H. Trischler u.a. (Hrsg.): Ein Jahrhundert im Flug

Cover
Titel
Ein Jahrhundert im Flug. Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1907-2007


Herausgeber
Trischler, Helmuth; Schrogl, Kai-Uwe
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
552 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Liudger Dienel, Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin

Ein beeindruckender Sammelband, erschienen zum 100. Geburtstag des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) und herausgegeben von dem Historiker Helmuth Trischler, der vor 15 Jahren über das gleiche Thema, damals bis zum Jahre 1970, habilitiert hat, und dem Politologen und DLR-Mitarbeiter (Leiter Unternehmensentwicklung und Außenbeziehungen) Kai-Uwe Schrogl. Etwa die Hälfte der 25 Beiträge sind historisch, die andere Hälfte gleichberechtigt gegenwartsorientiert ausgerichtet. Das macht den großen Wert dieses Buches aus. Allerdings sind ein Teil der gegenwartsorientierten Beiträge in der Tendenz etwas zu werblich verfasst und nutzen nicht immer die vorhandene Kompetenz für eine kritische Beleuchtung der aktuellen Luft- und Raumfahrtforschung. So kommen die Grußworte und kaum einer von den der heutigen Situation gewidmeten Beiträge ohne die gebetsmühlenartig wiederholte Betonung der besonderen Bedeutung der Luft- und Raumfahrtforschung für die Entwicklung der gleichnamigen "Schlüsselindustrie" und damit der Zukunft des Hochlohnlands Deutschland aus. Muss das so betont werden, weil die Zusammenhänge zwischen diesem Zweig der Forschung und der technologischen Entwicklung vielleicht viel indirekter und weniger deutlich sind als vermutet?

Die historischen, geistes- und sozialwissenschaftlichen Beiträge fassen zumeist Erkenntnisse und Thesen aus (lange) zuvor veröffentlichten Publikationen zusammen, bringen also für den Spezialisten wenig Neues. Das gilt auch für den instruktiven zusammenfassenden Einleitungsaufsatz der Herausgeber. Doch dadurch wird das Buch nicht weniger wichtig. Durch die historischen Beiträge ist es ein gutes Nachschlagewerk über die jeweiligen Hauptthesen der Autoren/innen zum Thema. Für die gegenwartsbezogenen Beiträge gilt dies allerdings nicht immer, - dazu variieren sie in der Qualität doch zu stark. Wichtig wäre das Buch auch für den internationalen Auftritt der deutschen Luft- und Raumfahrtforschung, die über viele Jahre weltweit führend war und auch heute - schon rein finanziell - weiterhin ein internationales Schwergewicht darstellt. Mit dem Buch wird diese historische und gegenwärtige Bedeutung durchaus unterstrichen. Doch um international zu punkten, müsste das Buch noch ins Englische übersetzt werden sowie mehr international vergleichende Beiträge integrieren.

Von den vorhandenen drei internationalen Perspektiven ist John Logsdons Abriss der deutschen Raumfahrtprojekte zudem recht oberflächlich geraten. Die anderen beiden Beiträge sind allerdings ein Perspektivengewinn: Karl-Eugen Reuters kritische Sicht auf die deutsche Raumfahrtforschungspolitik nach 1945 und Adriaan de Graaffs Untersuchung der deutschen Luftfahrtforschungspolitik sind interessant, weil sie die Strategiedefizite der deutschen Politik, wie auch die ambivalente Haltung und Schließungstendenzen der US-amerikanischen Forschungspolitik, offen legen. Sie tun dies stärker als dies etwa der (ehemalige, nun pensionierte) zuständige Ministerialbeamte Jan-Baldem Mennicken in seinem Artikel unternimmt, obwohl er dazu allen Grund gehabt hätte. Die für den Bereich der Luftfahrtforschung mögliche Gegenthese zu dem Vorwurf der Strategielosigkeit, dass nämlich Deutschland nach 1955 viel preiswerter als etwa Frankreich und Großbritannien wieder zu einer starken Luftfahrtindustrie gekommen ist, ist im Band nicht vertreten.

