M. Laurinat: Kita Ikki (1883-1937) und der Februarputsch 1936

Titel
Kita Ikki (1883-1937) und der Februarputsch 1936. Eine historische Untersuchung japanischer Quellen des Militärgerichtsverfahrens


Autor(en)
Laurinat, Marion
Reihe
BUNKA - WENHUA. Tübinger Ostasiatische Forschungen 13
Erschienen
Münster 2006: LIT Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maik Hendrik Sprotte, Institut für Japanologie, Zentrum für Ostasienwissenschaften (ZO), Universität Heidelberg

Die Diskussion, ob das Herrschaftssystem des japanischen Kaiserreichs zu irgendeinem Zeitpunkt in der Phase des so genannten „Fünfzehnjährigen Krieges“ in China und im Pazifik (1931-1945) als faschistisch klassifiziert werden kann, hält in der historischen Japanforschung seit Jahrzehnten an.1 Als „Kronzeuge“ der Befürworter dieser These einer japanischen Variante faschistischer Herrschaft wird – neben dem Publizisten und politischen Aktivisten Ôkawa Shûmei (1896-1957) 2 – oft Kita Ikki als mutmaßlicher Chefideologe des japanischen Faschismus genannt. Marion Laurinat hat sich in ihrer 2004 an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Tübingen eingereichten und 2006 in der renommierten Publikationsreihe der Tübinger Ostasienwissenschaften erschienenen Dissertation seinem publizistischen Werk und nicht zuletzt seinem politischen Handeln zugewendet. Laurinat hat den Schwerpunkt ihrer historisch-hermeneutischen Analyse dabei auf die Auswertung von Gerichtsakten und Verhörprotokollen gelegt – Dokumenten, in denen Kita, unter dem Vorwurf der Beteiligung am so genannten „Zweiten Putschversuch der Jungen Offiziere“ zur Schaffung einer absoluten Tennô-Herrschaft, dem Februarputsch des Jahres 1936, verhaftet, Rechenschaft gegenüber den Sicherheitsbehörden, der Staatsanwaltschaft und einem Militärgericht abzulegen hatte.

Ein zentraler Begriff der Untersuchung Laurinats ist der Terminus der „Shôwa-Restauration“. Damit wird die politische Forderung nationalistischer Kreise nach einer alle Bereiche des Gemeinwesens umfassenden Reform der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen Japans nach 1868 beschrieben. Mutmaßlicher Korruption, Insubordination gegenüber dem Tennô als quasi-göttlichem Herrscher des Landes, sozialer wie wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und einer daraus resultierenden Revolutionsgefahr sollte mit der Errichtung einer unmittelbaren Tennô-Herrschaft unter gleichzeitiger Aussetzung der seit 1889 bestehenden japanischen Verfassung begegnet werden.

Auf der Basis der Aussagen Kita Ikkis und von Putschisten nach ihrer Verhaftung 1936 geht Laurinat den Fragen nach, wie sich einerseits „die konkrete Einflussnahme Kita Ikkis auf die Shôwa-Restauration“ gestaltete, und welche Rolle ihm andererseits „innerhalb des Februarputsches von 1936“ (S. 15) zukomme. Dabei bezieht sich Laurinat auf verschiedene, mehr oder weniger vollständige Dokumentensammlungen, in denen Verhör- und Gerichtsprotokolle sowie weitere Materialien zum Verfahren gegen Kita Ikki als mutmaßlichem geistigem Vater des Februarputsches in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts publiziert wurden. Ein kenntnisreicher Überblick über die Dokumentenlage und den Stand der japanischen und westlichen Forschung zu Kita (S. 18-22, S. 24-28) gibt einen Eindruck von den Mühen, denen sich Laurinat bei der Erschließung des Materials zu stellen hatte. Dieses erste Kapitel endet mit einer Klärung der für die vorliegende Arbeit fundamentalen Termini „Shôwa-Restauration“, „Ultranationalismus“ und „Faschismus“, wobei Laurinat die Anwendung des letzteren auf Japan für problematisch hält.

