M. Hengel: Der unterschätzte Petrus

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Titel
Der unterschätzte Petrus. Zwei Studien


Autor(en)
Hengel, Martin
Erschienen
Tübingen 2006: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
261 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Metzger, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Innerhalb weniger Monate nach seinem Erscheinen musste Martins Hengels kleines Büchlein „Der unterschätzte Petrus“ zum zweiten Mal aufgelegt werden. Das kleine Werk, das zwei Studien enthält („Petrus der Fels, Paulus und die Evangelientradition“ und „Die Familie des Petrus und andere apostolische Familien“), hat also rasch seine Leser gefunden. Dies ist leicht zu erklären: Hengel schreibt einfach und klar, seine Texte bieten sowohl für den Fachkollegen als auch für den interessierten Laien An- und Einsichten, die interessant sind und zum weiteren Nachdenken anregen. Gerade bei einem Apostelfürsten wie Petrus ist dies natürlich besonders reiz- und verdienstvoll.

Hengel beginnt seine Betrachtung zu Petrus mit der berühmtesten Kirche, die seinen Namen trägt. In der Kuppel der Peterskirche lesen Millionen von Menschen die Verheißung Jesu an Petrus, die sich in Mt 16,17–19 findet. Diese untersucht Hengel in einem ersten Schritt. Er fragt nach dem Ursprung des Textes, nach seiner Entstehung und nach seiner Funktion im Kontext des Evangeliums (S. 3). Matthäus, „ein unbekannter judenchristlicher Schriftgelehrter und vermutlich auch ein erfahrener Gemeindeleiter gegen Ende des 1. Jh.s“ (S. 5), habe den Text unter Aufnahme älteren Stoffes selbst komponiert (S. 4). Damit ist die Frage nach der Entstehungszeit des Textes geklärt. Zwischen 90 und 100 n.Chr. habe Matthäus „im südlichen Syrien bzw. im palästinisch-syrischen Grenzbereich“ (S. 7) den Text verfasst. Unter Kenntnis von Markus und Lukas (!) komponierte Matthäus diesen Text, um Petrus damit eine besondere Vollmacht zuzuweisen. Für ihn ist Petrus eine „einzigartige Autorität der Vergangenheit“ (S. 8). Petrus, der wahrscheinlich im Zuge der neronischen Verfolgung in Rom als Märtyrer starb, ist für Matthäus also von besonderer Bedeutung. Nirgendwo sonst im Neuen Testament wird ein Jünger durch Jesus in dieser Weise ausgezeichnet. Für die historische Forschung ist dies so auffällig wie ärgerlich: auffällig deshalb, weil augenscheinlich Petrus eine der bedeutendsten Gestalten des frühen Christentums war; ärgerlich, weil die Forschung von Petrus selbst keine Zeugnisse in den Händen hält und deshalb darauf angewiesen ist, aus anderen Quellen ihr Wissen über ihn zu schöpfen. So ist nicht einmal sicher, ob Petrus überhaupt schreiben konnte (S. 19). Gegenüber dem Herrenbruder Jakobus, der als Leiter der Jerusalemer Urgemeinde in Erscheinung tritt, und dem gebildeten Pharisäer Paulus erscheint Petrus als volkstümlicher Fischer aus Galiläa. „Im freien Vortrag muß jedoch auch Petrus ein geistesmächtiger Redner gewesen sein“ (S. 21), da sich nur so „seine einzigartige Autorität, die Mt 16,17–19 auf so auffallende Weise hervorhebt, zunächst als Sprecher der Jünger in Jerusalem und später als Missionar auch außerhalb Palästinas erklären“ lässt (S. 21).

