Ph. Gassert u.a. (Hrsg.): Coping with the Nazi Past

Cover
Titel
Coping with the Nazi Past. West German Debates on Nazism and Generational Conflict, 1955-1975


Herausgeber
Gassert, Philipp; Steinweis, Alan E.
Reihe
Studies in German History 2
Erschienen
Oxford 2006: Berghahn Books
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
$ 85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristina Meyer, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die publizistische Welle, die derzeit rund um den Ereigniskomplex „1968“ heranschwappt, zeigt, dass die Inszenierung der runden Jahrestage historischer Ereignisse durch Medien und Wissenschaft inzwischen eine beträchtliche Vorlaufzeit in Anspruch nimmt. Auf einer solchen Konjunkturwelle schwimmt der vorliegende Sammelband jedoch nicht: Er dokumentiert eine bereits 2001 veranstaltete Konferenz des Deutschen Historischen Instituts in Washington, die dem Umgang mit der NS-Vergangenheit in den „langen“ 1960er-Jahren gewidmet war. Die 18 Beiträge, von denen hier nicht alle erwähnt werden können, beleuchten Inhalt, Funktion und Bedeutung vergangenheitspolitischer Diskurse innerhalb der westdeutschen Gesellschaft im Hinblick auf eine Vielzahl politik-, sozial- und kulturhistorischer Aspekte. Der Band dient vor allem dem Transfer deutscher Forschungsergebnisse und Diskussionen in den angloamerikanischen Raum.

Konrad H. Jarausch umreißt zentrale Fragen und Probleme, die mit dem Anspruch einer Historisierung der 1960er-Jahre verbunden sind. Eine solche Historisierung erfordere die Überwindung des „Rituals von Verdammung und Apologie“ (S. 14), das aus der Konkurrenz zwischen der nostalgisch-mythologisierenden Erinnerung von Zeitzeugen und der Polemik ihrer Kritiker erwachsen sei. Die Fixierung auf die Ereignisse von 1967/68 müsse einer Erweiterung der Perspektive auf ihre Vor- und Nachgeschichte weichen: Gerade im Hinblick auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit sei die Studentenrevolte nicht der Auslöser für eine offenere Auseinandersetzung gewesen, sondern habe lediglich den bereits seit einem Jahrzehnt im Gang befindlichen Diskurs dramatisiert und popularisiert.

Habbo Knoch fragt nach der visuellen Prägung kollektiver Erinnerung an die NS-Verbrechen. Die Wiederkehr fotografischer Zeugnisse der Judenvernichtung in das Blickfeld der Öffentlichkeit seit Mitte der 1950er-Jahre habe eine Gesellschaft herausgefordert, die – nach einer sehr kurzen Phase der Konfrontation mit den Schrecken der Konzentrationslager in der unmittelbaren Nachkriegszeit – in der Phase von Wiederaufbau und „Wirtschaftswunder“ eine konsensuelle Selbsterinnerung als Opfer von Krieg, Flucht und Vertreibung verinnerlicht hatte. Das Aufeinanderprallen zweier widersprüchlicher „Bilder“ der NS-Vergangenheit sei dann in den 1960er-Jahren mit dem Generationenkonflikt zusammengetroffen. Indem die revoltierenden Studenten aber einer genaueren Auseinandersetzung mit den Strukturen des NS-Regimes und den Erfahrungen und der Mittäter- oder Mitläuferschaft auswichen, so Knoch, trugen sie ungewollt zu einer Entlastung der Elterngeneration bei. Sie vereinnahmten Auschwitz und die zu „Ikonen der Vernichtung“ avancierenden Fotografien des Judenmords als universelle Symbole von Unterdrückung und Gewalt im Kontext einer überdehnten Faschismustheorie.

