V. Hediger u.a. (Hrsg.): Filmische Mittel, industrielle Zwecke

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Titel
Filmische Mittel, industrielle Zwecke. Das Werk des Industriefilms


Herausgeber
Hediger, Vinzenz; Vonderau, Patrick
Erschienen
Berlin 2007: Verlag Vorwerk 8
Anzahl Seiten
349 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Thomas Meyer, Essen

Beim Industriefilm handelt es sich trotz des iconic turns noch immer um ein wenig prestigeträchtiges und weitgehend vernachlässigtes Forschungsfeld, was angesichts des zu erwartenden Erkenntnisgewinns, den die Beschäftigung mit dem Industriefilm über das Verhältnis von Unternehmen, Gesellschaft, Mensch und Technik bereithält, verwundert. 1 Ein Grund, warum sich der Industriefilm der Forschung entzieht, liegt darin, dass Industriefilme oftmals nur einem kleinen Kreis von Zuschauern zugänglich gemacht werden und man bis heute den umständlichen Weg in die Archive und Museen antreten muss, um sie zu sichten. Ein weiterer Grund liegt wohl auch an der platonisch geprägten, ikonoklastischen Bildtheorie der Wissenschaftstradition, die Bildern eine außergewöhnliche Verführungskunst zuschreibt. Diese Herabsetzung des Bildes scheint nirgends sonst so ausgeprägt zu sein wie im Propaganda – und Industriefilm: Hier bestimmen die Gesetze des Marktes die audio-visuelle Rhetorik und nicht ihr dokumentarisch-kritischer Anspruch.

In dieser großen Forschungslücke kann selbst ein erster Sammelband wie der vorliegende nicht mehr sein als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Der vorliegende Band repräsentiert einen Teil der Ergebnisse einer internationalen Tagung zum Industriefilm, die im Dezember 2004 im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum stattfand und die durch weitere Beiträge ergänzt wurde. Herausgekommen ist ein opulenter Band, der auf 350 Seiten über 20 Beiträge von höchst unterschiedlichem Niveau vereint. Der Ansatz dieses Bandes, einen internationalen Überblick über die Industriefilmforschung anzubieten, ist vorweg zu loben, hinterlässt allerdings mehr Fragen als Antworten.

Problematisch erscheint die einleitende Definition der Herausgeber, den Beginn des Dokumentarfilms mit John Grierson in den 1920er-Jahren anzusetzen. Dies stellt eine historische Verengung des Dokumentarfilmbegriffs dar: Griersons normative Überlegungen zum Dokumentarfilm und seine Auftrags- und Propagandafilmproduktionen in Großbritannien, die man tatsächlich als Industriefilme bezeichnen kann, machen ihn zum Kronzeugen eines Dokumentarfilmbegriffs, der dem traditionell kritischen, sozial ambitionierten und mithin unabhängigen Dokumentarfilm nicht gerecht wird. 2

In der folgenden Standortbestimmung stellen die Herausgeber eine mangelnde Beachtung des Industriefilms durch die Filmwissenschaft fest: „Der Dokumentarfilm erschien nur als legitimer Gegenstand, sofern er auch Autorenfilm war.“ (S. 9) Folgt man dieser Argumentation, dann muss man sich fragen, warum selbst die Forschungslage des Industriefilms vor den 1950er-Jahren eher ein Desiderat darstellt. Gegen die Bemerkung, die traditionellen Ansätze der Filmwissenschaft hätten versagt, lässt sich einwenden, dass diese bisher im Industriefilm – mangels Forschungen – kaum erprobt worden konnten.

Es ist ein interessanter Ansatz, besonders Filme, die stilistisch unauffällig bleiben, untersuchen zu wollen. Dies bietet sich beim Industriefilm aufgrund seines unterstellten hohen Konventionalisierungsgrades besonders an. Der Band enthält allerdings auch zwei instruktive Beiträge, die sich dezidiert Industriefilmen zuwenden, die von etablierten Autorenfilmern wie Georges Franju (durch Gérard Leblanc) oder Alain Resnais (durch Edward Dimendenberg) gedreht wurden und die gerade durch ihren kritisch-künstlerischen Anspruch nicht repräsentativ für das Gros der Industriefilmproduktion sind (S. 11).

