O. Litvak: Conscription and the Search for Modern Russian Jewry

Cover
Titel
Conscription and the Search for Modern Russian Jewry.


Autor(en)
Litvak, Olga
Reihe
Modern Jewish Experience
Erschienen
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
€ 36,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Gumb, SFB "Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel. Interkulturelle und intertemporäre Vergleiche", Humboldt-Universität zu Berlin

Der Historiker Salo Baron prägte 1929 den Begriff der „lachrymose theory“. Er beschrieb damit eine Tradition der Historiographie, die jüdische Geschichte bis zur Aufklärung lediglich als Abfolge von Unterdrückung und Rechtlosigkeit schildert.1 Auch für die Juden des russischen Zarenreichs haben Generationen von Forschern diese Leidensgeschichte erzählt. Sie wurde vom jüdischen Kantonist, dem bedauernswerten Bewohner russischer Militärsiedlungen, verkörpert. Er sei minderjährig mit Gewalt dem heimischen Schtetl entrissen worden und habe in der Armee der Zaren allerlei Qualen zu erdulden gehabt. Sein Schicksal stehe stellvertretend für die Leiden aller Juden des Imperiums.

Jüngere Forschungsarbeiten haben dieses Bild relativiert.2 Radikale Ansätze gehen gar so weit, den Wehrdienst russischer Juden unter Nikolaus I. von 1827 bis 1855 als Ansatz zur erstrebenswerten Integration und notwendigen Modernisierung der Juden zu deuten. Die nachhaltige Wirkung, die das Bild des jüdischen Kantonisten nach wie vor habe, so wird argumentiert, liege darin begründet, dass es fester Bestandteil der auf hebräisch, jiddisch und russisch verfassten Literatur geworden sei. Die „Einberufungsgeschichte“, die „conscription story“ war ein etabliertes Genre der ostjüdischen Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit der Erfahrung der Kantonisten selbst habe sie aber herzlich wenig zu tun.3

Dies ist der Punkt, an dem Olga Litvaks Studie ansetzt. Denn ihr Buch behandelt nicht den Beitrag, den der Dienst von Juden in der russischen Armee zum Entstehen eines modernen Judentums erbracht hätte. Litvak geht es vielmehr darum, wie Geschichte als Objekt der Literatur jüdische Geschichtsbilder geprägt hat (S. 2). Nicht der Rekrut also, sondern seine literarische Repräsentation steht im Mittelpunkt der Untersuchung. Ihr Buch handelt vom Beitrag der Literatur zur Genese einer modernen jüdischen Identität.

Der russische Staat betrieb unter den Zaren Nikolaus I. und Alexander II. eine Politik, die das Ziel hatte, jüdische Individuen – und, wie Litvak immer wieder betont, nicht etwa das Judentum in seiner Gesamtheit – aufzuklären. Sie sollten ihrem heimischen Kontext, den man als archaisch und barbarisch wahrnahm, entrissen und zum christlichen Glauben bekehrt werden. Unter Nikolaus I. spielte die Armee dabei eine zentrale Rolle – Litvak spricht hier völlig zu Recht von „social engineering“.4 Dieses aufklärerische Programm, so eine der zentralen Thesen des Buches, hatte dann für die weitere Geschichte der Juden im Zarenreich schwerwiegende Folgen. Es brachte eine autochthone jüdische Intelligenz hervor, die in ihrer Staatsgläubigkeit, ihrer Aufklärungswut und ihrem Selbsthass nichts weiter war als das Pendant zu den aufgeklärten russischen Eliten.

Im Hauptteil ihres Buches erzählt Litvak davon, wie Männer aus dieser Intelligenz in der Literatur das perfekte Medium sahen, um ihre Utopie zu verwirklichen: die Schöpfung eines säkularen, aufgeklärten russischen Judentums, das jüdisch sein konnte, ohne jüdisch zu handeln (S. 42). Anhand der Erzählungen und Memoiren von Autoren wie O. A. Rabinowitsch und W. N. Nikitin zeigt Litvak in ihrem zweiten Kapitel, wie in der Literatur mit dem Martyrium jüdischer Rekruten die Grundlage für die Wiedergeburt des jüdischen Volkes gesucht und gefunden wurde.

Mit den ersten Schritten zur Emanzipation der Juden im Zuge der „Großen Reformen“ unter Zar Alexander II. veränderte sich die Aufgabe, die jüdische Intellektuelle der Einberufungsliteratur zuschrieben. Denn ähnlich wie ihre russischen Kollegen sahen auch sie sich zunehmend unter dem Druck des Buchmarktes. Autoren wie I. M. Dik, G. Bogrow und J. L. Gordon mussten nun, so argumentiert Litvak, für ein zunehmend gebildetes, urbanes und weibliches jüdisches Publikum schreiben – und warnten dieses in ihren Texten auch gleich vor den Folgen der Reformen wie etwa dem Aufbrechen traditioneller Strukturen. Den verderblichen Trends ihrer Gegenwart stellten diese Autoren das Ideal der paternalistischen Welt Nikolaus I. gegenüber: Die Einberufungsgeschichte geriet ihnen zum bürgerlichen jüdischen Familienroman konservativer Ausrichtung.