Marc von Miquel analysiert den öffentlichen Diskurs über den Umgang mit NS-Verbrechen am Beispiel der forcierten Strafverfolgung, des Eichmann-Prozesses und der Auschwitz-Prozesse sowie der Verjährungsdebatten. In diesen Debatten kam zum Ausdruck, dass die Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft trotz eines wachsenden Interesses an Aufklärung über die Details der Judenvernichtung nicht wahrhaben wollte, dass letztere das Werk „ganz normaler Männer“ aus ihrer Mitte gewesen war: Ausgerechnet zur Zeit der großen Prozesse erreichte die Zustimmung zu einem „Schlussstrich“ unter die Strafverfolgung ihren Höhepunkt. Von Miquel betont in diesem Zusammenhang die Rolle der Medien, die mit ihrer Berichterstattung zwar überkommene Narrative durchbrachen, zugleich aber auch Distanzierungsangebote lieferten, indem sie zu einer Dämonisierung der NS-Verbrecher beitrugen.

Die Auseinandersetzung von Berufs- und Interessengruppen mit der NS-Vergangenheit ist Thema der Beiträge von Klaus Weinhauer und Karen Schönwälder. Weinhauer zufolge führte eine in der westdeutschen Polizei ungebrochene Kameradschaftskultur dazu, dass Ermittlungsverfahren gegen an NS-Verbrechen beteiligte Polizisten über Jahrzehnte blockiert wurden. Erste Ansätze zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung der Polizei mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus wurden bis in die 1970er-Jahre vom langlebigen Mythos einer unpolitischen Polizei überlagert, die zum Werkzeug des NS-Regimes gemacht worden sei. Dass der Umgang der westdeutschen Gesellschaft mit „Gastarbeitern“ in zweifacher Hinsicht von der NS-Vergangenheit geprägt war, zeigt Schönwälder am Beispiel der Äußerungen des Bundesverbands der Arbeitgeber: Einerseits sollte eine betont tolerante Haltung gegenüber den ausländischen Arbeitskräften das internationale Ansehen der Bundesrepublik erhöhen, andererseits sei die Ablehnung eines Anwerbens von Gastarbeitern aus asiatischen und afrikanischen Ländern Beleg für den Fortbestand rassistischer Ressentiments gewesen.

Detlef Siegfried und Dagmar Herzog beleuchten den Zusammenhang von Generationswechsel, Wertewandel und NS-Vergangenheit. Siegfried bietet in seiner Analyse des Einflusses popkultureller Medien der 1960er-Jahre auf den Umgang der westdeutschen Jugend mit dem „Dritten Reich“ einen Einblick in seine kürzlich erschienene Habilitationsschrift.1 Das mit erzieherischem Impetus in den Medien vermittelte negative Image des Nationalsozialismus wurde von den Jugendlichen zwar verinnerlicht und diente ihrer durch Abgrenzung von den Eltern definierten Identität, trug aber nicht zwangsläufig zu einer konkreten Beschäftigung mit der NS-Geschichte bei. Herzog erörtert noch einmal die vieldiskutierte These ihrer 2005 erschienenen Monographie2: Die Achtundsechziger hätten ihre „Sexuelle Revolution“ zwar als ein Aufbegehren gegen die NS-Sexualmoral verstanden, tatsächlich aber habe sich ihr Protest unbewusst gegen die Prüderie der 1950er-Jahre gewandt, die selbst wiederum als Reaktion auf eine nur vermeintlich strenge, in Wirklichkeit aber durchaus freizügige Sexualmoral des Nationalsozialismus gedeutet werden müsse.

Ein weiterer Schwerpunkt des Sammelbands liegt auf der ambivalenten Auseinandersetzung der Studentenbewegung mit dem Nationalsozialismus: Wirkte ihre Revolte als Katalysator eines offeneren Umgangs mit der NS-Vergangenheit, oder artikulierte ihr radikaler Diskurs nur das Ergebnis eines längst im Gang befindlichen Prozesses? Inwieweit war ihre enthistorisierende Faschismusanalyse Instrument zur ideologischen Positionierung in der Gegenwart? Michael Schmidtke verneint die initiierende Wirkung des studentischen Faschismusdiskurses für die westdeutsche „Vergangenheitsbewältigung“. Ihre gesellschaftsprägende Bedeutung habe vielmehr in einer Veränderung der Wertvorstellungen, Geschlechterverhältnisse und Erziehungsideale bestanden, die sich zunehmend von autoritären Anschauungen lösten. Elizabeth Peifer konstatiert, dass Großdemonstrationen und Straßenkämpfe in der Wahrnehmung einer konservativen Teilöffentlichkeit als demokratiegefährdende Manifestationsformen gesehen wurden, die an die Massenaufmärsche der Nationalsozialisten und die Straßengewalt der späten Weimarer Jahre erinnerten. Verkannt worden sei dabei, dass die von Schülern und Studenten etablierte Demonstrationskultur einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung einer offeneren politischen Partizipationskultur in der Bundesrepublik geleistet habe. Belinda Davis kann zeigen, dass die Rhetorik in den Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Staatsgewalt auf beiden Seiten von Vergleichen mit dem Nationalsozialismus geprägt war.

