S. Lehmann: Kreisleiter der NSDAP in Schleswig-Holstein

Titel
Kreisleiter der NSDAP in Schleswig-Holstein. Lebensläufe und Herrschaftspraxis einer regionalen Machtelite


Autor(en)
Lehmann, Sebastian
Erschienen
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Stelbrink, Soest

„Die Kreisleiter bildeten in gehobener Ebene die Säulen des ganzen Naziregimes“.1 Trotz dieses zutreffenden Urteils eines deutschen Spruchgerichts aus dem Jahre 1948 zählten die regionalen und lokalen Instanzen der NSDAP jahrzehntelang zu den Stiefkindern der Zeitgeschichtsschreibung. Allzu lange war die Forschung auf das Trugbild eines monolithischen Zentralstaates fixiert; eine Beschäftigung mit den Kreisleitern galt unter dieser Perspektive als kaum der Mühe wert. Der Wind drehte sich erst, nachdem sich der Blick der Historiker seit den 1970er-Jahren allmählich auf den „Nationalsozialismus in der Region“ erweiterte.2 Nach einer relativ frühen Kreisleiter-Studie aus dem Jahr 1989 3 entstanden seit den späten 1990er-Jahren eine ganze Reihe weiterer Untersuchungen, die unsere Kenntnisse entscheidend erweitert haben.4 Nach wie vor besteht jedoch ein deutlicher Bedarf an weiteren Regionalstudien.

Vor diesem Hintergrund möchte Lehmann nicht nur neue Erkenntnisse über die regionale Herrschaftsgeschichte der NSDAP „in seiner schleswig-holsteinischen Ausformung“ (S. 24) vorlegen, sondern durch die „explizit komparative Ausrichtung der Arbeit“ auch einen „wichtigen Teil des Gesamtbilds“ (S. 19) beitragen. Er wählt dazu einen sammelbiographischen sowie einen organisations- und strukturgeschichtlichen Ansatz. Insbesondere richtet sich seine Aufmerksamkeit auf die Lebenswege und Karriereverläufe der Kreisleiter vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik, auf die Organisations- und Funktionsgeschichte der in Schleswig-Holstein besonders früh gebildeten, stetig expandierenden Kreisleitungen sowie auf das Selbstverständnis und die Herrschaftspraxis der Amtsinhaber gegenüber Einwohnern und Behörden.

Als Grundlage seiner biographischen Untersuchungen dienen ihm sämtliche 82 Personen, die zwischen 1927 und 1945 als Kreisleiter in den rund 20 Parteikreisen des Gaues Schleswig-Holstein fungiert haben. Die Amtsinhaber stammten demnach ganz überwiegend aus dem „aufstrebenden Teil des kleinbürgerlichen Mittelstandes“ (S. 473) Schleswig-Holsteins. Enttäuschte Aufstiegserwartungen und eine subjektiv empfundene Furcht vor gesellschaftlicher Deklassierung führten sie frühzeitig in die damals noch marginale NSDAP. Dort zählten sie fortan zum „personellen Kernbestand“ (ebd.) der regionalen Organisation und übernahmen alsbald Leitungsfunktionen in der aufstrebenden Partei. In ihren Sozialmilieus fungierten sie damit nicht nur vor 1933 als Türöffner für die NS-Ideologie. Der vor 1933 praktizierte entbehrungsreiche Aktivismus für die Partei verfestigte sich zum „Habitus“ des „politischen Kämpfers“ (ebd.).

Nach der Machtübernahme gewann diese langfristige Disposition prägenden Einfluss auf ihre Herrschaftspraxis als Kreisleiter. Die häufig als Aufstieg empfundene Berufung ins Kreisleiteramt verdankten sie vornehmlich ihrem engen „Gefolgschaftsverhältnis“ (S. 474) zum Gauleiter. Die im Gauvergleich relativ niedrige Fluktuation auf den Kreisleiterposten resultierte vor allem aus dem veränderten Anforderungsprofil nach der Machtübernahme und neuen, attraktiven Karriereperspektiven für die Amtsinhaber. Die ausgedünnte Personaldecke während des Krieges erforderte eine weitgehend improvisierte Personalpolitik. Eine systematische Nachwuchsschulung für Kreisleiter fand ebenso wenig statt wie in der Vorkriegszeit. Ihre rasche Reintegration in die örtliche Nachkriegsgesellschaft bereitete aufgrund ihrer tiefen „Verwurzelung“ in der „ländlichen Gesellschaft“ sowie effizienter „Vertuschungsnetzwerke“ (S. 480f.) wenig Probleme. Nach durchstandener Internierung und halbherziger Entnazifizierung konnten sie in der frühen Bundesrepublik beruflich und gesellschaftlich meist dort anknüpfen, wo sie bereits vor 1933 gestanden hatten.

Die Herrschaftspraxis der Kreisleiter gegenüber der Bevölkerung untersucht Lehmann vornehmlich am Beispiel von drei offiziellen bzw. okkupierten „Herrschaftsmitteln“ (S. 23). Die Ausübung der NSDAP-Kreisgerichtsbarkeit, die „politische Beurteilungen“ und die Verhängung von „Schutzhaft“ erfolgte nach Lehmanns Feststellungen zwar allermeistens „reaktiv“, ermöglichte aber „jederzeit“, „effektiv Herrschaft [...] auszuüben“, sofern dies „im Einzelfall [...] politisch opportun“ erschien (S. 235f.). Der strukturelle „Dualismus“ zwischen Kreisleitern und Landräten war in seinen konkreten Auswirkungen „sehr stark individualisiert“ (S. 312). Generell geht Lehmann aber wohl zu Recht davon aus, dass die jeweiligen Kontrahenten meist einen „modus vivendi“ gefunden haben, der ein „ausreichendes Maß an Kooperation“ (S. 313) sicherstellte. Den enormen Machtzuwachs der Kreisleiter im Krieg behandelt Lehmann vornehmlich anhand ihrer formellen und informellen Einbindung in die Organisation des Zwangsarbeitereinsatzes, des Befestigungsbaus sowie des „Volkssturms“.

