G. Burgess u.a. (Hrsg.): English Radicalism

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Titel
English Radicalism, 1550-1850.


Herausgeber
Burgess, Glenn; Festenstein, Matthew
Erschienen
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 84,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Friedeburg, Faculty of Arts and Sciences Erasmus University Rotterdam

Sollten Begriffe, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte bis heute gültige Bedeutung in der politisch-sozialen Sprache erhalten haben, ohne weiteres zur Beschreibung von Zeiten genutzt werden, in denen ihre Bedeutung gänzlich anders war, oder in denen sie gar nicht bestanden? Alexander Grays „The Socialist Tradition: Moses to Lenin“ aus dem Jahre 1946 ist nur ein Beispiel in Jonathan C. D. Clarks Beitrag, wie unbefangen die englischsprachige Geschichtswissenschaft mit diesem Problem bis in die Gegenwart umgegangen ist und teils bis heute umgeht. Zwar sind im deutschsprachigen Raum die Veröffentlichungen von Reinhard Koselleck rund um die Geschichtlichen Grundbegriffe ein unerhörter Fortschritt auf dem Wege, sich Rechenschaft über die historische Entwicklung wichtiger Begriffe der historisch-politischen Sprache zu geben. Aber die teils breite Rezeption der englischen Debatte um einen „Republikanismus“ in der Frühen Neuzeit etwa hat keineswegs immer die Bedeutung schon des Begriffs ‚res publica’ mitreflektiert. Und der Autor erinnert noch recht gut, wie sich Rainer Wohlfeil im Hamburger Hauptseminar zur Reformation auch mit der These einer ‚frühbürgerlichen Revolution’ auseinandersetzen musste.

Nun werden sicherlich viele sagen, dass der Historiker grosso modo sehr wohl heutige Begriffe auf die Vergangenheit wird anlegen müssen, es komme eben auf den Grad der Reflektiertheit dieses Unterfangens an. Und hier setzen die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes an. Sie nehmen das Begriffsfeld „radikal“, „Radikalität“, „Radikalismus“ zum Anlass, zu vergegenwärtigen, aus welchen Gründen und aufgrund welcher Quellenbefunde eine ganz unterschiedliche Vielzahl von Personen und Personengruppen des Zeitraums zwischen 1550 und 1850 in dieser Weise durch die englische Historiographie behandelt wurde.

Glenn Burgess umreißt in seiner Einleitung die Geschichte des Begriffs (1820 zuerst im Oxford English Dictionary) und beschäftigt sich vor allem mit den englischen marxistischen Historikern der 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahre, die eine ‚radikale Tradition’ in der englischen Gesellschaft für sich und ihre Ziele entdeckten. Namen wie Eric Hobsbawm, Christopher Hill und Edward P. Thompson belegen, wie heterogen diese Gruppe, aber auch wie qualitativ hochwertig viele ihrer Studien waren. Bei aller Differenzierung hingen sie jedoch einer Vorstellung der Geschichte als Stafettenlauf an, bei der eine Generation der ‚Radikalen’ den Auftrag zum gesellschaftlichen Kampf gegen die ‚Herrschenden’ an die folgende Gruppe weitergibt – bei allem Respekt vor den Werken dieser Gruppe ist von dieser Vorstellung wohl nicht allzu viel übrig geblieben. Das heißt jedoch nicht, dass nicht auch außerhalb der kommunistischen Partei in England von dem Begriff Gebrauch gemacht wurde, und viele der anderen Beiträge bieten dafür interessante Beispiele.

