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Titel
Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Besier, Gerhard; unter Mitarbeit von Katarzyna Stokł osa
Erschienen
Anzahl Seiten
879 S., 20 Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holm Sundhaussen, Freie Universität Berlin

Der Direktor des Hannah-Arendt-Instituts in Dresden, Gerhard Besier, und die polnische Historikerin Katarzyna Stokłosa betonen zu Recht, dass die Geschichte Europas im vergangenen Jahrhundert ganz wesentlich durch autoritäre und diktatorische Regime geprägt wurde. Erstmals unternehmen sie den Versuch, alle Diktaturen des Kontinents in einem einzigen Band zu präsentieren – ein beeindruckendes Unternehmen, das angesichts der zersplitterten und detaillierten Forschungslandschaft ein enormes Lesepensum voraussetzte. Sicher werden Expertinnen und Experten für die behandelten Länder auf einzelne Fehler, Ungenauigkeiten oder „schiefe“ Formulierungen im Detail stoßen, doch geht es im Folgenden vor allem um das Konzept der Darstellung. Wie schwierig es noch immer ist, eine Geschichte Europas im 20. Jahrhundert zu schreiben, macht das vorliegende Werk deutlich.

Die Autoren haben das 20. Jahrhundert in zwei Zeitabschnitte gegliedert: Vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (S. 15-306) und vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart (S. 307-639), wobei der zweite Teil noch einmal untergliedert ist in die Zeit bis zu Stalins Tod 1953 (S. 307-428) und die Zeit danach. Nicht der Umbruch von 1989 und das Ende des Ost-West-Gegensatzes, sondern der Tod Stalins rückt damit als zeitliche Zäsur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund – eine Entscheidung, über die man streiten kann. Lediglich die Darstellung der Diktaturen in Portugal und Spanien sowie des Obristenregimes in Griechenland (1967–1974), die alle im ersten Teil behandelt werden, sprengen das gewählte zeitliche Gliederungsschema.

Innerhalb der zwei bzw. drei Zeitabschnitte wird die Entwicklung der einzelnen Nationalstaaten nacheinander abgehandelt. Im ersten Zeitabschnitt werden 16 Staaten untersucht (Russland/Sowjetunion, die drei baltischen Staaten, Italien, Ungarn, Polen, Deutschland, Österreich, Portugal, Spanien, Griechenland, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und Albanien; das Vichy-Regime in Frankreich blieb unberücksichtigt). Im zweiten Zeitabschnitt bis zu Stalins Tod sind es 9 Staaten (Sowjetunion, Polen, Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, DDR, Jugoslawien und Albanien) sowie im dritten Teil von 1953 bis zur Gegenwart 13 Staaten (Sowjetunion/Russland, die drei baltischen Staaten, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei bzw. Tschechien und die Slowakei, DDR, Rumänien, Jugoslawien, Bulgarien und Albanien). Das sind insgesamt – selbst wenn man die baltischen Länder zusammenfasst – weit mehr als 30 Unterkapitel, für die im Durchschnitt 15-20 Seiten zur Verfügung standen. Gewiss schwanken die Umfänge der einzelnen Unterkapitel, doch haben sich Besier und Stokłosa darum bemüht, auch die kleinen Länder – soweit der Forschungsstand dies zuließ – angemessen zu berücksichtigen, was naturgemäß zu Lasten der „großen Diktaturen“ ging. Angesichts der Fülle an Informationsmöglichkeiten zu den Letzteren ist dieses Verfahren durchaus gerechtfertigt.

Die Darstellung der einzelnen Länder ist weitgehend deskriptiv, fokussiert auf die Politik- und Ereignisgeschichte. Dabei geht es nicht (nur) um die jeweiligen autoritären oder diktatorischen Regime, sondern um eine stark komprimierte Abhandlung der jeweiligen Staatsgeschichte. Das Resultat ist ein Stakkato von Namen und Ereignissen (Staatspräsidenten, Ministerpräsidenten, Minister, Parteiführer, Kriege, Friedensschlüsse, Regierungswechsel etc.). Für den Leser stellt dieses Verfahren eine gewaltige Herausforderung dar – bei sehr begrenztem Erkenntniswert. Das Werk (mit seinem umfangreichen Literaturverzeichnis, S. 739-863) ähnelt einem Handbuch, das sich besser zum Nachschlagen als zum durchgängigen Lesen eignet. Von Band 7 des „Handbuchs der europäischen Geschichte“1 unterscheidet sich das vorliegende Werk vor allem durch vier Merkmale: erstens die Fokussierung auf die autoritären und diktatorischen Regime, zweitens die zeitliche Ausweitung der Darstellung bis zur Gegenwart, drittens die Einbeziehung jüngster Forschungsergebnisse und viertens die Beschränkung auf zwei Autoren. Die interpretatorischen Chancen, die damit verbunden sein könnten, werden jedoch zu wenig genutzt.

Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte werden bei den einzelnen Ländern des Werks in sehr unterschiedlichem Ausmaß berücksichtigt, während die Kulturgeschichte überhaupt nicht vorkommt. Für eine Analyse der undemokratischen Regime, ihrer Ähnlichkeiten und Unterschiede, ihrer Entstehungen und Verlaufsformen ist diese Vorgehensweise überaus problematisch. Ein systematischer Vergleich der politischen Systeme wird damit unmöglich. Daran ändern auch die zwei Kapitel des Buches nichts, die einen länderübergreifenden Charakter haben. Gemeint sind Kapitel 6 (Mittel-, Ostmittel- und Südosteuropa nach 1989 – Systemtransformationen und Vergangenheitsaufarbeitung, S. 640-672) sowie Kapitel 7 (Politische Religion – Totalitarismus – Moderne Diktatur, S. 673-701). In beiden Kapiteln beschränken sich die Verfasser im Wesentlichen darauf, unterschiedliche Erklärungsansätze und Modelle zu referieren, ohne sich selber zu positionieren oder ihre umfangreiche Darstellung mit einer Bilanz abzuschließen. Die historische Perspektive wird in beiden Kapiteln zugunsten politikwissenschaftlich und soziologisch orientierter Ansätze aufgegeben.

Aus historischer Sicht sind jedoch die anderthalb Jahrzehnte seit dem Umbruch im östlichen Europa eine relativ kurze Zeitspanne, die noch kein Urteil über Erfolg oder Misserfolg der Transformationsprozesse gestattet. Die hochgeschraubten Erwartungen im Übergang von den 1980er- zu den 1990er-Jahren, dass Osteuropa in wenigen Jahren ein Teil Westeuropas werden würde, waren völlig weltfremd. Gesellschaftlicher und mentaler Wandel braucht seine Zeit. Nicht zuletzt die westdeutsche Geschichte nach 1945 liefert dafür reichhaltiges Anschauungsmaterial, das für einen Vergleich von Ähnlichkeiten und Unterschieden hätte genutzt werden können. Wer Anfang der 1960er-Jahre die Einstellungen und Meinungen in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland untersuchte, konnte zu ähnlich kritischen Urteilen gelangen wie Besier und Stokłosa hinsichtlich der Ergebnisse des Transformationsprozesses in den postsozialistischen Ländern (insbesondere in Polen). Dass sich grundsätzliche Wertesysteme nicht innerhalb weniger Jahre ändern, stellt für Historikerinnen und Historiker keine Überraschung dar. Aber warum das historische Erfahrungspotenzial für die vorliegende Darstellung nicht genutzt wurde, bleibt ein Rätsel.

So verdienstvoll eine nüchterne und kritische Gesamtdarstellung aller europäischen Diktaturen ist – eine „neue Geschichte des 20. Jahrhunderts“ ist dabei nicht herausgekommen. Die deskriptiv-additive Darstellung ohne strukturierende Thesen kann eine Analyse nicht ersetzen. Und vielleicht ist dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt – gerade bei Einbeziehung der kleineren, weniger gut erforschten Diktaturen – auch noch gar nicht möglich. Der Leser wird mit einer Fülle von Informationen überhäuft, die zu einem besseren Verständnis der Geschichte Europas wenig beitragen (über die bereits vorliegenden Gesamtdarstellungen etwa von Eric Hobsbawm, François Furet, Tony Judt oder Mark Mazower hinaus). Das Ergebnis wäre vermutlich anders ausgefallen, wenn die Ereignisgeschichte durch eine Perspektive der longue durée sowie durch sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte ergänzt worden wäre – anstelle der vielen Fakten, die auch anderswo nachzulesen sind.

Anmerkung:
1 Schieder, Theodor (Hrsg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 7: Europa im Zeitalter der Weltkriege, Stuttgart 1979, 3. Aufl. 1996.

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