R. Löw (Hrsg.): Die Fantasie und die Macht

Cover
Titel
Die Fantasie und die Macht. 1968 und danach


Herausgeber
Löw, Raimund
Erschienen
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 23,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelius Lehnguth, Berlin

Kurz vor dem 40jährigen Jubiläum der westeuropäischen „Kulturrevolution“ hat der Journalist Raimund Löw einen Sammelband über die österreichische Variante von „1968 und danach“ herausgegeben. Mehr als ein Dutzend bekannter österreichischer Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler und Politiker kommt hier zu Wort und erinnert sich in Form von autobiographisch getönten Lebensgeschichten und subjektiven Berichten an seine Zeit der Politisierung. „1968“ habe zwar in Österreich „weder zu einer Staatskrise geführt, wie in Frankreich, noch gab es eine Zeitenwende wie in Deutschland“, so Löw im Vorwort, doch was die Autoren dieses Buches eine, sei die „Erkenntnis“, „dass wir alle, die wir in der einen oder anderen Weise durch diese Erfahrung gegangen sind, auch dadurch definiert werden, ob wir wollen oder nicht“. Nun sei es an der Zeit, selbst „zu beschreiben, wie die Welt um 1968 aus unserer Sicht ausgesehen hat und was davon geblieben ist“ (S. 7f.).

Was war und was geblieben ist von der vielerorts als bloße „heiße Viertelstunde“1 etikettierten „zahmen Revolution“2 in Österreich, darauf geben die sechzehn Autoren des Buches unterschiedliche Antworten – abhängig je nach der Sozialisation und dem später eingeschlagenen Lebensweg. Dabei stellt der Beitrag des Schriftstellers Robert Schindel laut Löw „so etwas wie ein ausführliches Motto“ dar (S. 11). „Man ist viel zu früh jung“, so der Titel des Prosatextes. Voller ironischer Melancholie beschreibt Schindel hier den Aufbruch und das Scheitern seiner Generation. Was in den 1960er-Jahren voller Kreativität und Spontaneität wie ein „Fest“ (S. 16) zur Überwindung autoritär-verkrusteter Strukturen begann, endete in den 1970er-Jahren selbst in Erstarrung. Aus dem fröhlichen „Alle Macht der Fantasie“ seien „Fantasien von Macht, von Dünkel und von Totalitarismus“ geworden: „Eine Blindheit überzog uns, deren Symptome schlimmer als die Krankheit war: Gefühllosigkeit, Sprachverlust und Phrasenpracht.“ (S. 18)

Doch zunächst zum Aufbruch und zur Fantasie: Alle Beiträge interpretieren „1968“ als notwendige Zäsur, die den gesellschaftspolitischen Reformstau der 1950er- und 1960er-Jahre überwand. Insbesondere die Kultur- und Hochschulpolitik sei bis dahin geprägt gewesen „von starken Restbeständen des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus. An den Hochschulen tummelten sich antisemitische Professoren wie Taras Borodajkewycz. Der Institutsvorstand war der absolute Herrscher, die Studenten und Studentinnen waren Befehlsempfänger. Sigmund Freud und Wilhelm Reich, die Fächer Soziologie und Politologie waren weitgehend unbekannt. Politische Veranstaltungen auf Hochschulboden waren verboten. Jazz wurde vielfach als ‚Negermusik’ abgetan. Heimatfilme waren Valium fürs Volk“ – so ein wenig überpointiert die „Prä-68er-Zeit“ in den Augen von Bruno Aigner, heute Pressesprecher des Bundespräsidenten (S. 58). Der Protest der 68er-Bewegung richtete sich gegen diese überkommenden Strukturen; viele Protagonisten entdeckten ihr politisches Engagement während der Affäre um den oben genannten Wirtschaftsprofessor Mitte der 1960er-Jahre, der sich in seinen Vorlesungen offen zum Nationalsozialismus und Antisemitismus bekannte und erst auf Druck von Protestdemonstrationen – bei vollen Bezügen – zwangsweise pensioniert wurde.

Wien war der eigentliche Kristallisationspunkt der österreichischen 1968er-Bewegung. Mit seinen Kaffeehäusern und Szenetreffs entstand hier ab Ende der 1960er-Jahre ein „dichtes und gemischtes Geflecht urbaner Gegenwirklichkeit“ (S. 213). Dazu gehörten auch die zahlreichen antiautoritären Wohngemeinschaften, in denen viele der Autoren zeitweilig lebten. Als im Frühjahr 1970 eine SPÖ-Alleinregierung unter Bruno Kreisky an die Macht kam, nahm sich diese den Forderungen nach Demokratisierung und Liberalisierung an und setzte viele gesellschafts- und bildungspolitische Reformen durch.