Stephen Alford untersucht die ‚Notstandspolitik’ in der Regierungszeit von Elisabeth, insbesondere die so genannten Bonds of Allegiance, bei der der Kronrat praktisch alle Amtsinhaber auf die Sicherung der Person des Monarchen und den protestantischen Glauben einschwören ließ – bei aller Treue zu Elisabeth doch eine gesellschaftliche Mobilierung an der Königin vorbei und daher ‚radikal’? Luc Borot springt rund 60 Jahre weiter und beginnt die Reihe der Beiträge zum englischen Bürgerkrieg und den ‚Levellers’, den Gleichmachern. In der Tat hat die bemerkenswerte Artikulation auch einfacher Soldaten nach dem ersten Bürgerkrieg (1642-45) vor allem im Rahmen der Putney-Debatten schon seit langer Zeit das Interesse der Historiker geweckt. Im Hinblick auf Overton sucht Luc Borot dem Begriff der ‚Radikalität’ etwas abzugewinnen. Glenn Burgess legt in seinem Beitrag „Radicalism in the English Revolution“ dar, dass das, was häufig als ‚radikal’ bezeichnet wird, tatsächlich religiös fundierte Forderungen waren, die aufgrund der direkten Kommunikation mit Gott die Bedürfnisse des weltlichen Gemeinwesens hinter sich zu lassen schienen. Richard L. Greaves wendet sich den englischen und schottischen ‚Radikalen’ der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu und zählt gleich eine ganze Reihe von Bewegungen und Aufständen auf – so geraten die Presbyterianer des so genannten Galloway-Aufstandes in Schottland (1666), den der junge Graf von Argyle sich anerbot für seinen König niederzuschlagen, ebenso in die Reihe der Radikalen wie dieser Graf selbst, nachdem er aus religiösen Gründen aus Schottland emigriert war und gegen Jakob II. 1685 eine Invasion in Schottland anführte. Greaves gibt freilich zu, wie unterschiedlich die Bewegungen sind, mit denen er sich hier beschäftigt, und hat Mühe, die wenigen Gemeinsamkeiten – Feindschaft zu Rom – als ‚nützliche’ Propaganda abzutun (S. 97), hinter der sich die eigentliche Radikalität der Aufrührer verberge. Mit Gregory Claeys Aufsatz springen wir weitere hundert Jahre weiter, nun zum Ende des 18. Jahrhunderts. Sein Aufsatz zu Mary Wollstonecraft sucht nachzuweisen, dass es ihr weniger um politische Rechte als um Fragen der öffentlichen und privaten Moral ging. Iain Hampsher Monk stellt in seinem Beitrag zu „Not Inventing the English Revolution“ die Frage, ob die Kritiker des Establishments im England der 1790er-Jahre auch deswegen nicht zu revolutionären und gewalttätigen Veränderungen der Besitz- und Verfassungsverhältnisse vorgedrungen seien, weil sie alle Reformen an denen von 1688/89 maßen, und die Debatte daher automatisch einen an der Vergangenheit und ihren Richtlinien orientierten Ton erhielt. Marc Philp wendet sich in seinem ausgezeichneten Aufsatz nicht allein den societies am Ende des 18. Jahrhunderts zu, die eine Veränderung der Verhältnisse und umfassende Reformen anstrebten, sondern auch den Milizen, denen bis 1804 rund 380.000 Mann unter Waffen angehörten. Insgesamt mobilierte das Vereinigte Königreich bis 1804 circa 800.000 Mann in Heer, Marine und Milizen, was bei 3,75 Millionen waffenfähigen Männern circa eine von fünf Personen bedeutete. Philp geht der Rhetorik des Loyalismus nach und fragt, unter welchen Bedingungen auch Anhänger der Reform-Societies sich den Milizen anschlossen, schon um lokalem Druck auszuweichen. Margot Finn wendet sich dem Schicksal eines Radikalen zu, der verschuldet und im Gefängnis endete, und F. Rosen geht der Frage nach, wie die verschiedenen politischen Meinungsäußerungen von Jeremy Bentham zu bewerten sind.

Clark rekapituliert die historischen Rahmenbedingungen, unter denen die Forderungen nach Reform, vor allem Wahlrechtsreform, nach Steuerreformen und nach einer Reform der für die Kirche zu zahlenden Abgaben (tithes) als ‚radikal’ verstanden wurden. Clark zeigt weiter, wie aus der Bezeichnung ‚radikal’ der ‚Radikalismus’ wurde. Im Verlauf dieses Prozesses bemühten sich die ‚Radikalen’ selbst um eine angemessene Vergangenheit, und historisch begründete Abgrenzungen zu den ‚Whigs’ und später den ‚Sozialisten’ entstanden. Der Leser des Bandes sollte möglicherweise mit diesem Beitrag beginnen. Miles Taylor beschäftigt sich mit den Folgen der englischen Konzeptionen für Indien, nicht zuletzt dem Vorschlag des ‚radikalen’ Parlamentsabgeordneten für Middlesex, für Indien 19 weitere Sitze in das Parlament aufzunehmen. Der Band wird durch zwei sich ergänzende Beiträge abgeschlossen, von denen einer auch angesichts der unübersehbaren Heterogenität dessen, was unter ‚radikal’ verstanden werden kann, für ein historistisches Vorgehen plädiert, der andere um eine Verteidigung des Begriffs bemüht ist: Conal Condren plädiert dafür, den Begriff ausschließlich von dem Moment an zu gebrauchen, wo er von den Zeitgenossen geprägt wurde. James Colin Davis verteidigt dagegen einen ‚funktionalen’ Gebrauch, der von Kontext zu Kontext andere Rahmenbedingungen reflektiert. Ihm geht es um grundlegende Herausforderungen der gegebenen Verhältnisse in traditionellen Gesellschaften. Vor allem geht es ihm um die Verteidigung langer Perspektiven – und die hätten eine Sprache nötig, die auch über den historischen Moment hinausgeht. Der anregende Sammelband hinterlässt beim Leser freilich den Eindruck, dass so manche Vokabel, und insbesondere die des ‚Radikalismus’, gerade dem Anliegen vergleichender Studien über lange Zeiträume kaum dienlich ist – zu unterschiedlich bleiben die behandelten Phänomene, zu wenig reflektiert die ausgelassenen Epochen. Gleichwohl, im Prozess der Selbstverständigung der Geschichtswissenschaft über ihre Vorgehensweisen hilft der vorliegende Band durch Argument und Gegenargument und mit immer anregenden Beiträgen, sich mit dem Problem zu beschäftigen.

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