R. N. Swanson (Hrsg.): Indulgences in Late Medieval Europe

Cover
Titel
Promissory Notes on the Treasury of Merits. Indulgences in Late Medieval Europe


Herausgeber
Swanson, Robert N.
Reihe
Brill's Companions to the Christian Tradition 5
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 360 S.
Preis
€ 97,29
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Ehlers, Gymnasium Bad Nenndorf

Eine ganze Reihe von Studien der letzten Jahre bezeugt ein neues Interesse am Ablass. Dabei geht es oft um die Präsenz des Ablasses im Alltag, um diplomatische und institutionengeschichtliche Fragen. Die Neuauflage des grundlegenden Werkes von Nikolaus Paulus illustriert zugleich, dass eine moderne Gesamtschau des mittelalterlichen Ablasswesens in Europa fehlt.1 Darauf weist auch Robert N. Swanson in der Einleitung des vorliegenden Sammelbandes hin (S. 1–9). Eine solche Synthese sei schon wegen der bedeutenden und oftmals vernachlässigten Rolle des Ablasses im Spätmittelalter wünschenswert. Der Band wirft Schlaglichter ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Geografisch fehlen etwa Frankreich oder Skandinavien, thematisch zum Beispiel die Orden. Wegen des knappen Auswahlregisters dürfte dem eiligen Benutzer vieles Interessante verborgen bleiben. Gleichwohl stellt diese sorgfältig edierte Sammlung eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einer europäischen Geschichte des Ablasses im Mittelalter dar.2

Robert W. Shaffern gibt einen Überblick über die Theologie des Ablasses bis ins 13. Jahrhundert, der sich naturgemäß auf ausgewählte Theologen und Kanonisten beschränken muss (S. 11–36). Im Anschluss an Thomas von Aquin formuliert er, die Kirche habe mit dem Ablass Schuldscheine („promissory notes“) auf den Schatz der überschüssigen Verdienste Christi und seiner Heiligen („treasury of merits“, Kirchenschatz) ausgestellt (S. 25). Daher der Titel des Bandes. Mehr als in der Theologie zeigt sich die Bedeutung des Ablasses aber in der religiösen Praxis, für die mehrere Beispiele vorgestellt werden.

Giovanna Casagrande erkundet exemplarisch die Bedeutung von Ablässen für italienische Bruderschaften vom 13. bis zum 15. Jahrhundert (S. 37–63). Sie interpretiert die Ablässe als Ausdruck eines bewussten Förderungswillens der kirchlichen Hierarchie, wobei sie die aktive Rolle der Ablassverleiher womöglich überschätzt. Dass die Bruderschaften die Ablässe für wichtig erachteten, zeigen die seit dem 14. Jahrhundert überlieferten Ablass-Summarien. Charles M. A. Caspers stellt unterschiedliche Erscheinungsformen des Ablasses in den Niederlanden vor (S. 65–99). Er überzeugt durch differenzierte Überlegungen zum finanziellen Wert von Ablässen und weist auf die Bedeutung der Pfarrei für das Ablasswesen hin. Anregend ist seine These, dass sich die vorreformatorische Ablasskritik gegen die Beeinträchtigung des „klassischen“ Ablass-Systems auf Pfarrei- und Diözesanebene gerichtet habe, weil fiskalisch zugespitzte Formen der Ablassverkündigung zunehmend die Interessen der Pfarrei verletzten. Terminologisch ungenau sind Caspers Ausführungen zu den professionellen Almosensammlern (er nennt diese Quästoren etwas eigenwillig quaestiarii), die nicht hinreichend von den „Boten“ (nuntii) unterschieden werden. Die Quästoren waren eine notorische Erscheinung, weswegen sie auch in die volkssprachliche Literatur Eingang fanden. Insbesondere in England habe es eine „Tradition“ der Beschäftigung mit den „Pardoners“ gegeben, als deren Zentrum Alastair Minnis Chaucer identifiziert (S. 169–195). In den Canterbury Tales verdichtete Chaucer verschiedene Typen des Quästors zur literarischen Person des „Pardoners“, was Minnis überzeugend belegt.

Der Aufnahme und Kritik von Ablässen im vorhussitischen Böhmen und Mähren widmen sich Eva Doležalová, Jan Hrdina, František Šmahel und Zdeněk Uhlíř. Zunächst geben sie einen Überblick über Ablässe für Empfänger in den Diözesen Prag und Olmütz von etwa 1200 bis 1420 (S. 101–120, Anhang S. 142–145). Auf solider diplomatischer Grundlage wird hier eine quantitative Grundlage für mögliche Vergleiche im europäischen Maßstab geschaffen. Ein zweiter Abschnitt schildert minutiös die Ablasskritik der frühen hussitischen Reformbewegung, vor allem am Beispiel der Prager „Ablass-Unruhen“ von 1412 (S. 120–141). Inhaltlich ergeben sich Berührungspunkte mit der von Anne Hudson untersuchten Ablasskritik Wyclifs und seiner Anhänger (S. 197–214). Hier wie dort zeigt sich, dass der Ablass als solcher nicht das zentrale Anliegen war, sondern wegen profunderer theologischer Einsichten abgelehnt wurde.