Schalom Jakob Abramowitsch ist der Held in Litvaks viertem Kapitel. Seine Version der Einberufungsgeschichte interpretiert sie als typische Reaktion auf die Spaltung der jüdischen Intellektuellen in radikale Maskilim und eine professionelle, an den zarischen Hochschulen ausgebildete jüdische Intelligenz. Abramowitsch, so Litvak, suchte durch seine Literatur – und gerade durch sein literarisches alter ego, durch Mendele den Buchhändler – die weltliche Geschichte der zunehmend individualistischen russischen Juden in den kollektiven Mythos von dem einen russischen Judentum umzuschreiben.

Die Autoren der „jüdischen Renaissance“ in Russland waren es dann, die mit der apokalyptischen Darstellung des Militärdienstes mythopoetische Rezepte zur Lösung von Problemen ihrer Gegenwart lieferten (S. 141). Und hier näherte sich die Erfahrung des Militärdienstes nun einer spezifisch jüdischen an: dem „galut“, der Vertreibung, aus der alleine die Wiedergeburt erfolgen könne.

Das sechste Kapitel markiert den Endpunkt in Litvaks Darstellung der Einberufungsgeschichte. Denn in der professionellen jüdisch-russischen Historiographie, wie etwa bei Simon Dubnow, sei sie zur spirituellen Impfung für das Judentum gegen die säkulare Macht der Geschichte geworden (S. 174). Dabei hatte die Geschichte von der Konskription einen zentralen Stellenwert: Hier entstand ein historiographisches Paradigma, das Litvak – in Anlehnung an die Judenverfolgungen der spanischen Inquisition von 1492 – das „iberische“ nennt. Nikolaus I. mutierte zu Ferdinand II., die Armee zum Ort der Inquisition, der jüdische Rekrut zum „marrano“. Nach Meinung der Autorin ist dies nur aus dem Kontext zu verstehen, in dem die Werke von Dubnow und anderen entstanden: der geographischen Zersplitterung russischer Juden nach Pogromen, Revolutionen, Krieg und Vertreibung. Zu beiden Zeitpunkten, nach 1492 und 1917, habe die literarische Rekonstruktion der Vergangenheit zur Deformation des historischen Gedächtnisses und der Genese einer idealtypisch-utopischen Vision eines jüdischen Kollektivs geführt, das man der traurigen Gegenwart entgegenstellen konnte.

In ihrer Zusammenfassung geht Litvak einen Schritt weiter: Die Analogie zu 1492 bewirkte in ihren Augen eine Sakralisierung des jüdischen Rekruten (S. 207). Sein Schicksal wurde nun analog zum biblischen Exil gedeutet. Die fast schon rituellen Wiederholungen dieser Analogie, so Litvak, hätten schlussendlich zur völligen Loslösung des Bildes des Rekruten sowohl von seinem Ursprung im nikolaitischen Russland, als auch von seiner normativen Deutung in der Zeit der „Großen Reformen“ geführt. Und im „postwar Yiddishland“ mit seiner Folklore vom heilen Schtetl sei dieses Bild dann vollends frei verfügbar geworden: „The figure of the recruit, born under the radical sign of mascilic difference now serves as freefloating signifier of the biological link to the shtetl, a contemporary marker of Jewish belonging that unites the diehard secular Zionist with the vaguely traditional American Jew and with the pious, black-hatted follower of the Lubavicher rebbe.” (S. 207) Der jüdische Rekrut ist nun völlig von seiner ambivalenten Bedeutung losgelöst, ist nur noch vage genealogische Markierung. Er ist zu jedermanns geliebtem jüdischen Großvater geworden.

Für sich betrachtet wirkt Litvaks Argumentation schlüssig. Denn bei aller empirisch fundierten Kritik, die etwa an einer zu optimistischen Perspektive auf die russische Armee als Agent der Modernisierung von Juden geübt werden kann5, erscheint beides plausibel: Litvaks Schilderung der Verselbständigung literarischer Repräsentationen vom jüdischen Rekruten und deren gesellschaftspolitische Inanspruchnahme und Funktionalisierung. Nur: Was ist mit der Dekonstruktion literarischer topoi über deren Wirkung ausgesagt? Litvak beschreibt die unterschiedlichen Kontexte, in denen die entsprechenden Texte produziert wurden und die Motivation der Autoren. Man würde jedoch gerne etwas mehr darüber erfahren, wie sich Menschen diese Repräsentationen aneigneten, wie sie ihnen ihren je eigenen Sinn verliehen und wie sie mit ihnen ihre eigene kleine Welt auslegten.

Anmerkungen:
1 Baron, Salo W., Ghetto and Emancipation. Shall We Revise the Traditional View?, in: The Menorah Journal 14 (1929), S. 528.
2 Etwa: Nathans, Benjamin, Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Late Imperial Russia, Berkeley, Los Angeles 2002.
3 So Johanan Petrowski-Stern in seiner Dissertation, die an der Brandeis University geschrieben und auf russisch publiziert wurde als: Ewrei w Russkoi Armii: 1827—1914 [Die Juden in der russischen Armee, 1827—1914], Moskau 2003, hier S. 357—412.
4 Unter Bezug auf: Kimerling, Elise, Soldier’s Children, 1719—1856: A Study of Social Engineering in Imperial Russia, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 30 (1982), S. 61—136.
5 Für die Zeit nach 1874: Benecke, Werner, Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Rußland 1874—1914, Paderborn u. a. 2006, S. 258—282.

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