L. Boltanski u.a. (Hrsg.): Affaires, scandales et grandes causes

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Titel
Affaires, scandales et grandes causes. De Socrate à Pinochet


Herausgeber
Boltanski, Luc; Claverie, Élisabeth; Offenstadt, Nicolas; van Damme, Stéphane
Erschienen
Anzahl Seiten
457 S.
Preis
€ 20,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, European University Institute, Firenze

„Scandal is gossip made tedious by morality“, ist eines der vielen Bonmots von Oscar Wilde. Als er es 1892 zum Besten gab, ahnte das enfant terrible des viktorianischen England noch nicht, dass er bald selber Opfer und Namensgeber eines berüchtigten historischen Skandals werden sollte. Wildes Aphorismus weist auf den schillernden Charakter von Skandalen im menschlichen Zusammenleben hin. Fein angedeutet ist die Gefahr, wenn die Moral ins Spiel kommt. Die internationale Skandalforschung blüht: Geistes- und Sozialwissenschaftler in Europa und den USA entdecken zunehmend Skandale als eine milde Form des gesellschaftlichen Ausnahmezustandes, die es ermöglicht, sowohl Individuen als auch ganze Gesellschaften zu erforschen, wenn sie im Scheinwerferlicht der öffentlichen Erregung stehen. Die alten Grabenkämpfe um „grands procès“ oder „grands personnages de l’histoire“ verblassen bei diesem Ansatz weitgehend. Streitpunkte gibt es dennoch genug. Ob Skandale eine überzeitliche, transhistorische Kategorie darstellen, ist nach wie vor heftig umstritten.

In jedem Fall ist auch in den postmodernen westlichen Gesellschaften „l’importance persistante du scandale dans la vie morale“ erstaunlich, wie Cyril Lemieux im vorliegenden Sammelband meint. Die Herausgeber und Autoren, allesamt französische Geistes- und Sozialwissenschaftler, haben bewusst den Versuch unternommen, eine synthetische „longue histoire“ der Skandale, Affären und Gerichtsprozesse „von Sokrates bis Pinochet“ zusammenzustellen. Versammelt sind dadurch so unterschiedliche Fälle wie der „Baccanales“-Skandal aus dem alten Rom (Jean-Marie Pallier), die „affaire Boniface VIII“ aus dem Hochmittelalter (Patrick Boucheron), der sich zum öffentlichen Skandal auswachsende Disput zwischen Hume und Rousseau aus der Aufklärung (Antoine Lilti) und natürlich die Mutter aller modernen Skandale, der Fall Dreyfus (Thomas Loué).

Beachtliche theoretische Erwägungen finden sich in der Einleitung von Nicolas Offenstadt und Stéphane van Damme zu Skandalen als immer wiederkehrenden Ereignissen der Weltgeschichte sowie in den Schlussbetrachtungen von Cyril Limieux, Luc Boltanski und Élisabeth Claverie zu Skandalen als Forschungsgegenstand der (historischen) Sozialwissenschaften. Gemeinsam ist den hier versammelten Skandalen, dass sie eine breite Öffentlichkeit in ihren Bann gezogen haben, die den konkreten Anlass der Skandale mitunter eigensinnig beiseite schob, um sich über grundsätzlichere politische und moralische Probleme zu streiten. Für die Moderne spielen dabei die Massenmedien die alles entscheidende Rolle: als Foren und Medien des öffentlichen Streites wie als Reservoir für die wichtigsten scandalmongers der Neuzeit, die Journalisten.

Ob sich allerdings die Themen der Essays von Anne Simonin (der Algerien-Krieg), von Paul Jobin (die Minamata-Katastrophe in Japan) und Dominique Linhardt (der RAF-Terror in Westdeutschland) noch sinnvoll als Skandale fassen lassen oder nicht besser verwandten Kategorien wie Krieg, Umweltkatastrophen und Terrorismus zuzuordnen wären, sei dahingestellt. Zweifellos ist es ein großes Verdienst dieses Sammelbandes, das Spektrum erweitert zu haben, in dem historische Skandale verortet werden können: Hier stehen Skandale in der Mitte zwischen dem harmlos anmutenden Alltagsverhalten der Menschen auf der einen Seite, wenn sie Gerüchte und Klatsch verbreiten (commérage), und dem Übergleiten in Staatskrise und Bürgerkrieg als extremste Form der politisch-moralischen Konfliktbewältigung auf der anderen Seite.

