geringes Interesse, wie Anna Auer in ihrem Aufsatz ausführt. Gerade auch auf diesem Gebiet hätte Österreich ein hohes Potenzial gehabt, wie die Lebens- und Werkgeschichten von Trude Fleischmann, Walter Curtin, Robert Capa oder Lilly Joos Reich zeigen. Die erwähnten FotografInnen haben ihr Potenzial freilich dann in der Emigration verwirklicht und wurden so, wie viele andere EmigrantInnen auch, zu Brückenbauern.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Vom Weggehen“ einen disziplinübergreifenden Überblick bietet, der anhand einzelner Personen und Gruppen Brüche, Kontinuitäten und fruchtbare Neubeginne aufzeigt. Das Aufzeigen der Geschichten der EmigrantInnen und die Beschäftigung mit dem Bereich der Exilforschung leistet daher auch einen unverzichtbaren Beitrag zur Gedächtnisgeschichte Österreichs.

Anmerkung:
1 Finke, Edmund, Siegmund Freud. Studien zum Europäischen Nihilismus, in: Deutsche Ostmark 4 (1938), o. O., S. 41f.

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