Für eine internationale Einordnung der deutschen Forschung wären, wie gesagt, mehr vergleichende Beiträge hilfreich gewesen. So wirkt der Band noch zu selbstreferenziell und damit leicht provinziell. Bekannte einschlägige Kapazitäten, etwa Michael Neufeld, John Krige oder David Edgerton, fehlen im Buch. Aber das kann in einer wünschenswerten englischen Ausgabe ja noch nachgeholt werden.

Das Buch hat - abgesehen von der Betonung der Bedeutung der Luft- und Raumfahrtforschung - keine verbindende Hauptthese. Der kompendiumsartige Charakter des Werks, und damit der Anspruch auf Vollständigkeit, wird durch den Titel "ein Jahrhundert im Flug" einerseits unterstrichen - das ganze Jahrhundert soll in den Blick genommen werden - aber zugleich auch schon wieder aufgegeben, - zu schnell rauscht das Jahrhundert im Fluge vorbei. Wichtige disziplinäre Perspektiven der Luft- und Raumfahrtforschung, etwa die ökonomische, sowie wichtige Aspekte insbesondere in der Zivilluftfahrt, etwa der zivile Luftverkehr, die Flughäfensysteme oder die so genannte allgemeine Luftfahrt kommen kaum in den Blick, obwohl der Bau von Verkehrsflugzeugen und die Organisation der zivilen Luftfahrt heute ökonomisch den Kern der Luftfahrtforschung darstellt. Auch die industrielle Perspektive kommt etwas zu kurz. Ernst Hirschels (ehemals EADS, heute Ruhestand) Artikel zur Luftfahrtforschung in der Bundesrepublik, vermutlich als Beitrag aus industrieller Perspektive gemeint, beschränkt sich auf eine technische Zusammenfassung wichtiger Forschungsfragen und vermeidet eine Analyse der Forschungsstrategien der Unternehmen.

Aber: Mit einer detaillierten Darstellung insbesondere der ingenieurwissenschaftlichen sowie, angemessen knapper, der juristischen und medizinischen Luft- und Raumfahrtforschung ist der Band bereits erfreulich breit angelegt. Zwei Beiträge sind der Technikfolgenabschätzung (TA) zur Luft- und Raumfahrtforschung gewidmet. Armin Grunwald fasst knapp die Aufgaben der TA zusammen, interessanter wäre eine kritische Analyse der bisherigen TA Projekte zum Thema gewesen. Carl-Friedrich Gethmann trägt seine bereits 1993 veröffentlichte Begründung für eine bemannte Raumfahrt als "Kulturaufgabe", vergleichbar zu den Entdeckungsreisen um 1500, hier noch einmal vor.1 Die grundsätzliche Bejahung der Möglichkeit einer Kulturaufgabe "bemannte Raumfahrt" scheint mir unproblematischer als ein (bei Gethmann nicht erwähnter) Vorschlag für die Priorisierung unterschiedlicher, wünschenswerter Kulturaufgaben angesichts knapper Mittel.

Die kulturwissenschaftlich-ästhetischen Beiträge von Peter Fritzsche zur Luftfahrtbegeisterung in Deutschland der Zwischenkriegszeit (so gut wie sein Buch zum Thema von 1992)2 und Christoph Asendorf (über die Wechselwirkungen von künstlerischen Raumvisionen und Luftfahrtvisionen) sind ebenso instruktiv wie kurzweilig zu lesen. Anja Cassers Beitrag über die Luft- und Raumfahrtvisionen der Gebrüder Römer und ihrer Werbeagentur in den 1920er- und 1930er-Jahren ist einer der wenigen Beiträge, der neues empirisches Material ausbreitet.

