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Titel
Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Mathieu, Christian
Reihe
Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 63
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Landwehr, Philosophische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Dieses Buch lässt sich in mehrfacher Hinsicht als fundamental bezeichnen, nicht nur aufgrund seiner breiten Quellenbasis und seiner für die weitere Forschung grundlegenden Bedeutung, sondern auch mit Blick auf sein eigentliches Thema: Es geht in einem wörtlichen Sinn um das Fundament venezianischen Selbstverständnisses und venezianischer Herrschaft, da beide in der besonderen Topographie der Markusrepublik begründet liegen. Gegenstand der in Saarbrücken entstandenen Dissertation ist also die Situiertheit Venedigs inmitten der Lagune, deren Bedeutung der Verfasser sowohl in geographischer als auch politischer Hinsicht in den Blick nimmt.

Nun hat jede wissenschaftliche Arbeit über Venedig mit dem Problem zu kämpfen, dass es wohl kaum eine andere europäische Stadt gibt, die mit so vielen Vorurteilen, Klischees und Mythen überfrachtet ist. Gerade historischen Arbeiten kommt daher die Aufgabe zu, inmitten dieser Gemeinplätze ihr Anliegen ausreichend deutlich zum Vorschein zu bringen. Mathieu geht diese Aufgabe unmittelbar an. In einem ersten Analyseschritt dekonstruiert er denjenigen Mythos, der erfolgreich über Venedig etabliert wurde, oder besser gesagt: Er legt die zahlreichen mythischen Schichten frei, die sich über die Stadt und ihre Umwelt gelegt haben. Mathieu beginnt mit der jüngsten dieser Schichten, indem er den venezianischen Ökomythos seziert und deutlich macht, dass die Stadt keineswegs bereits seit Jahrhunderten eine umsichtige und auf den Erhalt des fragilen Ökosystems der Lagune abzielende Umweltpolitik betrieben hat. Aus solchen häufig anzutreffenden Ansichten sprechen wohl eher das moderne Umweltgewissen sowie die seit Langem als Katastrophenszenario evozierte Gefahr des Versinkens der Stadt in den adriatischen Fluten als die konkreten historischen Umstände.

Diese Überlegungen bilden den Ausgangspunkt für Mathieus Fragestellung, denn wenn die umfangreiche Lagunenpolitik Venedigs nicht einem ökologischen Bewusstsein geschuldet ist, woraus resultiert sie dann? Warum versuchten die Venezianer über Jahrhunderte hinweg mit allen Mitteln, die Trennung zwischen Festland und Lagune aufrecht zu erhalten? Die Antwort findet sich in dem Umstand, dass die besondere topographische Lage Venedigs zugleich die Grundlage des politischen und sozialen Gemeinwesens war. Mathieus Frage zielt insbesondere darauf ab, wie die natürliche Umwelt der Lagune, die unterschiedlichen Herrschaftsansprüche Venedigs sowie der Mythos der Serenissima im Verlauf der Frühen Neuzeit eine unauflösliche Verbindung eingingen. Er sieht in den Maßnahmen, in denen sich Venedig mittels massiver Eingriffe in das norditalienische Flusssystem und die Lagune seine eigene Umwelt erschuf den Versuch der Serenissima, den Raum zu produzieren, der mit dem eigenen Mythos und den eigenen politischen Ansprüchen korrespondierte.

Mathieu widmet sich in drei größeren Kapiteln den Flussumleitungsmaßnahmen, dem ökologischen Risikodiskurs sowie der kulturellen Produktion von Raum in mehreren Medien, um auf diese Weise die Diskurse freizulegen, die das verbindliche Wissen über Gestalt und Funktion der Lagune etablierten. Diese unterschiedlichen Perspektiven erlauben es nicht nur, die Fragestellung in mehrfacher Hinsicht abzusichern, sondern zeigen ganz nebenbei auch auf, dass es sich bei historischen Diskursanalysen, wie sie Mathieu betreibt, keineswegs um Untersuchungen handeln muss, die sich ausschließlich mit mehr oder weniger wissenschaftlichen Debatten beschäftigen. Vielmehr kann der Verfasser zeigen, dass jede Praxis in der einen oder anderen Weise diskurs- und damit wissenskonstituierend wirkt.

