K.-J. Hummel u.a. (Hrsg.): Kirchen im Krieg

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Titel
Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945


Herausgeber
Hummel, Karl-Joseph; Kösters, Christoph
Erschienen
Paderborn u.a. 2007: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
614 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Jantzen, SFB 437 "Religion und Krieg", Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Die Literatur zum Dritten Reich und zum Zweiten Weltkrieg ist mittlerweile nahezu unüberschaubar geworden. Und zugleich stellt der Zweite Weltkrieg erst seit wenigen Jahren ein eigenständiges Forschungsfeld der NS-Forschung wie der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung dar, war das Wissen über die christlichen Kirchen im Krieg bisher gering. Dazu trug auf katholischer Seite sicher bei, dass ihre Forschungsperspektive durch eine „aufgezwungene Verteidigungshaltung bestimmt“ war und dass umgekehrt Katholiken als Gegenstand der NS-Forschung kaum eine Rolle spielten, wie einer der Herausgeber, Karl-Joseph Hummel, in seinem Beitrag zu Geschichtsbildern im deutschen Katholizismus konstatiert (S. 566). Eine ökumenisch-vergleichende Betrachtungsweise stand ebenfalls noch aus.

Der vorliegende Sammelband „Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945“ trägt entscheidend dazu bei, dies zu ändern. Er holt den Forschungsstand auch auf internationaler Basis ein, zeigt Desiderata auf und eröffnet neue Perspektiven. Der Band geht auf die Tagung „Kirchen im Krieg“ zurück, die im Oktober 2004 von der Bischöflichen Kommission für Zeitgeschichte gemeinsam mit dem Marburger Lehrstuhl für evangelische Kirchengeschichte veranstaltet wurde.

Breit angelegt, gibt der Band zunächst einen Überblick über die europäischen Kirchen im Krieg: Er beginnt mit der Außenpolitik des Vatikans (Thomas Brechenmacher), die nicht auf ein schuldhaftes Schweigen des Papstes zum Holocaust reduziert werden kann, und weist die schwierige Balance zwischen Neutralität und Parteiergreifung auf, die von einer moralischen Instanz im Weltkrieg zu halten war. Auch der nachfolgende Artikel über den im Aufbau begriffenen Ökumenischen Rat der Kirchen während des Krieges (Armin Boyens) zeigt die Hilflosigkeit der neutralen Instanz, die Schwierigkeit, überhaupt Gehör zu finden, das Dilemma zwischen Ächtung und Verhandlung den NS-Stellen gegenüber – und das unter diesen Voraussetzungen doch noch Erreichte an Rettung, an Menschlichkeit und moralischer Integrität. Die nachfolgenden Aufsätze zu den lutherischen Volkskirchen in den nordischen Ländern (Jens Holger Schjørring), zur katholischen Kirche in Belgien und in den Niederlanden (Lieve Gevers), zu den französischen Katholiken (Marie-Emmanuelle Reytier) und zum Katholizismus in Ostmitteleuropa (Emilie Hrabovec) geben einen guten Überblick über die Forschungsergebnisse zu den verschiedenen Voraussetzungen, Reaktionen und kirchenpolitischen Positionierungen der in unterschiedlicher Weise vom NS-Regime betroffenen Ortskirchen. Ihre Zusammenstellung im Kapitel „Europäischer Krieg und christliche Kirchen“ macht zudem deutlich, wie verschieden die Voraussetzungen für die Kirchen in den europäischen Ländern waren, und wie sehr diese Voraussetzungen die Reaktionen der Kirchen prägten. Zugleich scheinen aber auch immer wieder die Spielräume auf, die es dennoch gab, und in denen öffentlicher Protest oder stille Diplomatie, Eintreten für die Verfolgten über die eigene Kirche hinaus oder auch nicht, Mut und Versagen Platz hatten.