Matthäus gründet in seiner Darstellung des Petrus auf Markus. Hengel ist davon überzeugt, dass er deshalb Markus so gründlich aufnimmt, weil hinter dem Markusevangelium die Autorität des Petrus steht (S. 22). Matthäus stellt Petrus als „einzigartige[n] Offenbarungsempfänger des himmlischen Vaters“ dar (S. 23); doch soll das Wort vom „Felsenmann“ bereits auf Jesus selbst zurückgehen (S. 30). Allerdings ist undeutlich, was die Namensänderung meint. Für Matthäus hingegen ist klar, dass die Botschaft des Petrus das maßgebliche Evangelium ist (S. 44). Auf dem Fundament des Petrus soll die Kirche aufbauen. Gegen die Bedeutung des Petrus als Fundament polemisiere Paulus in 1. Kor 3,11. Er wisse, dass die Jerusalemer Gemeinde Petrus als ihr Fundament ansehe, und übe Kritik an dieser Sicht. Paulus habe als Grundstein die Lehre Christi, also Christus selbst gelegt und darauf müsse aufgebaut werden. Für Hengel ist dies eine „indirekte Polemik gegen den Missionar Petrus“ (S. 26).

Um die Bedeutung des Petrus für Matthäus zu erfassen, muss laut Hengel auf die gesamte Wirksamkeit des Petrus geachtet werden. Hengel erklärt Petrus zu der „Grundgestalt“ des frühen Christentums (S. 52). Zusammen mit Paulus und Johannes vertrete er „die apostolische Tradition“ der Kirche bis heute (S. 52). Petrus habe nicht nur eine Fülle von Jesustradition überliefert, von der alle Evangelien mehr oder minder profitieren, sondern er habe auch „als erster Zeuge der Auferstehung die Entstehung der vorpaulinischen Anfänge der Christologie und Soteriologie durch den geistgewirkten Enthusiasmus der nachösterlichen Frühzeit entscheidend mitgestaltet“ (S. 55). Dieser These ist ob ihrer Pauschalität schlecht zu widersprechen. Kritisch ist deshalb anzumerken: Was trägt diese Erkenntnis wirklich aus?

Hengel gibt sich deshalb auch mit dieser These nicht zufrieden: Er fragt weiter. Zunächst nähert er sich Petrus über dessen Schüler an: In scharfer Auseinandersetzung mit Udo Schnelle und Andreas Lindemann vertritt Hengel unter Berufung auf Papias die These, dass Markus ein Schüler des Petrus gewesen sei, der sein Evangelium kurz vor 70 n.Chr. in Rom für überwiegend heidenchristliche Hörer geschrieben habe (S. 58ff.). Das Markusevangelium sei also durchaus in gewissem Grad ein Repräsentant petrinischer Theologie. Nur deshalb habe auch Matthäus das Markusevangelium so gründlich verarbeitet (S. 62). Bei Markus lässt sich laut Hengel also „ein – gewiß theologisch stilisiertes und dramatisch erzähltes – lebendiges Petruszeugnis“ finden (S. 69). Nur weil dies der Alten Kirche bewusst gewesen sei, habe sich das Markusevangelium überhaupt durchsetzen können und nur deshalb habe man ihn rezipiert. Das Evangelium sei damit ein Zeugnis des Jüngers, der seine Schattenseiten und Versäumnisse nicht verschweige, sondern sich selbst als „gerechtfertigten Sünder“ (S. 71) betrachte. Hengel kommt damit zu dem Ergebnis: „Die führende Rolle des Petrus in allen vier Evangelien entspricht der Bedeutung des ‚Felsenmannes‘ für die ganze Kirche von Anfang an.“ (S. 73) Auch hier möchte man eher den Weg der Hengelschen Beweisführung in Frage stellen als das Ergebnis.