Im Falle der venezianischen Lagune handelt es sich bei diesen Praktiken um die Umleitung der Flüsse Brenta, Piave und Sile, deren Zuflüsse in die Lagune seit dem 15. Jahrhundert in groß angelegten Projekten minimiert werden sollten. Während man heute bei den Gefährdungen, denen Venedig ausgesetzt ist, an ein Ansteigen des Meeresspiegels denkt, hatte das Venedig der Frühen Neuzeit mit Schlamm, Sand und einem zu hohen Süßwasseranteil zu kämpfen, die zu einer allmählichen Verlandung Venedigs führten. Mathieu zeichnet für die wichtigsten Lagunenzuflüsse nicht nur die Umleitungsmaßnahmen nach, sondern auch die Institutionalisierungsformen, die diese Projekte im venezianischen Verwaltungssystem angenommen haben, und ordnet zudem die Umweltpolitik in den weiteren Kontext der venezianischen Geschichte ein.

Die beiden folgenden Teile konzentrieren sich auf unterschiedliche institutionelle und mediale Kontexte, in denen die lagunare Umwelt Venedigs verhandelt wurde. Neben der spezifischen Gattung der Gewässertraktate, die mit ihren wichtigsten Autoren vorgestellt wird, finden Chroniken, Stadtführer, Reiseberichte, Veduten und juristische Traktate Berücksichtigung. In dieser Zusammenschau gelingt es Mathieu aufzuzeigen, warum die Gestaltung der Lagune für Venedig so große Bedeutung hatte. Auf mehrfache Weise war Venedig von seiner Situiertheit existentiell abhängig. Der Zusammenhang von Raum, Mythos und Herrschaft stand nicht nur für die militärische Uneinnehmbarkeit Venedigs (obwohl die Stadt keine Mauern besaß), sondern war auch bedeutsam für die juristische Argumentation der ursprünglichen Freiheit der Stadt, die niemandem untertan war, eben weil sie keine Verbindung zum Festland hatte. Die Lagunenpolitik mit ihren Flussumleitungsprojekten transportierte also die Herrschaftsideologie des venezianischen Patriziats.

Das Buch endet mit einem ausblickenden Kapitel, das die weiteren Verschiebungen des Diskurses um Venedig und die Lagune bis in die Gegenwart hinein verfolgt. Man möchte insbesondere diesen Seiten (und in der Folge dem ganzen Buch) eine breite Leserschaft wünschen, denn es handelt sich um ein beeindruckendes Beispiel kluger wissenschaftlicher Essayistik, das aus der Verknüpfung literarischer Zeugnisse, eigener wissenschaftlicher Ergebnisse und aktueller gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen wichtige Einsichten zur aktuellen Situation der Lagunenstadt vermittelt.

Der Rezeption des Buchs hätte es zwar geholfen, wenn die Karten größer und damit lesbarer reproduziert worden wären und wenn die zahlreichen italienischen Zitate eine Übersetzung erfahren hätten, aber dies sind Marginalien angesichts der Leistungen der Untersuchung. Ansonsten ist Mathieu nur in einem Punkt zu widersprechen. Wenn er im – durchaus amüsanten – ersten Absatz des Vorwortes die Suche nach einem passenden Einstiegszitat mit den Worten Karl Valentins beschließt, dass – insbesondere zu Venedig – schon alles gesagt worden sei, aber noch nicht von jedem, so muss angesichts der vorliegenden Arbeit festgehalten werden, dass sich hier noch viel bisher Ungesagtes findet. Aufgrund dieser Leitung wird das Buch nicht nur zu einer unverzichtbaren Lektüre für alle an der Geschichte Venedigs Interessierten werden, sondern ebenso für diejenigen, die sich mit Problemen frühneuzeitlicher Umwelt- und Herrschaftsgeschichte beschäftigen – oder einfach für Leser, die ein sehr gutes historisches Buch zur Hand nehmen wollen.

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