Der Eröffnungsbeitrag von Friedrich Mörtzsch aus dem Jahre 1959, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Industrie- und Dokumentarfilm des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, der die Frage verfolgt, „Was will der Industriefilm“ (S. 16) wirkt aus heutiger Sicht konventionell und spiegelt eher das Interessen geleitete Denken eines Marketing-Managers wider. So ist fraglich, ob der Industriefilm genuin ein Masseninformationsmittel wie andere filmische Gattungen sein kann und dazu bestimmt ist „die in Jahrhunderten geformten Persönlichkeitswerte“ zu erhalten sowie geeignet ist, reale soziale Spannungen zu verringern (S. 18f.). Es folgt ein Beitrag von Hediger/Vonderau, in dem sie auf originelle und griffige Weise versuchen, über die von ihnen in Anschlag gebrachten drei R’s (Record, Rhetoric, Rationalization) dem Industriefilm analytisch beizukommen. Der Verdacht liegt jedoch nahe, dass sich diese recht allgemein gefassten Begriffe für alle im Auftrag produzierten Filme, zum Beispiel auch für dokumentarische Fernsehproduktionen, als relationales Gefüge beobachten lassen.

Yvonne Zimmermann weist in ihrem Beitrag „Was Hollywood für die Amerikaner, ist der Wirtschaftsfilm für die Schweiz“ auf die bedeutende ökonomische Rolle des Industriefilms für die Schweiz hin. Zimmermann schlägt vor, den Industriefilm vom Auftraggeber her zu bestimmen (S. 61). Wenn für den Industriefilm stets die Funktion formbestimmend ist, dann rückt die Evidenz des Bildes in den Hintergrund. Bezeichnet man den Industriefilm mit Hilfe dieses Arguments als „rückständige“ (S. 68) Gattung, so wäre zu fragen, was die Spezifika fortschrittlicher Gattungen sind? Vorsichtig äußern sich Frank Kessler und Eef Masson in ihren folgenden Ausführungen. Für Industriefilme kann „ein und dasselbe textuelle Strukturmuster in verschiedenen pragmatischen Kontexten funktionieren“ (S. 77). Zwar lässt sich eine derart weit gefasste Definition für nahezu alle Gattungen in Anschlag bringen, dennoch ist das Resümee der Autoren überzeugend, dass die Genrebezeichnung eine „problematische Illusion von Kohärenz und Klarheit in einem instabilen, ständigen Verschiebungen unterworfenen Terrain“ (S. 81) darstellt.

Vinzenz Hediger beobachtet in seinem Beitrag „Die Maschinerie des Filmischen Stils: Innovation und Konventionalisierung im Industriefilm“ eine ausgeprägte Standardisierung der Darstellungsformen und spricht dem Industriefilm „die rekursive Verwendung bestimmter stilistischer Muster“ (S. 86) zu. Als Beleg für seine These fügt Hediger die häufige Verwendung des Panoramaschwenks an. Eine Standardisierung des Stils lässt sich zweifellos auch für alle anderen Gattungen bemerken, ohne dass man bezweifeln würde, dass es innerhalb jeder Gattung Personalstile gibt, die hervorstechen.

Ein Interview mit dem Industriefilm-Produzenten Stefan Engelkamp offenbart interessante Einblicke in die Produktion von Industriefilmen. Unter dem Postulat von Hochglanzbildern, so erfährt man, müssen Filme in der Regel nicht nur unzählige Male umgeschnitten werden, zum Standard der Produktion gehört auch, dass unliebsame Aufnahmen von Arbeitern, die der Automatisierungseuphorie im Weg stehen oder in denen die Arbeitsschutzbestimmungen nicht eingehalten werden, eliminiert werden. Außerdem betont Engelkamp die Vielfältigkeit der Auftragsproduktion, was wiederum deutlich macht, wie sehr die Filmwissenschaft dazu angehalten ist, Filme individuell nach Branche, Unternehmenskultur und historischem Kontext zu befragen.

