E. Wirbelauer u.a. (Hrsg.): Die Freiburger Philosophische Fakultät

Cover
Titel
Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920-1960. Mitglieder - Strukturen - Vernetzungen


Herausgeber
Wirbelauer, Eckhard; Hausmann, Frank-Rutger; Paletschek, Sylvia
Reihe
Freiburger Beiträge zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 1
Erschienen
Freiburg u.a. 2007: Karl Alber Verlag
Anzahl Seiten
1034 S. + CD-Rom
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang E.J. Weber, Universität Augsburg

Während die Erforschung der nationalsozialistischen Universitätsgeschichte ungeachtet noch gelegentlicher Hemmungen kräftig voranschreitet, bleibt die Phase nach 1945 bisher unterbelichtet oder gar vollständig ausgeblendet. Umso gespannter nimmt man deshalb den vorliegenden, in seiner Untersuchungszeit interessant quer liegenden, mit über 1000 Seiten ungewöhnlich umfangreichen und angesichts seiner Beschränkung auf eine Fakultät spezifisch detailkenntnisträchtigen, schließlich auch gediegen gestalteten Sammelband zur Hand.

Aus dem Grußwort des Rektors und der Einführung des Hauptherausgebers, Eckhard Wirbelauer, ist zunächst zu schließen, dass die Initiative zum Kollegium von 2003, welches der Kollektion zugrunde liegt, einerseits von dem bereits einschlägig ausgewiesenen Herausgeber, der als Professor für Römische Geschichte in Straßburg lehrt, andererseits von dem universitäts- und wissenschaftsgeschichtlich ebenfalls bekannten, mittlerweile emeritierten Romanisten Frank-Rutger Hausmann ausging. Die wenigen Freiburger Neuzeithistoriker, die sich beteiligten, scheinen also erst später dazu gestoßen zu sein. Ein weiterer bemerkenswerter Punkt ist die Offenheit, mit der hier die „wohl“ auf „persönlicher Eitelkeit“ beruhende Bestrebung vor allem des bis in die 1960er-Jahre bundesweit führenden Gerhard Ritter angesprochen wird, „für die Nachwelt zu leben“, also die Weichen für ein möglichst günstiges eigenes Bild in der künftigen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte zu stellen (S. 22). Derartige explizite Einschätzungen wären noch bis vor kurzem für die eigene Karriere einigermaßen gefährlich gewesen!

Im ersten Kapitel skizzieren Bernd Martin und Sylvia Paletschek das politisch-weltanschauliche Umfeld und die Entwicklung der Fakultät anhand der Fakultätsprotokolle im Überblick. Der erstere, dem maßgebliche Verdienste für die Freiburger Universitätsgeschichte zukommen (S. 262, Anm. 4), lässt es zwar an korrekter politischer Kritik nicht fehlen und teilt unter anderem die bisher unbekannte, auch im biographischen Anhang des Bandes nicht ausgewiesene Parteimitgliedschaft des katholischen Historikers Clemens Bauer mit (S. 47), irritiert aber etwas durch seine Tendenz, am traditionellen Professorenideal festzuhalten: „Doch Wankelmut und Opportunismus, bisweilen sogar Charakterlosigkeit, der Mehrzahl der geistigen Leitfiguren waren auch immer eine Herausforderung für eine kleinere Minderheit, dem allgemeinen Trend, meist in Form der Versuchung der Macht, zu widerstehen, [und] sich als Professoren im wahrsten Sinne des Wortes zu bekennen.“ (S. 29) Der letztere in seiner Bewältigung der Aspektvielfalt beeindruckend souveräne Beitrag ist durch zwei Anhänge, darunter eine Professurentabelle, ergänzt.

Das zweite Kapitel setzt sich aus Porträts einzelner Fächer und Fächergruppen sowie einem Selbstzeugnis des Philosophen Odo Marquard aus seiner Freiburger Studentenzeit zusammen. Durch besonders „dichte Beschreibung“ (S. 115, Anm. 13) und üppigen Quellenabdruck ragt der Beitrag des Herausgebers zur Alten Geschichte und Klassischen Archäologie hervor. Auch die Philologien, die Musikwissenschaft und die Mittelalterliche Geschichte – aus der bewährten Feder Anne Chr. Nagels – und die Rundfunk- und Zeitungswissenschaft sind gut vertreten, während die Neuere Geschichte durch Abwesenheit glänzt. Wie sehr gerade Gerhard Ritter einem traditionellen nationalistisch-historischen Geschichtsbild verhaftet blieb, erhellt allerdings eine in seinem erfrischend persönlich-kritischen Beitrag zur Politikwissenschaft von Dieter Oberndörfer mitgeteilte Episode (S. 585f.).