Die im Sammelband vorgeschlagene Definition und Abgrenzung von „Skandal“ und „Affäre“ ist inhaltlich vollkommen überzeugend. In einem Skandal wird demnach die Gesellschaft zu einer temporären Einheit gegen die eindeutigen Verletzer von Normen zusammengeschweißt; in einer Affäre zerfällt die Gesellschaft in Wertegemeinschaften, die um die moralische Deutung der Enthüllungen kämpfen. Die Verwendung der Begriffe „Skandal“ und „Affäre“ für eine wissenschaftliche Definition führt allerdings zu linguistischen Problemen, denn beide Begriffe besitzen zum einen in der Alltagssprache eine unscharfe Bedeutung und zum anderen unterschiedliche Konnotationen in den verschiedenen europäischen Sprachen. Vielleicht wäre es daher sinnvoller, von politischen (gesellschaftsverbindenden) und moralischen (gesellschaftszertrennenden) Skandalen zu sprechen.

Der britische Soziologe John B. Thompson hat überzeugend dargelegt, dass sich politische Skandale um konkrete Normverstöße der politisch-wirtschaftlichen Elite drehen, um Money, Sex, and Power.1 In einem politischen Skandal, so auch die Autoren des Sammelbandes in Anlehnung an Thompson, werde ein zeitweiliges „régime de vérité“ aufgerichtet, dem sich selbst die Mächtigen beugen müssen. Solche klassischen politischen Skandale waren etwa der Panama- und der Crédit-lyonnais-Skandal in Frankreich, der Profumo-Skandal in England oder der Skandal um die schwarzen Kassen der deutschen CDU. Selbst für die treuesten Anhänger von dergestalt skandalisierten Personen und Themen sind es „des causes impossible a défendre“ (Cyril Lemieux). Gegen Normverletzer in politischen Skandalen entrüstet sich die gesamte Gesellschaft und verlangt „une satisfaction collective“, wie Nicolas Offenstadt und Stéphane van Damme es auf den Punkt bringen. Für die Forschung vielleicht noch interessanter sind die moralischen Skandale, bei denen Élisabeth Claverie zu Recht von einer „scission morale“ spricht, die die Gesellschaft in zwei, aber mitunter auch mehrere Wertegemeinschaften zerreißt. Auf die Besonderheiten moralischer Skandale wird weiter unten an den Fällen Dreyfus und Eulenburg näher eingegangen. Beide Formen von Skandalen sind natürlich heuristische Idealtypen; die Regel sind eher Mischformen, bei denen politische in moralische Skandale übergehen und umgekehrt. Luc Boltanski und Élisabeth Claverie weisen auf den wichtigen Punkt hin, dass vor allem moderne Skandale „entre morale et politique“ stehen. Hier ließe sich bei zukünftigen Arbeiten hervorragend an die „Neue Politikgeschichte“ anknüpfen, die auch besonders an den Grenzziehungen und Schnittmengen zwischen den gesellschaftlichen Feldern von Politik und Moral interessiert ist.

Die Erforschung von konkreten Skandalwirkungen halten die Herausgeber des Sammelbandes, für problematisch. Zwar könne die Frage nach dem Cui bono? gestellt werden, jeder Skandal gewinne aber im öffentlichen Raum eine von den einzelnen Akteuren nur noch schwer zu beeinflussende Eigendynamik. Der deutsche Soziologe Karl Otto Hondrich hielt zwei gegensätzliche Effekte für denkbar: Die zeitgenössische Moral kann umgestoßen oder bekräftigt werden.2 In einem moralischen Skandal wäre aber sogar beides vorstellbar. Hierfür ließe sich die von Thomas Loué im Sammelband eingeführte Unterscheidung in Meta-Skandal und dessen Sub-Skandale nutzbar machen. Mit Blick auf den „Meta-Skandal Dreyfus“ spricht Loué etwa von den Sub-Skandalen Esterhazy, Zola und Henry, in denen noch mehr politisch-moralische Streitpunkte verhandelt wurden, als es der Blick auf den Meta-Skandal vermuten lässt.

Durch eine solche Differenzierung könnte auch die oftmals verwirrende Gegenläufigkeit der moralischen Deutungskämpfe in Skandalen besser verstanden werden. Bestes Beispiel ist der Eulenburg-Skandal in Deutschland 1906–1909. Dieses deutsche Gegenstück zum französischen Dreyfus-Skandal bezeichnet Cyril Lemieux im Sammelband zu Recht als Skandal um die gültige Moral zur Beurteilung der skandalösen Enthüllungen. Noch heute gilt der Meta-Skandal Eulenburg in der internationalen Forschung als „der“ Homosexualitätsskandal des 20. Jahrhunderts. Beim Blick auf seine Sub-Skandale drängen sich jedoch noch andere Lesarten auf: Der Eulenburg-Skandal bekräftigte moralisch noch für viele Jahrzehnte die Homophobie als eine Tugend in Deutschland. Dafür musste er allerdings „durch die Hintertür“ einiger Sub-Skandale eine erstaunliche heterosexuelle Freizügigkeit einlassen, die die jahrhundertealte Offizialnorm des „Kein Sex vor der Ehe“ ins Wanken brachte und zu einem ersten Liberalisierungsschub des heterosexuellen Geschlechtsverkehrs außerhalb der Ehe beitrug. Der Eulenburg-Skandal war also auch ein großer „Heterosexualitätsskandal“.