Seine stärksten Passagen hat das Buch bei der ausführlich angelegten Untersuchung der Kreisleiter-Biographien. Der flächendeckende Zugriff ermöglicht Lehmann eine überzeugende Entwicklung seiner Arbeitsergebnisse. Auf diese Weise kann er die Erkenntnisse anderer Autoren prinzipiell bestätigen, häufig aber auch modifizieren und erweitern. Besonders hervorzuheben ist auch der gelungene Versuch, die komplexen Beziehungen zu den Landräten durch eine sorgfältige Landratstypologie und zwei sehr instruktive Fallstudien ansatzweise in den Griff zu bekommen. Die darüber hinaus gehende Analyse der Herrschaftspraxis kann dagegen nicht völlig überzeugen, weil die drei besprochenen „Herrschaftsmittel“ sich vornehmlich nur für punktuelle Interventionen eigneten. Gerne hätte man erfahren, in wie weit sich für die Kreisleiter darüber hinaus Spielräume für systematische Repressionsstrategien, etwa für eine teilautonome „Juden-“ oder „Kirchenpolitik“ in Kooperation oder Konfrontation mit den örtlichen Kommunalbehörden ergaben.

Vor allem aber erscheint es generell fraglich, ob die Herrschaftspraxis der Amtsinhaber mit den geschilderten, fast ausschließlich repressiven „Herrschaftsmitteln“ erschöpfend charakterisiert wird. Lehmann selber lässt es an einigen Stellen ja durchaus anklingen: Die Kreisleiter demonstrierten gegenüber der großen Mehrheit der politisch konformen „Volksgenossen“ oft ein geradezu paternalistisches Amtsverständnis; sie entsprachen damit nicht zuletzt einer Erwartungshaltung ihres Gauleiters und breiter Bevölkerungskreise. Diese propagandistisch weidlich instrumentalisierte Herrschaftsvariante erschöpfte sich zwar oft genug, jedoch längst nicht immer in kurzatmigem „Sozialpopulismus“.5 Gerade weil die schleswig-holsteinischen Kreisleiter meist tief im Sozialmilieu „ihres“ Kreises verwurzelt waren, relativ fest im Sattel saßen und über eine große informelle Machtfülle verfügten, wäre darüber hinaus aber auch verstärkt nach dauerhaft angelegten, sogenannten „positiven Leistungen“ für „ihre“ Kreise zu fragen.6 Zu denken wäre dabei etwa an Wohnsiedlungen, Kultur- und Sporteinrichtungen, Verkehrsanbindungen etc.

Jeder Kundige kann sich unschwer vorstellen, dass diese Vernachlässigung der paternalistischen Herrschaftsvariante nicht zuletzt der „außergewöhnlich desolaten“ (S. 25) Quellenlage geschuldet ist. Antworten auf diese Fragen sind am ehesten durch eine intensive Auswertung von örtlichen Tageszeitungen und Sachakten zu erwarten. Derartige Recherchen sind im Rahmen von großflächig angelegten Untersuchungen selbstverständlich nicht zu leisten. Dagegen könnten entsprechend angelegte Fallstudien auf diesem Gebiet bedeutend weiterführen.

Ungeachtet dieser Bemerkungen bleibt jedoch festzuhalten, dass Lehmann eine Untersuchung auf hohem Niveau vorgelegt hat, die einen wichtigen Orientierungspunkt für zukünftige Forschungen zur regionalen Geschichte der NSDAP darstellen wird. Gerade wegen der hohen fachlichen Qualität seiner Arbeit ist es allerdings umso bedauerlicher, dass der Autor offenbar keine gründliche Endredaktion geleistet hat. Folglich übersteigt die Anzahl grammatischer Flüchtigkeitsfehler das tolerierbare Maß bei weitem.

Anmerkungen:
1 Zit. nach Stelbrink, Wolfgang, Die Kreisleiter der NSDAP in Westfalen und Lippe. Versuch einer Kollektivbiographie mit biographischem Anhang, Münster 2003, S. 92.
2 Siehe Möller, Horst u.a. (Hrsg.), Nationalsozialismus in der Region, München 1996.
3 Fait, Barbara, Die Kreisleiter der NSDAP – nach 1945, in: Broszat, Martin u.a. (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1989, S. 213-299.
4 Dazu vor allem Nolzen, Armin, Funktionäre in einer faschistischen Partei. Die Kreisleiter der NSDAP, 1932/33 bis 1945, in: Kössler, Till; Stadtland, Helke (Hrsg.), Vom Funktionieren der Funktionäre. Politische Interessenvertretung und gesellschaftliche Integration in Deutschland nach 1933, Essen 2004, S. 37-75 sowie die dortigen Literaturangaben.
5 Zit. nach Nolzen, Funktionäre, S. 67 und 73.
6 Zit. nach Ziegler, Walter, Gaue und Gauleiter im Dritten Reich, in: Möller, Nationalsozialismus, S. 139-159, hier S. 152f. Siehe dazu auch Stelbrink, Wolfgang, Die Dortmunder Kreisleiter der NSDAP. Zur Biographie und Herrschaftspraxis einer lokalen NS-Elite, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark, Bd. 95 (2004), S. 133-211, hier S. 166-170 und 181; Königstein, Rolf, Alfred Dirr. NSDAP-Kreisleiter in Backnang, Backnang 1999, S. 197-203.

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