Im zweiten Abschnitt des Bandes geben zwei Aufsätze einen Überblick über „Krieg, Theologie und Kriegserfahrung“ (Wilhelm Damberg) auf deutscher katholischer Seite und über den Zweiten Weltkrieg und den deutschen Protestantismus (Jochen-Christoph Kaiser). Hier wird mit dem Spannungsfeld von der Lehre des gerechten Krieges, der schwierigen kirchenpolitischen Positionierung und der Kriegserfahrung der Soldaten, die ihre Erfahrungen nicht mehr mit der theologischen Deutung überein zu bringen vermochten, ein großer Bogen eröffnet. Damit ist der Raum abgesteckt, in dem die „Christen in der Kriegsgesellschaft“ agierten und denen das dritte Großkapitel des Bandes gewidmet ist. Diesem vorangestellt ist noch der erste von zwei Diskussionsberichten, in denen vorhandene Forschungsergebnisse wie Desiderata gebündelt zusammengefasst wurden. Der zweite findet sich am Ende des dritten Kapitels, auch er ein wertvoller Einblick in und Überblick über die Forschungslandschaft.

Im dritten Kapitel werden die Kirchen im Krieg von verschiedenen Seiten in den Blick genommen: Zunächst wird von Annette Mertens mit dem Klostersturm die NS-Politik der katholischen Kirche gegenüber betrachtet – sie zeigt auf, dass diese Politik mit dem Vorschieben der „nationalen und kriegsbedingten Interessen“ (S. 264) versuchte, die Kirche und insbesondere die Orden und Klöster zu bekämpfen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die nachfolgenden Ausführungen Monica Sinderhaufs zur Katholischen Wehrmachtsseelsorge nochmals in einem härteren Licht. Militärbischof Justus Rarkowki und Feldgeneralvikar Georg Werthmann hatten einerseits mit der Isolierung im deutschen Episkopat zu kämpfen, das keine unter einem eigenständigen Militärbischof organisierte Militärseelsorge gewünscht und beim Abschluss des Reichskonkordats in dieser Frage unterlegen gewesen war. Andererseits hatte die Wehrmachtsführung zwar Interesse an der kirchlichen Militärseelsorge zur Motivierung der Soldaten, versuchte jedoch zugleich, „das Militär von religiös-kirchlicher Einflussnahme freizuhalten“ (S. 288), während die NS-Kreise die kirchliche Präsenz ganz auszuschalten suchten. In Verbindung mit dem nächsten Aufsatz von Jana Leichsenring wird der Spagat deutlich, den die Kirchen zu halten hatten, wenn sie einerseits für die kriegführenden Soldaten bereitstehen und andererseits für „'Nichtarier' und Juden“ eintreten wollten: Der Aufsatz „Christliche Hilfen für 'Nichtarier' und Juden. Die Kirchen und der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft und Juden 1933-1945“ beleuchtet das Handeln der Kirchen in diesem Zusammenhang von der sehr kirchenfreundlichen Sicht des jüdischen Autors Bruno Blau von 1948 her. Dessen Ausführungen zum positiven Einsatz sowohl der protestantischen als auch der katholischen Kirche für die Juden werden von der Autorin relativiert und korrigiert. Sie arbeitet stattdessen heraus, dass der Protest des Stuttgarter Landesbischofs Theophil Wurm in seinem Eintreten für Nichtarier nicht wie von Blau behauptet den Juden im Allgemeinen, sondern nur den protestantisch getauften Juden galt. Ebenso relativiert sie dessen Würdigung der Eingabenpolitik des Kardinals Adolf Bertrams, des Berliner Bischofs Konrad von Preysing und der katholischen Institutionen: Auch diese setzten sich vor allem für katholisch getaufte Juden ein; „dieser Einsatz geschah im Sinne der Einhaltung und Unverletzlichkeit kirchlicher Rechte“ (S. 314).

Dem Gesundheitswesen im Zweiten Weltkrieg, einem „Schlüsselsektor der Kriegsgesellschaft“ (S. 16), ist der Aufsatz zu „Katholische[r] Kirche und nationalsozialistische[m] Gesundheitswesen“ von Winfried Süß gewidmet. Er zeigt das beträchtliche Ausmaß an Kooperation zwischen beiden auf, das sich auch auf das Gebiet der Zwangssterilisierungen erstreckte. Ebenso arbeitet er aber die Konkurrenz der NS-Stellen zu den Pflegeorden heraus, das Misslingen der Entkonfessionalisierung der Krankenhäuser, den Protest der katholischen Stellen gegen die Euthanasie und ihre Verweigerung jeder Mitwirkung an Schwangerschaftsabbrüchen. Die Bilanz bleibt zwiespältig: Die katholische Gesundheitsfürsorge blieb lebensfähig, hatte den NS-Verbrechen teils widerstanden, teils an ihnen mitgewirkt und insgesamt dabei geholfen, die Infrastruktur des Krieges zu erhalten. In Bezug auf die evanglische Kirche gilt das Interesse des Bandes vor allem der „Zwangsarbeit in [...] Kirche und Diakonie“, das Uwe Kaminsky beleuchtet. Auch hier ist die Bilanz gemischt: Die Kirche bemühte sich nicht um den Einsatz von Zwangsarbeitern, aber sie nahm die „Teilnahme am [...] System der Ausbeutung [...] bewusst in Kauf“ (S. 361).