Hengel fragt aber wieder weiter: Wie kommt es zu der überragenden Bedeutung des Petrus im gesamten Urchristentum? Er sucht die Antwort in den entscheidenden Jahren nach dem Apostelkonzil. Petrus muss auch gegen die Darstellung der Apostelgeschichte westliche Gemeinden besucht und dort missioniert haben (S. 79). In diesen Jahren stand er „zwischen den beiden Flügeln, die durch Jakobus und Paulus […] markiert sind. Eben diese Zwischenposition […] bildet die Voraussetzung seiner großen Wirksamkeit“ (S. 84). Petrus war für Hengel demnach in Konkurrenz zu Paulus auch Heidenmissionar. Im Gegensatz zu Paulus konnte er mit einer Fülle von Jesustradition aufwarten und wuchern (S. 85). Theologisch dürfte er nicht gesetzestreu im Sinne Jakobus’ gewesen sein, sondern näher bei Paulus gestanden haben (S. 87). Gerade diese Nähe zu Paulus lässt den Konflikt zwischen den beiden Aposteln schwerwiegend erscheinen. Der antiochenische Zwischenfall ist laut Hengel in seiner Bedeutung für das Verhältnis der beiden Apostel nicht zu unterschätzen. Zwischen der zweiten und dritten Missionsreise des Paulus, laut Hengel also etwa 52/53 n.Chr., seien Paulus und Petrus über die Frage der Tischgemeinschaft von Juden und Heiden in Streit geraten. Was für Petrus reine Rücksichtnahme auf jüdische Brüder gewesen sei (S. 98), trage für Paulus die Signatur des Verrats. Für Petrus ging es dabei nach Hengel darum, „durch einen Kompromiß die gefährdete Einheit zwischen Missionsgemeinden außerhalb von Eretz Israel und Jerusalem aufrechtzuerhalten“ (S. 105). Für Paulus aber habe sich Petrus damit disqualifiziert. Spätestens seit diesem Vorfall habe also zwischen Petrus und Paulus eine Konkurrenzsituation geherrscht (S. 120).

Deutlich werde dieses Verhältnis vor allem in den Korintherbriefen. Die von Paulus kritisierte Kephas-Partei zeige den Einfluss des Petrus in Korinth, gegen den sich Paulus wehren musste (S. 110). Gegenüber den Vorwürfen seiner Gegner, die „ihm einen erheblichen Mangel an charismatischen Gaben und Glaubwürdigkeit vorwerfen“ (S. 117), habe Paulus Stellung beziehen müssen. Allerdings habe er immerhin in 1.Kor 15,11 festhalten können: „Das eine Evangelium von Christi Sühnetod und Auferstehung […] eint uns alle trotz erheblicher Differenzen und bleibt die objektive Grundlage des gemeinsamen Glaubens.“ (S. 111) Diese Konkurrenz zwischen Petrus und Paulus habe Lukas verwischt, indem er die beiden Protagonisten in seiner Apostelgeschichte erzählerisch trenne. Historisch falsch, lässt er Paulus Petrus verdrängen (S. 127). Nachdem Hengel also das historische Umfeld des Petrus beschrieben hat, ohne dass sich daraus wirklich große, neue Erkenntnisse ergeben hätten, wendet er sich der theologischen Bedeutung des Petrus zu. Petrus habe – wie Lukas richtig darstelle – eine „einzigartige Brückenfunktion zwischen der Wirksamkeit Jesu und der Völkermission des Paulus“ (S. 129) inne gehabt. Für die Synoptiker ist Petrus „der maßgebliche Jünger“ (S. 133). Die Bedeutung des Petrus, die Hengel damit wiederholt herausstreicht, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Wie aber können wir der Theologie des Petrus auf die Spur kommen?