Besondere Erwähnung verdienen die Beiträge des dritten Kapitels zum „Innenleben“ der Fakultät. Der Universitätsarchivar Dieter Speck beleuchtet, auf der Grundlage einer vergleichsweise günstigen Quellenlage, die informellen Beziehungen Freiburger Professoren in Form von Stammtischen, Kreisen und Kränzchen, leider nur unter gelegentlicher Reflexion der Bedeutung dieser Verhältnisse etwa für Berufungen (vgl. S. 616). Zwei weitere Studien untersuchen – leider in etwas enger Argumentationsführung – die Habilitationen und Ehrenpromotionen im chronologischen Verlauf. Eine abschließende Analyse befasst sich vornehmlich statistisch vergleichend mit der Förderung der Fakultät durch die DFG bis 1970, mit Verweis auf die Wichtigkeit von Netzwerken und persönlichen Kontakten, die neben der individuellen Qualifikation für wissenschaftliche Innovation oder zumindest für erfolgreiche Drittmittelbeantragung ausschlaggebend waren.

Das vierte Kapitel zur Stellung der Philosophischen Fakultät innerhalb der Gesamtuniversität hätte man sich weiter vorne im Band platziert gewünscht. Das fünfte Kapitel, betitelt „Spielball der Mächte? Äußere Einwirkungen auf die Philosophische Fakultät und ihre Professoren“, enthält weitere Selbstzeugnisse – darunter ein Interview Helmut Heibers mit Gerhard Ritter aus dem Jahre 1962 – und Erörterungen des Einflusses der französischen Besatzungsmacht und des Badischen Kultusministeriums bis 1952; ein Anschlussbeitrag zur baden-württembergischen Phase fehlt. Darüber hinaus enthält es persönliche Stellungnahmen dreier Historiker, die zum Teil der Kritik bedürfen, und ein Nachwort der Dekane der heute getrennten Philologischen und Philosophischen Fakultäten. Schließlich ist ein Dekansverzeichnis (1886-1970) und ein Verzeichnis des wissenschaftlichen Personals der Fakultät von 1910 bis 1970 angefügt. Eine beigegebene CD-Rom enthält den gesamten Band als pdf-Datei.

Mit dieser wegweisenden Sammlung von Studien und Quellen verfügen die Philosophischen Fakultäten der Universität Freiburg über eine Darstellung ihrer Entwicklung, die in ihrer Detailfülle ihresgleichen sucht. Bemerkenswert und schmerzlich ist allerdings das bereits erwähnte Fehlen eines Beitrags zur Neueren Geschichte; offenbar wurde damit ein Magister betraut, der seine Ausführungen dann aber nicht in den Druck gab. Über die Errungenschaft detaillierter Vergewisserung über die eigene Geschichte hinaus bestechen viele Beiträge dadurch, dass sie ihren Selbstvergewisserungshorizont in früher als akademisch unerheblich deklarierte und tabuisierte, angeblich rein private Lebenswelten von Professoren hinein erweitern.

Die weitgehende Selbstverständlichkeit, mit der die Studentengeschichte und die Geschichte des ‚Mittelbaus’ fast durchweg ausgeblendet werden, erstaunt indessen. Und von den Perspektiven, die eine Kulturgeschichte der Universität und Wissenschaft bieten, ist noch kaum Gebrauch gemacht worden. Nur gelegentlich werden die Voraussetzungen, Erscheinungsformen und Folgen der Kommunikation oder Nichtkommunikation zwischen Professoren und Nichtprofessoren thematisiert, so etwa das „Tabu“ des Redens über entscheidende Angelegenheiten mit den Nichthabilitierten (S. 857). Der Prozess der fachlichen Sozialisation, Leistung und Leistungsbeurteilung, der Auswahl für die akademische Förderung, die konkreten Formen und Folgen der nur sehr beiläufig erwähnten ‚Ordinarienherrschaft’ bleiben unerforscht. Anders formuliert: Die Geschichte der Fakultät, deren relative Eigenständigkeit und Zusammengehörigkeit unzweifelhaft zum Ausdruck kommt, wird im Kern als Vor-, Verlaufs- und Nachgeschichte der NS-Zeit dargeboten, aber kaum als Vorgeschichte der 1968er, die nach Ernst Schulin erst noch zu erforschen sind (S. 855).

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