Die folgenden vier Aufsätze widmen sich den Wahrnehmungen und Deutungen des Krieges auf der Ebene von Lebenswelt und Milieu: Christoph Kösters schreibt über „Kirche und Glaube an der 'Heimatfront'“, Thomas Flammer über „Migration und Milieu“, Christoph Holzapfel über die „Junge christliche Generation und Kriegserfahrungen“ und Ellen Ueberschär über „Geschlechterbeziehungen in der Evangelischen Kirche während des Zweiten Weltkriegs“. Die „staatlicherseits erzwungene und kirchlicherseits nicht abgelehnte 'Verkirchlichung' des Katholizismus“ (S. 398) einerseits sowie die Kriegsdeutung junger Soldaten durch vertraute „religiöse Wissensbestände“ (S. 441) andererseits markieren die Spannung, in der sich Kirche und Kirchenmitglieder befanden, zwischen Einsatz für das Vaterland und Einsatz für die Kirche, nationalen und religiösen Kriegsdeutungen, zwischen Mitwirkung, Resistenz und Verweigerung. Die Untersuchung zu den Geschlechterbeziehungen zeigt, dass evangelische Vikarinnen und Gemeindehelferinnen zeitweise kriegsbedingt neue Handlungsspielräume auszufüllen vermochten – dass aber diese Handlungsspielräume von Männern und den Frauen selbst nicht als dauerhaft erschlossen, sondern als „Abweichung von der Norm begriffen wurden“ (S. 466). Die Aufnahme dieser Fragestellung in den Band zeigt auf, wie wertvoll Ergebnisse sind, die die Genderperspektive in die zeithistorische Forschung einbringen kann und wie eklatant die Lücke ist, wenn sie fehlt.

Im abschließenden vierten Kapitel werden die Nachwirkung des Krieges und die Formulierung der Erinnerung behandelt. Der Aufsatz „Christen und der Widerstand. Forschungsstand und Forschungsperspektiven“ (Winfried Becker), die Ausführungen zur Erinnerung an „'braune' Protestanten und protestantische 'Märtyrer'“ (Björn Mensing), zu „Geschichtsbilder[n] im deutschen Katholizismus 1945-2000“ (Karl-Joseph Hummel) und zu „Katholische[n] Erinnerungsdiskurse[n] über den Zweiten Weltkrieg in Österreich und in der Schweiz“ (Franziska Metzger) schlagen Brücken in die Gegenwart, thematisieren die Wandlung des Geschichtsbildes innerhalb der Kirchen und die Nicht-Rezeption der Ergebnisse zeithistorischer Forschung durch die Öffentlichkeit, formulieren neue Forschungsperspektiven und schließen den Band wiederum mit einem internationalen Ausblick. Angehängt findet sich noch englische Zusammenfassungen.

Der Band ist breit angelegt, aber nie oberflächlich, er gibt einen Überblick über Ereignisse und die Forschung und nimmt zugleich in mehreren Tiefenbohrungen die Akteure und ihre Umgebung genau in den Blick. Mit seiner Vereinigung verschiedener Perspektiven und den sich in der Zusammenstellung gegenseitig erhellenden Fragestellungen stellt er ein ausgesprochen glückliches Resultat der Tagung dar. Diese erste und hervorragend gelungene Zusammenstellung des Forschungsstandes korrigiert gängige Geschichtsbilder und setzt präzise Forschungsergebnisse an ihre Stelle. Dabei übernimmt sie sich nicht und weist auf Forschungslücken hin, anstatt sie vorschnell füllen zu wollen. Zudem sind die Aufsätze durchweg in einer klaren Sprache gehalten, detailliert, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren, gut und mit großem Gewinn zu lesen. Der Band ist uneingeschränkt empfehlenswert.

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