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Titel
Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982


Autor(en)
Schanetzky, Tim
Reihe
Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, 17
Erschienen
Berlin 2007: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
André Steiner, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Bei den Historikern sind in jüngster Zeit die 1970er-Jahre en vogue. Das hat verschiedene Ursachen: Neben pragmatischen Gründen, wie dem fortschreitenden Ablauf der Sperrfristen der entsprechenden Aktenbestände für die Bundesrepublik in den staatlichen Archiven, spielen generationelle Fragen eine Rolle und nicht zuletzt wird in diesem Zeitabschnitt zunehmend die Vorgeschichte gegenwärtiger gesellschaftlicher Problemlagen ausgemacht. Bisher liegen jedoch nur sehr wenige historische Detailstudien für diese Periode vor. Eine der ersten ist die in Frankfurt am Main entstandene Dissertation von Tim Schanetzky. Er fragt nach dem Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Wandel in der Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre und den Veränderungen der wirtschaftspolitischen Wissensproduktion. Dazu zieht er vier Analyseebenen heran: erstens, jenen sozioökonomischen Wandel, der die hergebrachten wirtschaftspolitischen Wissensbestände in Frage stellte; zweitens die Reaktion darauf, die Aufnahme neuer Wissensproduktion und den weiteren Ausbau des Wissenstransfers zwischen Wissenschaft und Politik; drittens die von der Politikberatung bereit gestellten Inhalte und Formen des Wissens sowie viertens deren politische Rezeption und soziale Struktureffekte (S. 9f.).

Mit diesen Untersuchungsebenen wird der Zeitraum von der Mitte der 1960er- bis in die beginnenden 1980er-Jahre in drei Teilen vermessen. Im ersten Teil werden zunächst die traditionellen Ordnungsvorstellungen der 1950er- und beginnenden 1960er-Jahre umrissen. Ausgangs der Adenauer-Ära beruhte Politik auf einer Vorstellung von einer an sich beschreibbaren Gesellschaft, die den Gegenstand politischer Steuerung bildete. Die Wurzeln dieses Bildes reichten bis in das 19. Jahrhundert zurück, es galt in hohem Maße als verbindlich und war unumstritten. Gerade die Wirtschaftspolitik hatte seit den 1950er-Jahren ihre statistischen und rechtlichen Grundlagen und Instrumente ausgebaut. Mit einer "rationalen" und "verwissenschaftlichten" Politik wurde Wirtschaft als steuerbar begriffen, was dann mit der ersten großen Koalition der Bundesrepublik seinen prägnanten Ausdruck in der "Globalsteuerung" keynesianischer Prägung fand, mit der Wirtschaftspolitik nun erstmals auf systematischer Wissensproduktion aufbaute. Ihr war auch ein gewisser Idealismus eigen, indem sie auf die Eindeutigkeit wissenschaftlicher Aussagen und auf die Fähigkeit der Politik vertraute, diese rasch umzusetzen. Weiter stellt Schanetzky in diesem Teil die Konturen der sozialen und wirtschaftlichen strukturellen Veränderungen dar, die die Bundesrepublik zwischen den 1960er- und den 1980er-Jahren erlebte: Die Geburtenraten verringerten sich drastisch, die Konsumgewohnheiten und -möglichkeiten wandelten sich, die Wirtschaftsstruktur verschob sich hin zur "Dienstleistungsgesellschaft", der Boom des Golden Age kam an sein Ende und die Wirtschaft internationalisierte sich in erheblichem Maße.

Die beiden folgenden Teile behandeln jeweils einen Abschnitt des Untersuchungszeitraums von 1966 bis 1982, wobei das Krisenjahr 1974 die Zäsur bildet. Die erste Phase war von "Wissenschaftseuphorie" und der "Verwissenschaftlichung der Politik" sowie der sich langsam ausbildenden Ernüchterung geprägt. Der zweite Abschnitt geht auf die Periode ein, in der sich die Mechanismen und Inhalte der wissenschaftlichen Beratung der Wirtschaftspolitik grundlegend veränderten. Abschließend wird noch ein Ausblick auf die 1980er-Jahre gewagt.

Im Mittelpunkt der Studie stehen die semantischen Reaktionen in der Wirtschaftswissenschaft und -politik, die durch den sozialen und wirtschaftlichen Wandel der 1970er-Jahre ausgelöst wurden. Dazu werden verschiedene Institutionen der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung in den Blick genommen, wo sich sowohl dieser semantische Wandel als auch die Veränderung der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung niedergeschlagen haben. Dabei steht die Expertise des "Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" im Mittelpunkt, während zugleich aber auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium oder die als Gegenspieler zum Sachverständigenrat entstandene Memorandum-Gruppe mit betrachtet werden. Damit geht Schanetzky der Frage nach, ob und wie sich das ändernde Wissen über die sich zugleich wandelnde Gesellschaft für die Wirtschaftspolitik handlungsleitend wurde, wie sich die Geltung wissenschaftlicher Expertise in der Politik veränderte und wie sich das wiederum auf die Wirtschaftspolitik auswirkte. Schließlich geht es auch darum, wie die Wirtschaftspolitik sozioökonomische Strukturen ändert, was wiederum auf die Wissenschaft zurückwirkt, indem es Anlass zu neuer Wissensproduktion bietet und vertraute Wissensbestände in Frage stellt. Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik wird also als rekursiv verstanden, was Schanetzky an Hand der Wirtschaftspolitik der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik vorführt.