Im Sinne des Erkenntnisinteresses Laurinats ein wenig zu monolithisch ist das zweite Kapitel zu den „historischen Grundlagen“ gestaltet. Neben einem Lebenslauf Kitas geht Laurinat auf die Erscheinungsform des japanischen Staates und seiner Staatsideologie ein, wobei sie es für erforderlich hält, bis in die feudale Übergangsphase unmittelbar vor dem Beginn der Moderne in Japan mit der Meiji-Restauration des Jahres 1868 zurückzugehen. Bedauerlich sind hier begriffliche Ungenauigkeiten, die die Samurai beispielsweise mal als Stand, als Klasse oder gar Kaste (S. 50) charakterisieren. Neben dem Einfluss des Westens auf Japan berücksichtigt Laurinat in ihrer Darstellung ebenso die Konstitutionsbedingungen des Meiji-Staates (Verfassung, Erziehungsedikt und Staatsshintô) wie die „nationalistische Entwicklung Japans und ihre politischen Einflussfaktoren von 1920 bis 1936“ (S. 62ff.). Der Begriff der „Taishô-Demokratie“ als Synonym für eine wachsende politische Bedeutung des Volkes und seiner erwachenden politischen Sensibilität findet allerdings keineswegs erst, wie Laurinat schreibt, für die „ab Mitte der zwanziger Jahre währende Regierungsform“ der Parteienkabinette (S. 62), sondern bereits für die Zeit nach 1905 Verwendung.3

Für eine Bewertung des Einflusses Kitas auf den japanischen Ultranationalismus der 1920er- und 1930er-Jahre von zentraler Bedeutung sind seine Schriften, von denen Laurinat im dritten Kapitel die drei wichtigsten Abhandlungen unter den Stichworten „Sozialismus“, „Panasiatismus“ und „Staatsreorganisation“ vorstellt. Mit diesen drei Kategorien sind auch zugleich die wichtigsten Elemente von Kitas politischem Denken identifiziert. Besonders die Schrift „Umriss eines Planes zur Reorganisation Japans“ von 1919 (S. 88ff.) mit einem starken anti-westlichen Ressentiment und seiner Forderung nach einem Staatstreich im Sinne der „Shôwa-Restauration“ stützte den juristischen Vorwurf gegen Kita als möglicher geistiger Urheber des Februarputsches.

Der „Vita activa“ Kitas ab 1923 wendet sich Laurinat in ihrem vierten Kapitel zu. Neben seine Funktion als einer der konzeptionellen Denker des japanischen Ultranationalismus trat bei Kita das konkrete politische Engagement, indem er sich als Politikberater für seine politischen Überzeugungen aktiver einzusetzen und sich mit zahlreichen ultranationalistischen Gruppen, Einzelpersonen und Wirtschaftsunternehmen zu verbinden begann. Laurinat analysiert in diesem Kontext auf der Grundlage der Gerichtsakten den Einfluss Kitas auf die zwischen 1931 und 1936 vergeblich mehrere Putsche planende und gelegentlich ausführende „Bewegung Junger Offiziere“, die mit seinen Vorstellungen zu sympathisieren schienen.

Die folgenden beiden umfangreichen Kapitel widmet Laurinat einerseits der Frage seiner persönlichen Verstrickung in den Februarputsch 1936 durch direkte Kontakte zu Putschisten vor und während des Aufstandes und den intellektuellen Austausch mit ihnen, andererseits vor allem der Problematik, inwieweit seine im Reorganisationsplan formulierten Gedanken und deren Wirkung, so sie denn überhaupt einen spürbaren Einfluss auf die Ziele der Putschisten hatten, einer richterlichen Entscheidung unterworfen werden konnten.