Kaum Klagen über Ablassmissbräuche verzeichnet John Edwards für das Spanien des 15. und 16. Jahrhunderts (S. 147–168). Seine Untersuchung der Rolle von Ablässen im Rahmen der „geistlichen Ökonomie“ beschreibt Formen der Jenseitsvorsorge, wie man sie überall in Europa findet (Stiftungen, Messen, Gebete usw.). Eine gesteigerte Bedeutung des Ablasses wird dabei nicht recht erkennbar. Dass wichtige Pilgerstätten und die Reconquista mit besonderen Ablässen verknüpft waren, muss erwähnt werden, bringt aber wenig Neues. Den Stellenwert von Ablässen für Pilger thematisiert Diana Webb ausführlicher (S. 241–275). Sie charakterisiert die Ablässe als „part of a total pilgrimage experience“ (S. 269). Dass der Ablass andere Motive in den Schatten stellte, lässt sich hingegen nicht nachweisen. So muss auch offen bleiben, ob und wie Ablässe tatsächlich mehr Pilger anlockten und deren Spendenbereitschaft erhöhten, wie Webb in wohltuender Nüchternheit feststellt. Ärgerlich ist allerdings ihre Unkenntnis wichtiger Arbeiten zu den ad instar-Ablässen oder zu den römischen Indulgenzen.3 Ähnliche Deutungsschwierigkeiten werfen die Kreuzzugsablässe des 15. Jahrhunderts auf (Norman Housley, S. 277–307). Während Raimund Peraudi, dessen zentrale Bedeutung Housley bekräftigt, in Deutschland beträchtliche Erfolge erzielen konnte, blieben die Ergebnisse andernorts und zu anderen Zeiten weit hinter den Erwartungen zurück. Dabei ging es meist um Geld, die persönliche Kriegsteilnahme gegen die Türken blieb eine nennenswerte Ausnahme. Im Anhang dokumentiert Housley den Text eines unausgefüllten Peraudi-Beichtbriefes von 1488.

Robert N. Swanson stellt Devotionsablässe nach englischen Quellen vor und vermutet zu Recht, dass sich – trotz regionaler Spielarten – in England eine ähnliche Praxis wie im übrigen Europa entwickelt habe (S. 215–240). Die Variabilität der Überlieferung sowie das Nebeneinander fantastisch hoher Ablässe und „normaler“ Indulgenzen über 40 Tage zwingt zur Frage nach der Bedeutung dieser Ablässe in der zeitgenössischen Frömmigkeit. Auf Swansons für Dezember angekündigte Monografie über Ablässe in England darf man gespannt sein. Falk Eisermanns Beschreibung des Ablasses als „Medienereignis“ erschien bereits an anderer Stelle4 und wird hier in einer leicht aktualisierten englischen Fassung ohne Abbildungen und Auswahlbibliografie geboten (S. 309–330). Eisermann erläutert, wie vor allem die Ablasskommissare Einblattdrucke zur Intensivierung der Kommunikation nutzten. Die Reformation machte dann ihrerseits mit Hilfe der Drucktechnik dem mittelalterlichen Ablasswesen den Garaus. Um dieses Ende geht es in David Bagchis Untersuchung der 95 Thesen Luthers (S. 331–355). Bagchi demonstriert, wie frühere ablasskritische Äußerungen Luthers in die Thesen eingeflossen sind. Seine tabellarische Zuordnung der Texte bietet ein praktisches Hilfsmittel. In den Thesen gewannen zwei wichtige neue Aspekte Gewicht: Der Kirchenschatz und die Vollmacht des Papstes. Das waren auch die Punkte, die den Konflikt mit der kirchlichen Hierarchie heraufbeschworen, wie Bagchi an einem Vergleich mit einem Pariser Ablass-Gutachten und der Theologie Cajetans zeigt, die genau diese Themen umgingen, aber Luthers Kritik ansonsten recht nahe kamen.

Das Verdienst des Bandes besteht vor allem darin, die Beiträge von Forschern aus verschiedenen Ländern zu bündeln und damit zu vergleichenden Studien anzuregen. Gerade die oft sehr unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen für die einzelnen Länder zeigen, wie wenig systematisch die Erforschung des Ablasswesens bislang verläuft. Insbesondere die Rolle von Ablässen im Alltag, zum Beispiel auf der Ebene der Pfarrei, muss noch genauer herausgearbeitet werden. Mehrere Beiträge verdeutlichen, wie schwierig die angemessene Beurteilung von Wirkung und Bedeutung der Ablässe oft ist. Das ist ein wesentlicher Fortschritt gegenüber häufig anzutreffenden pauschalen Urteilen über Ablässe und ihren Wert.

Anmerkungen:
1 Paulus, Nikolaus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter, 3 Bde., 2. Aufl., mit einer Einleitung und einer Bibliografie von Thomas Lentes, Darmstadt 2000. Zu den jüngeren Studien vgl. die Bibliografie bei Lentes, ferner z.B.: Pellegrini, Luigi; Paciocco, Roberto (Hrsg.), „Misericorditer relaxamus“. Le indulgenze fra teoria e prassi nel Duecento, Napoli 1999; Seibold, Alexander, Sammelindulgenzen. Ablaßurkunden des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, Köln 2001; Thalmann, Söhnke, Ablassüberlieferung und Ablasspraxis im spätmittelalterlichen Bistum Hildesheim, Diss. phil. Göttingen 2006 (Drucklegung in Vorbereitung).
2 Das Inhaltsverzeichnis ist abrufbar unter http://www.brill.nl/default.aspx?partid=18&pid=255805580 [17.08.2007].
3 Frankl, Karlheinz, Papstschisma und Frömmigkeit. Die „Ad-instarAblässe“, in: Römische Quartalschrift 72 (1977), S. 57–124, 184–247; Miedema, Nine, Rompilgerführer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Die „Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae“ (deutsch/niederländisch). Edition und Kommentar, Tübingen 2003 sowie frühere Arbeiten von Miedema.
4 Eisermann, Falk, Der Ablaß als Medienereignis. Kommunikationswandel durch Einblattdrucke im 15. Jahrhundert, in: Suntrup, Rudolf; Veenstra Jan R. (Hrsg.), Tradition and Innovation in an Era of Change. Tradition und Innovation im Übergang zur Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2001, S. 99–128.

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