Heide Solbrigs Ausführungen über Mitsprache- und Bürgerrechte in den Unternehmensvideos des Bell-Konzerns von 1970-1984 machen deutlich, dass die Motivation, Minderheiten zu integrieren mehr von wirtschaftlichen Notwendigkeiten geleitet war, als von Erwägungen des Rechts auf soziale Gleichstellung. Letztendlich wird Rassismus als soziales oder rechtliches Problem ignoriert, da soziale Gleichstellung Leitmaximen des Ökonomischen unterliegt. Jedem sinnvollen Wandel in der Sozialstruktur des Kapitalismus wird so aus dem Weg gegangen (S. 195).

Stefan Moitra untersucht die konkret funktionale Einbindung des Films in eine gewerkschaftliche Medienpraxis. Moitra konstatiert für den gewerkschaftlichen Film nach dem zweiten Weltkrieg einen politischen Bruch seiner Entwicklung, wobei er jedoch den kommunistischen Agitationsfilm der Weimarer Republik als Ausgangspunkt mit einbezieht, der sich in seinem Selbstverständnis schon immer als klassenkämpferisch und gewerkschaftskritisch verstanden hat (S. 214). Ob sich der Gewerkschaftsfilm tatsächlich im zeitlichen Verlauf von der Agitation zur Integration gewandelt hat, bleibt diskussionswürdig.

Ein Paradebeispiel für die Darstellung eines industriellen Medienverbundes stellt die Firma Bat’a und die funktionale Zurichtung der böhmischen Stadt Zlin zur Company Town dar. Petr Szczepanik beleuchtet anschaulich die gegenseitige Abhängigkeit von Fabrik, Stadt und Medien. Malte Hagener diskutiert am Beispiel der Industriefilmproduktion bei Carl Zeiss Jena einen paradigmatischen Fall deutsch-deutscher Wirtschaftsentwicklung. Dabei zeigt sich, dass Topoi wie Kontinuität und Tradition, die schon lange zum Image von Zeiss-Produkten gehören, auch im politischen System der DDR unverändert ihren Platz hatten.

Den Abschluss bilden Stefan Przigodas Überlegungen, die Erschließung des Wirtschaftsfilmes an eine Erforschung der Unternehmens- und Technikgeschichte zu knüpfen. Er kritisiert, dass trotz der mittlerweile guten Erschließungslage Wirtschaftsfilme von der historischen (und es lässt sich hinzufügen von der bild – und filmwissenschaftlichen) Analyse kaum beachtet worden sind und betont die methodischen Schwierigkeiten, die eine Verbalisierung von Bildern mit sich bringt (S. 309). Eine solche einführende Einschätzung der Forschungssituation wünscht man sich an den Anfang des Bandes.

Fazit: Es gehört zu den Allgemeinplätzen, dem Industriefilm eine standardisierte Form der Darstellung und der Wahrnehmung seit seinen Anfängen im Kino zu unterstellen. Nach Lesen des Buches gewinnt man den Eindruck, dass der Industriefilm ein facettenreiches, unübersichtliches und interessantes Forschungsgebiet darstellt, auf dem noch viel zu tun ist.

Anmerkungen:
1 Eine Ausnahme bildet die historische Untersuchung von Loiperdinger, Martin, Industriebilder, in: Jung, Ulli; Loiperdinger, Martin (Hrsg), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1895-1945, Band 1, Kaiserreich (1895-1918), Stuttgart 2005, S. 324-332. Die Aufsätze zur Weimarer Republik von Meyer, Frank T., Deutsche Arbeit, deutsche Technik. Aspekte des Industriefilms und Elsaesser, Thomas, Die Stadt von morgen. Filme zum Bauen und Wohnen, in: Ehmann, Antje; Goergen, Jeanpaul; Kreimeier, Klaus (Hrsg.), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1895-1945, Band 2, Weimarer Republik (1918-1933), Stuttgart 2005, S. 364-380 und S. 381-409, sowie das Kapitel zum „Dritten Reich“, „Industrielle Modernisierung, Mobilisierung und Medialisierung im Film“, in: Hoffmann, Kay; Zimmermann, Peter (Hrsg.), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1895-1945, Band 3, „Drittes Reich“ (1933-1945), Stuttgart 2005, S. 231-286.
2 Eine ausführliche und kritische Revision von Griersons Dokumentarfilmkonzeption unternimmt Winston, Brian, Claiming The Real. The Griersonian Documentary and Its Legitimations, London 1995.

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