Spätestens mit den Dreyfus- und Eulenburg-Skandalen um 1900 wurde den Zeitgenossen die entscheidende Funktion der internationalen Presse bewusst. Gleichzeitig stellte sich ein neues „Skandalbewußtsein“ (scandal memory) ein. Man erinnerte sich an historische Skandale im eigenen Land, aber auch im Ausland und verortete neue Skandale nun in einem historischen Panorama. Im Zeitalter des imperialistischen Prestige-Wahnes glaubte man zudem, dass Skandale nicht nur die eigene Nation „vor aller Welt“ bloßstellten, sondern um ihre Deutung auch Tag für Tag „mit aller Welt“ gerungen werden musste. Die heftigen nationalen und internationalen Pressekriege dieser Zeit legen es nahe, solche Skandale vor allem als transnationale Medienereignisse zu untersuchen.

Bedauerlich an dem vorliegenden Sammelband ist seine starke „Frankozentrik“. Wenn von einer „affaire idéal-typique“ in der Weltgeschichte oder doch im langen 19. Jahrhundert die Rede ist, macht eine Charakterisierung als „voltairienne et dreyfusarde“ nur noch wenig Sinn. Die Beobachter von Dreyfus- und Eulenburg-Skandal um 1900 hatten kaum Voltaire, als vielmehr die französische Halsband-Affäre als den „Ur-Skandal“ des modernen Europa vor Augen. Merkwürdigerweise kommt gerade sie in diesem rein französischen Sammelband kaum vor. Doch es war gerade der Vergleich mit der Halsband-Affäre, mit dem die Zeitgenossen des Dreyfus- und des Eulenburg-Skandals immer wieder die potentielle Gefahr von Revolution und europäischem Krieg an die Wand malten; beide moralischen Skandale wurden noch nicht als Auslöser, aber doch als „Menetekel“ kommender großer Umwälzungen angesehen.

Ebenso gewagt ist es, wenn viele Autoren des Sammelbandes Voltaire als Prototyp für den Einzelmenschen ausmachen, der durch seine öffentliche Anklage von Missständen „welthistorische“ Skandale auslöst. Warum nicht Cicero und sein „Quousque tandem, Catilina“ oder Martin Luthers Thesenanschlag 1517 in Wittenberg? Sinn macht auch hier nur ein viel stärker komparativer Ansatz, der im Sinne Marc Blochs die europäischen Gesellschaften im Blick hat und zudem das typisch Zeitgenössische herausarbeitet. Dies muss auch für die historische Figur gelten, die mit dem Skandal in der europäischen Moderne am engsten verbunden ist: den Intellektuellen. Auch hier ist die Focussierung des Sammelbandes auf Emile Zola und sein „J’accuse“ zu eng. Zola kann nur mit seinen unmittelbaren Vor-Mit- und Nachläufern verstanden werden: Figuren wie Henri Rochefort in Frankreich, William T. Stead und Henry Labouchere in England, Maximilian Harden und Karl Kraus im deutschsprachigen Raum.

Es ist schade, dass die Autoren keinen Ausblick auf die Zukunft des Skandals in der Post-Moderne gewagt haben, denn auch hier käme ein perennialistisches Modell „Voltaire-Dreyfus-Zola“ an seine Grenzen. Wie ist es zu erklären, dass heutige Skandale nur noch selten auf Gerichtsprozessen aufruhen und auch die Intellektuellen nur noch Sinngeber unter vielen anderen sind? Dabei dürften Skandale auch in Zukunft ihre wichtige gesellschaftliche Funktion bewahren: die öffentliche Anklage von Missständen, die über das Individuelle, Lokale und Temporäre hinausgehen, in eine öffentliche Form zu bringen, die zwar keineswegs die Beseitigung der Missstände garantiert, aber zur Selbstvergewisserung der Moral wichtig ist, die eine Gesellschaft noch zusammenhält.

Anmerkungen:
1 Thompson, John B., Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge u.a. 2000.
2 Hondrich, Karl Otto, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt a.M. 2002.

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