Ihre Analyse führt Laurinat zu dem Fazit, das gegen Kita ausgesprochene Todesurteil entbehre einer juristischen Grundlage, da er sich einerseits trotz Kenntnissen der Putschplanung nicht aktiv an dieser beteiligt habe, andererseits aber auch seine Schrift im Kreise der Putschisten weitgehend unter dem Generalverdacht sozialistischer Färbung gestanden und daher nicht den bisher angenommenen Einfluss gehabt habe. Eine Untersuchung und Evaluation des zeitgenössischen strafrechtlichen Hintergrundes des Urteils, die dem autoritären Charakter des japanischen Herrschaftssystems bis 1945 Rechnung tragen, unterbleibt allerdings.

Durch die vollständige Übersetzung des Protokolls der eigentlichen Gerichtsverhandlung gegen Kita macht Laurinat außerdem ein wichtiges Zeitdokument für die historische Forschung in deutscher Sprache zugänglich. Die Arbeit schließt mit einem Literaturverzeichnis und umfangreichen, deutsch-japanischen Glossaren der „handelnden Personen“ (inklusive eines Abrisses ihrer Lebensläufe), nationalistischer Gruppen und wichtiger Fachtermini.

In stilistischer Hinsicht hätte dem Text sicher eine Überarbeitung und Beseitigung sprachlicher Unebenheiten gut getan. Gelegentlich verbinden sich zudem sprachliche mit inhaltlichen Ungenauigkeiten: z.B. „terroristische Staatsstreiche“ (S. 13), als nur scheinbarer Pleonasmus, der die theoretischen Annahmen zu Differenzierungen der politikwissenschaftlichen Termini „Terror“ und „Staatsstreich“ verwischt, „Kriegsministerium“ (z.B. S.14) statt „Heeresministerium“ als Pendant zum gleichfalls existierenden Marineministerium. Zweifelsohne vom individuellen Leseverhalten abhängig hat sich die Entscheidung Laurinats, auf Fußnoten zu verzichten und den Kapiteln Endnoten hinzuzufügen, bei der Lektüre gelegentlich als störend erwiesen. Erklärungen hätte man sich eher in unmittelbarer Nähe des erläuterten Sachverhalts gewünscht.

Es ist das Verdienst Laurinats, einen gehaltvollen und quellenreichen Überblick über den jüngsten japanischen Forschungsstand zur tatsächlichen Bedeutung Kita Ikkis innerhalb der ultranationalistischen Bewegung im Japan der 1920er- und 1930er-Jahre vorgelegt zu haben. Ob diese Arbeit jenseits fremdsprachlicher Beschränkungen, die ihre Rezeption in Japan verständlicherweise erschweren, in Detailaspekten Fragen und Hinweise auf die japanische Forschung zurückwerfen kann, die dort einen weiteren, wenn vielleicht auch nur marginalen Perspektivwechsel ermöglichen, bleibt abzuwarten.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu: Schölz, Tino, Faschismuskonzepte in der japanischen Zeitgeschichtsforschung, in: Krämer, Hans Martin; Schölz, Tino; Conrad, Sebastian (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Japan, Göttingen 2006, S. 107-134; Kasza, Gregory J., Fascism from above? Japan’s kakushin right in comparative perspective, in: Larsen, Stein Ugelvik (Hrsg.), Fascism outside Europe. The European Impulse against Domestic Conditions in the Diffusion of Global Fascism. New York 2001, S. 183-268; Krämer, Hans Martin, Faschismus in Japan. Anmerkungen zu einem für den internationalen Vergleich tauglichen Faschismusbegriff, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts 2 (2005), S. 6-32; Martin, Bernd, Zur Tauglichkeit eines übergreifenden Faschismus-Begriffs. Ein Vergleich zwischen Japan, Italien und Deutschland, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 48-73.
2 Bei ostasiatischen Personennamen wird der Familienname dem persönlichen Namen vorangestellt.
3 Vgl. Meyer, Harald, Die „Taishô-Demokratie“. Begriffsgeschichtliche Studien zur Demokratierezeption in Japan von 1900 bis 1920, Bern 2005, S. 62.

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