Unter den Bedingungen des rasanten gesellschaftlichen Wandels der 1970er-Jahre wurde der Anspruch der keynesianischen Globalsteuerung rasch in Frage gestellt. Steuerungsfehler, Strukturwandel und Stagflation erschütterten das Vertrauen in die "Verwissenschaftlichung". Insbesondere die einkommens- und die außenwirtschaftspolitische Absicherung der Globalsteuerung war nicht zu realisieren. Zudem erwies sich das eingesetzte Instrumentarium als unsicher: Fehlprognosen verschärften die konjunkturelle Lage. Nicht zuletzt politisierte sich die Politikberatung selbst. Das Problem der Rekursivität von wissenschaftlicher Expertise und politischem Handeln war innerhalb der Globalsteuerung nicht zu lösen. Schließlich wandten sich die Berater im Laufe der 1970er-Jahre immer mehr monetaristischen und angebotsökonomischen Alternativen zu. Zudem lag den Prognosen das Paradox zugrunde, dass sie selbst höchst unsicher waren, weil sie Erfahrungen der Vergangenheit in die Zukunft fortschrieben, aber zugleich die Unsicherheit in den auf die Zukunft gerichteten politischen Entscheidungen abbauen sollten. Parallel standen sich vielfach Expertise und Gegenexpertise gegenüber, womit wissenschaftliche Handlungsanweisungen nicht mehr eindeutig erschienen und der Glaube an sie verloren ging. Schließlich relativierte der Sachverständigenrat 1977 seine eigene Prognose mit der folgenden Aussage: "Wir wissen, daß es auch anders kommen kann. Und in diesem Jahr spricht vieles dafür, daß das, was tatsächlich geschieht, eher besser als schlechter sein wird als jene Entwicklung, die wir für am wahrscheinlichsten halten. Aber das ist zu ungewiß." (S. 190)

Aus der wachsenden Einsicht in die gesellschaftliche Komplexität und dem Verlust an Vertrauen in die Handlungsanweisungen wissenschaftlicher Expertise resultierten die der vorliegenden Arbeit den Titel gebende Ernüchterung und – so die Grundthese dieser Arbeit – eine "Pragmatisierung" der Wirtschaftspolitik, die bis heute prägend ist. Schließlich konnte auch mit den angebotsökonomischen Konzepten und der politischen "Wende" von 1982 das grundlegende Dilemma der Wirtschaftspolitik – eben der Rekursivität – nicht gelöst werden: Staatliche Wirtschaftspolitik und wissenschaftliche Berater "waren Teil der Gesellschaft und damit auch Teil jenes Prozesses, den sie zugleich beeinflussen wollten. Dieser Mechanismus, der sich in Prognosefehlern, Gegenexpertisen, Minderheitsvoten und einer als beratungsresistent beschriebenen Politik abbildete, ließ die wirtschaftspolitische Semantik insgesamt weniger verbindlich werden." (S. 232) Letztlich war Anfang der 1980er-Jahre der politische Steuerungsanspruch fundamental in Frage gestellt. Die Wirtschaftspolitik sollte jetzt nur noch pragmatisch individuelles Verhalten, also die Entscheidungen und Dispositionen der Wirtschaftssubjekte beeinflussen. Man war sich inzwischen offenbar der Grenzen der Steuerungsfähigkeit bewusst geworden.

Soweit der hier nur verkürzt referierte Gang der Argumentation der vorliegenden Arbeit, die auf einem breiten Korpus veröffentlichter Quellen wie den Gutachten des Sachverständigenrates und den Stellungnahmen der Bundesregierung, aber auch den Parlamentsdebatten und Ähnlichem beruht. Ergänzt wird dies – soweit zugänglich – um archivarische Quellen des Staates, der Parteien sowie des Bundesverbandes der Industrie. Zudem werden die zeitgenössischen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen als Quellen herangezogen. Mit dieser rundherum gelungenen Arbeit hat Schanetzky einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Entstehung der bundesrepublikanischen Wirtschaftspolitik in den 1970er-Jahren geleistet. Kleinere Fehler, wie die Bezeichnung von Bretton Woods, das tatsächlich in den White Mountains in New Hampshire liegt, als amerikanischen Ostküsten-Badeort (S. 36) sind als Lässlichkeit zu betrachten und schärfen eher die Aufmerksamkeit des Lesers. Sicher hätte man sich das ein oder andere stärker ausgearbeitet gewünscht, aber die klare Fokussierung auf die inhaltliche Fragestellung und auf den an der Systemtheorie orientierten methodischen Zugriff sicherten einen handhabbaren Umfang. Schanetzky hat ein hervorragendes Beispiel für eine kulturalistisch reflektierte Studie vorgelegt, die im Grenzgebiet zwischen Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte angesiedelt ist und beide Disziplinen bereichert. Sie bildet eine solide Grundlage für weitere Forschungen zu den Wandlungsprozessen in den 1970er-Jahren.

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