Joachim Scholtyseck untersucht den Beitrag konservativer Intellektueller zu den vergangenheitspolitischen Debatten der 1960er-Jahre, denen die Forschung zu lange mit Ignoranz oder Geringschätzung begegnet sei. Im Zuge einer kritischeren Sicht auf die neo-marxistischen und enthistorisierenden Faschismusanalysen der Achtundsechziger erlangten manche Überlegungen der damaligen Konservativen über massenpsychologische und säkularisierungsbedingte Erklärungen für den Erfolg des Nationalsozialismus gegenwärtig wieder wachsende Aufmerksamkeit.

Michael Hochgeschwender beschäftigt sich mit den Reaktionen der katholischen Studentenverbindungen auf die Rebellion der Achtundsechziger. Den tiefgreifenden Wandlungsprozessen im katholischen Milieu zum Trotz hätten die katholischen Verbindungen der Studentenbewegung sehr kritisch und ablehnend gegenübergestanden. Ein wichtiger Konfliktherd sei dabei die scharfe Kritik der Studenten am Verhalten der katholischen Kirche während der NS-Zeit gewesen. Die Verteidigungshaltung der katholischen Studentenverbindungen war nach Hochgeschwender Ausdruck wirkungsmächtiger katholischer Widerstandsmythen.

Ein letzter Themenschwerpunkt liegt auf der Bedeutung außen- und verteidigungspolitischer Aspekte für den Umgang mit der NS-Vergangenheit. S. Jonathan Wiesen befasst sich am Beispiel des amerikanisch-jüdischen PR-Experten Julius Klein mit der Verquickung von Wirtschafts- und Vergangenheitspolitik in den transatlantischen Beziehungen während des Kalten Krieges. Mit Hilfe der Vermittlungs- und Beratungstätigkeit Kleins betrieben deutsche Unternehmen in den 1950er-und 1960er-Jahren intensive Imagepflege gegenüber den USA und der dortigen Wirtschaft. Wiesen kann zeigen, dass dieses Bemühen um eine auf wirtschaftlichem Erfolg beruhende Ansehenssteigerung eng mit der wachsenden öffentlichen Aufmerksamkeit für die – imageschädigende – Beteiligung deutscher Unternehmen an NS-Verbrechen zusammenhing.

Der von Jarausch formulierte Anspruch, den Blick nicht nur auf die kurze Phase der Revolte zu richten, sondern die Perspektive zu erweitern, wird von allen Autoren eingelöst – allerdings nur im Hinblick auf die Vorgeschichte. Einigkeit besteht darüber, dass „1968“ in vergangenheitspolitischer und erinnerungskultureller Hinsicht eher Kulminations- als Wendepunkt war: Schon in den späten 1950er-Jahren begann ein Wandlungsprozess weg vom relativen „Beschweigen“ der Adenauer-Ära hin zu einer offeneren Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und ihren Verbrechen. Einen Blick auf die Nachgeschichte der Revolte und insbesondere auf ihre Auswirkungen für den Umgang mit dem Nationalsozialismus in den 1970er-Jahren wagt jedoch kaum einer der Autoren. Dies könnte Aufgabe eines weiteren Sammelbands sein.

Anmerkungen:
1 Siegfried, Detlef, Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006.
2 Herzog, Dagmar, Sex after Fascism. Memory and Morality in Twentieth-Century Germany, Princeton 2005 (dt.: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005).

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