Doch nicht nur vom Aufbruch, sondern auch von jener „Blindheit“, die laut Schindel der „Macht der Fantasie“ folgte, erzählen viele der Beiträge. Im Glauben an die Revolution suchten viele Autoren nach dem Abrollen der „68er-Welle“ festen Boden unter den Füßen und fanden ihn in den ab Anfang der 1970er-Jahre vielerorts entstandenen K-Gruppen. So berichtet der Fernsehjournalist Lorenz Gallmetzer von seiner Zeit bei den maoistisch orientierten „Marxistisch-Leninistischen Studenten“, die die universitären Institute „zahlenmäßig und besonders durch ihre straff organisierte, effiziente, generalstabsmäßige Vorgangsweise“ (S. 214f.) dominierten. Nicht nur in Lehrveranstaltungen, sondern auch vor Werktoren sollte agitiert werden. Dies verlief meistens allerdings frustrierend, da die Arbeiter von der Sinnhaftigkeit des revolutionären Klassenkampfes nicht so recht zu überzeugen waren, erst Recht kein Interesse am Aufbau des Sozialismus in China hatten (S. 214ff.). Einige wie Helmut Opletal gingen sogar noch einen Schritt weiter und suchten ihr Heil vor Ort, was jedoch nur dazu beitrug, dass sein „allzu heiles China-Bild schon bald nach meiner Ankunft einige kräftige Kratzer“ bekam (S. 332). Neben den Maoisten fand auch die „Gruppe Marxistischer Revolutionäre“ großen Zulauf. Der heutige „profil“-Redakteur Georg Hoffmann-Ostenhof gehörte 1972 zu deren Mitgründern, die als „österreichische Sektion“ Teil der trotzkistischen IV. Internationale um Ernest Mandel war (S. 158ff.). Die Utopie der „permanenten Revolution“ übte auch für andere Autoren wie für Peter Pilz (S. 43-49) und Raimund Löw (S. 81-101) große Anziehungskraft aus. Hoffmann-Ostenhof weiß auch, warum: „[A]ls Trotzkist konnte man radikal sein, ohne eine miese Realität, wie die Maoisten und die Moskau-Kommunisten verteidigen, ohne wie die Sozialdemokraten Ja zu faulen Kompromissen sagen zu müssen.“ (S. 160) Als Anfang der 1980er-Jahre die K-Gruppen-Zeit vorbei war, machten einige Wenige bei der Öko-Bewegung weiter. So kam Peter Pilz zu den Grünen und sitzt mit kurzen Unterbrechungen seit über zwanzig Jahren für diese im Nationalrat.

Wenn Marx, Freud, Adorno und alle ihre Epigonen die Studentenbewegung beschäftigte, über ein Thema schwieg sich auch die Neue Linke aus: Über das „Judenthema“ (S. 254) sprach man nicht. Erst in den 1980er-Jahren im Zuge der Auseinandersetzung um Kurt Waldheim „wollten die anderen unsere Geschichte hören und begannen auch von ihren Nazi-Eltern zu sprechen“ – so die jüdische Filmemacherin Ruth Beckermann (S. 257).

Trotz aller Irrwege und Blindheiten ist die Einschätzung von „1968“ eine fast durchweg Positive. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass es anders als in der Bundesrepublik Deutschland und Italien kein Abgleiten in den Terrorismus gab, zudem alle Autoren erfolgreich ihren „Marsch durch die Institutionen“ gegangen sind. Weniger Einigkeit herrscht allerdings in der Frage der Wirkungskraft von „1968“. Während Einzelne den damaligen Aufbruch als ein kleines „Mailüfterl“ (S. 59) abtun, dessen Windkraft die SPÖ wenig später für sich zunutze machte, wird nach Ansicht von Peter Kreisky die „österreichische 68er-Bewegung“ „zu Unrecht unterschätzt“ (S. 360). Der medial reduzierte Blick auf 1968 als Momentaufnahme eines Augenblicks retuschiere den langfristigen Veränderungsprozess weg, den Ende der 1960er-Jahre die Studentenbewegung angestoßen habe (S. 362).

Löws Sammelband ist als Lesebuch konzipiert und vereint sämtliche Vor- und Nachteile eines solchen in sich. Einerseits eröffnet das Buch interessante Aspekte „gelebter Geschichte“, es lässt ehemalige Protagonisten der österreichischen 68er-Bewegung in Form von persönlichen Berichten als „Zeitzeugen“ zu Wort kommen. Doch andererseits kommen viele Beiträge über das Anekdotenhafte nicht heraus. Und so wäre auch ein historischer Abriss eingangs mehr als hilfreich gewesen. Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Eingrenzung der „68er“. Denn wenn von „1968“ und der in dieser Zeit sozialisierten Generation die Rede ist, sollte man sich auf die Jahrgänge zwischen 1940 bis 1950 beschränken. Doch fast die Hälfte der Autoren ist in den 1950er-Jahren geboren und ihr „68“ liegt zwangsläufig weit in den 1970er-Jahren. Zuletzt bleibt anzumerken, dass eine geschichts- oder kulturwissenschaftliche Bearbeitung von „68 und danach“ für Österreich nach wie vor aussteht; hier wäre dringend Abhilfe notwendig.

Anmerkungen:
1 Keller, Fritz, Wien, Mai 68 – Eine heiße Viertelstunde, Wien 1983.
2 Ebner, Paulus; Vocelka, Karl, Die zahme Revolution. 68 und was davon blieb, Wien 1998.

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