Hengel vermutet in den Petrusreden der Apostelgeschichte, aber auch im Markusevangelium petrinische Spuren (S. 138f.). Deutlich werde jeweils, dass Petrus sicherlich „die Zuwendung zum Sünder“ und die „Vergebung der Sünden“ (S. 140) als Kern der Heilsbotschaft Jesu vertreten und gepredigt habe. Gerade auf dem Hintergrund seiner eigenen Biographie des Scheiterns sei dies sehr gut denkbar (S. 140). Petrus wird ebenso bei der Herausbildung des frühestens Kerygmas eine entscheidende Rolle zugewiesen (S. 143). Durch die synoptische Tradition, deren reichster Quellgrund Petrus gewesen sei, könne seine theologische Bedeutung gar nicht unterschätzt werden. Auch das persönliche Treffen von Petrus und Paulus zu Beginn des paulinischen Apostolats in Jerusalem habe auf Paulus eine entscheidende Wirkung gehabt (S. 144). Insofern kann Hengel folgern: „Über Markus, aber dann auch über Lukas und Matthäus, ja sogar partiell über Paulus und Johannes, man könnte darum auch sagen, über das apostolische Zeugnis ist er […] unser aller Lehrer geworden.“ (S. 145) Seine Bedeutung sei damit aber nicht erschöpft: „Petrus war nicht nur ein geistesmächtiger Prediger und theologisch schöpferischer Seelsorger, sondern auch […] ein erfolgreicher Organisator und Missionsstratege.“ (S. 145) Hengel vermutet, dass er „bei der Konsolidierung der noch unorganisierten Jesus- (und Täufer-) Bewegung nach Ostern im Mutterland eine, ja wahrscheinlich die maßgebliche Rolle spielte“ (S. 146). Petrus sei also sowohl in theologischer als auch in kybernetischer Hinsicht nicht zu unterschätzen und deshalb zu Recht in der kirchlichen Tradition als eine der wichtigsten Gestalten der frühen Christenheit betrachtet worden.

Bevor Hengel seine Betrachtungen in 10 Thesen zusammenfasst, fragt er, ob Paulus und Petrus sich irgendwann wieder versöhnt haben. Seine Antwort liest sich wie ein hermeneutischer Grundsatz der ganzen Untersuchung: „Wir wissen es nicht, möchten es aber vermuten.“ (S. 158) Hengels Studie ist sicherlich sehr gelehrt, und er schafft es, einzelne Beobachtungen zu einem großen Bild zusammenzufügen, doch kann auch seine historische Phantasie keine Quellen ersetzen. Er möchte wissen und vermutet deshalb. Seine Vermutungen sind klar gekennzeichnet und oftmals sind sie historisch wahrscheinlich – manchmal scheint aber doch der Wunsch zu wissen zu deutlich im Hintergrund der Vermutungen zu stehen.

In der zweiten Studie des Bandes beschäftigt sich Hengel mit der Familie des Petrus. Deutlich wird, dass Petrus verheiratet war und seine Beauftragung zum Menschenfischer nicht als Scheidungsgrund angesehen hat. Hengel vermutet, dass analog zu Petrus auch andere Jünger Jesu verheiratet waren, und kann deshalb darauf hinweisen, dass die Jesusbewegung auch eine Frauenbewegung war (S. 176ff.). Gegenüber dem die Ehelosigkeit propagandierenden Paulus habe Petrus seine Frau auch auf Missionsreisen mitgenommen. Hengel sieht deshalb bereits „von Anfang an zwei widerstrebende Kräfte am Werk: Einmal die Nähe des Endes und die im Zusammenhang damit geforderte Freiheit für den Dienst gegenüber dem kommenden Herrn und andererseits die Notwendigkeit der Hausgemeinde als Kern des ständig fortschreitenden Gemeindeaufbaus“ (S. 219). Die Hochschätzung der Ehe habe sich aber im Laufe der Zeit auch unter Einfluss von Paulus abgeschwächt, was der historischen Realität im Urchristentum widerspreche.

Trotz der bereits geäußerten kritischen Bemerkungen muss auch diesem Werk Hengels attestiert werden, dass es wert ist, gelesen zu werden. Er verliert sich weder im Detail exegetischer Forschung, noch vermeidet er es, seine Thesen und ihre Lücken zu verstecken. Vielmehr trägt er selbstbewusst vor, was er für wahrscheinlich hält und scheut dabei weder den Konflikt noch die offene Flanke. Nur so kann meines Erachtens wissenschaftliche Erkenntnis fortschreiten. Deshalb ist es immer wieder eine Freude und ein Gewinn, Hengels Texte zur Kenntnis zu nehmen.

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