Die Beiträge der Technik- und Wirtschaftshistoriker Helmut Maier, Lutz Budrass und Burghard Ciesla sind erwartbar gut geschrieben und interessant. Ciesla vergleicht die (zum Teil erzwungene) Emigration von deutschen Luft- und Raumfahrtforschern in die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten und versucht, den deutschen Beitrag in beiden Supermächten abzuschätzen. Die geringe Integration der deutschen Forscher in der Sowjetunion wird daran deutlich, dass aus der UdSSR im Laufe der Jahre fast alle Emigranten nach Deutschland zurückkehrten, während in den USA die meisten der rund 1000 Forschungsemigranten (mit ihren rund 2000 Angehörigen) blieben und damit nachhaltiger wirkten. So stieg der Einfluss deutscher Wissenschaftler in den USA phasenweise wieder an, etwa nach dem Beginn des Koreakriegs oder dem Sputnikschock. Budrass bringt eine interessante These zur Bedeutung der Konversion der gigantischen Luftfahrtindustrie in Deutschland nach 1945 für das bald einsetzende Wirtschaftswunder. Eine ähnliche These hat Takashi Nishiyama (im Text nicht erwähnt) auch für den Aufstieg der japanischen Wirtschaft nach 1945 vertreten.3

Einzelne Beiträge widersprechen sich im Detail, was den Lesewert aber eher erhöht. So hält Lutz Budrass einen engen Zusammenhang zwischen der Tragflügeltheorie von Rudolf Prandtl und der Entwicklung des "dicken Flügels" bei Hugo Junkers (S. 160) für gegeben. Michael Eckert kann hingegen nachweisen, dass die Tragflügeltheorie, und vor allem ihre Anwendbarkeit auf die Berechnung von Flügelprofilen, bei Junkers bis 1918 unbekannt war (S. 64). Dieser Fall ist deshalb interessant, weil er ein Schlaglicht auf die Nutzung von Forschungserkenntnissen für die industrielle Praxis wirft. Eckert kann durch ein Junkers-Zitat aus dem Jahr 1918 belegen, dass dieser seinen "dicken Flügel" intuitiv und empirisch entwickelt und durch viele Messungen verbessert hat, während Budrass offensichtlich davon ausgeht, dass eine wissenschaftliche Erkenntnis, wenn sie der industriellen Anwendung zeitlich vorangeht, in der Regel auch Auslöser und Grundlage für die industrielle Anwendung ist. Für Junkers, obwohl er selbst als Professor sogar aus der akademischen Forschung kam, bevor er Unternehmer wurde, war das aber beim "dicken Flügel" wohl nicht der Fall.

Es ist unvermeidlich, dass ein so breit angelegter Sammelband kleine Errata aufweist. So verlegt Helmut Maier beispielsweise die Emigration Theodore von Kármáns in die Zeit nach 1933 (S. 106), der aber schon Ende der 1920er Jahre und endgültig 1932 nach Kalifornien gegangen war. Das sind Details. Mit dem Sammelband liegt ein Werk vor, das aus ganz unterschiedlichen Perspektiven die wechselvolle Geschichte der deutschen Luft- und Raumfahrtforschung beleuchtet und durch die Kompilation interessante Perspektivenvergleiche sowie, nicht zuletzt durch die Einleitung, ein Kompendium zum Thema bietet, das in den Bücherschrank aller Luft- und Raumfahrthistoriker/innen gehört, um dort neben die Monografien von Trischler und Reinke4 gestellt zu werden.

Anmerkungen:
1 Gethmann, Karl F., Bemannte Raumfahrt als Kulturaufgabe, in: Luft und Raumfahrt (1993), 5, S. 8-13.
2 Fritzsche, Peter, A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridgde 1992.
3 Nishiyama, Takashi, Cross-Disciplinary Technology Transfer in Trans-World War II Japan: The Japanese High-Speed Bullet Train as a Case-Study, in: Comparative Technology Transfer and Society 1 (2003), S. 305-325.
4 Reinke, Niklas, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik. Konzept, Einflussfaktoren und Interdependenzen 1923-2002, München 2004.

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