M. Geyer u.a. (Hrsg.): Religiöse Vergemeinschaftung

Titel
Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland


Herausgeber
Geyer, Michael; Hölscher, Lucian
Reihe
Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung 8
Erschienen
Göttingen 2006: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
490 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Freytag, LMU München

Der Band fußt auf einer Chicagoer Tagung aus dem Herbst 2003. In einer kurz gehaltenen Einleitung skizzieren die beiden Herausgeber dessen Grundlagen. Im Mittelpunkt stehen die Fragen, wie sich religiöses Leben in modernen Gesellschaften wandelte und erneuerte sowie welche religiösen Vergemeinschaftungs- und Transzendenzformen sich ausmachen lassen. Diese Fragen fügen sich ein in einen bereits länger zu beobachtenden Forschungstrend, denn sie gehören in den Kontext des fragwürdig gewordenen Säkularisierungsparadigmas, das vor allem der Historischen Sozialwissenschaft als epochaler Grundzug des 19. und 20. Jahrhunderts galt. Der Einleitung folgen 18 Beiträge, wobei Lucian Hölscher und Hartmut Lehmann zunächst überblicksartig zentrale Grunderkenntnisse der Forschung zu religiösen Gemeinschaften im langen 19. Jahrhundert zusammentragen. Die übrigen Aufsätze sind sodann drei größeren Zeitabschnitten der deutschen Geschichte zugeordnet.

Die Analyse von neuen Frömmigkeitsformen zwischen Wiener Kongress und Bismarckära eröffnet Susan A. Crane. Sie untersucht Franz von Baader und Ignaz Lindl, die sich phasenweise erfolgreich bemühten, im alexandrinischen Russland eine ökumenische Religionsgemeinschaft aufzubauen. Beeinflusst von den chiliastischen und mystischen Strömungen der Zeit versuchten sie, die Heilige Allianz mit Leben zu füllen, und beförderten eine religiös motivierte Auswanderung nach Osten, die freilich im Zuge der restaurativen Wende innerhalb des Deutschen Bundes rasch stockte. Daniel Köhler nimmt danach den bekannten württembergischen Theologen Johann Christoph Blumhardt in den Blick, der seit einem spektakulären Exorzismus in den 1840er-Jahren überregionalen Zulauf als Wunderheiler hatte. Seine bis ins frühe Kaiserreich anhaltenden Erfolge erklärt Köhler mit den engen Wechselwirkungen zwischen den charismatischen Fähigkeiten Blumhardts und der lutheranischen Orthodoxie, die seine Gottesverehrung bestimmte (S. 84f.). Damit unterschätzt er freilich die krisengebundenen Konjunkturen konfessionsübergreifenden wundertätigen Heilens im 19. Jahrhundert ebenso wie dessen konkret lebensweltliche Wurzeln: Dort, wo die moderner werdende Medizin noch erfolglos blieb, suchten Kranke anderweitig Linderung. David Ellis spürt den Anstrengungen erweckter Konservativer – etwa Ernst Ludwig von Gerlachs – in der Revolution 1848/49 nach, den politischen und theologischen Liberalismus buchstäblich als Werkzeug Satans zu brandmarken. Zwar ist es in der Tat bemerkenswert, dass vormals als adelige Religionsrebellen geltende Pietisten sich nun zu Verteidigern von Staat und Gesellschaft aufschwangen, aber ob der hier greifbare Konflikt zwischen konservativem Neupietismus und liberalen bzw. demokratischen Revolutionären als „Kulturkampf“ zutreffend beschrieben ist, muss doch bezweifelt werden.

Acht Beiträge sind der Zeit zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik gewidmet. Am Beginn dieses Abschnitts steht Anthony J. Steinhoffs Skizze zum großstädtisch-religiösen Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der einmal mehr die Säkularisationsthese differenziert. Religiöse Vergemeinschaftung fand danach in Großstädten – auch in den vom Niedergang kirchlich organisierter Religiosität weniger betroffenen katholischen Gemeinden – vielfach außerhalb der kirchlichen Räume statt, etwa in Vereinen oder über die Lektüre religiöser Zeitungen und Zeitschriften. Ihm folgt James Bjorks Analyse der ausgeprägten kirchlich-katholischen Frömmigkeit im stark industrialisierten Oberschlesien, der in der preußisch-polnischen Grenz- und Konfliktzone vielfältige soziale und nationale Vergemeinschaftsfunktionen zuwuchsen. Im Unterschied dazu verfolgt Tobias Dietrich dörfliche Entkirchlichungsprozesse im westeuropäischen Raum, indem er Überlegungen seiner 2004 erschienenen Dissertation zusammenfasst. Seine These von einer weitgehend friedlichen, überkonfessionellen und teils sakralisierten Dorfgemeinschaft gerät vor allem deshalb sehr harmonisch, da sie sich nahezu ausschließlich aus gemischtkonfessionellen Beispielen speist. Todd H. Weir spürt den transzendenten Bezügen freireligiöser Gemeinden in Berlin nach 1850 nach, in denen bürgerliche und sozialistische Bildungs- und Gesellschaftsentwürfe sich eigentümlich vermischten. Moderne, ästhetisch inspirierte und diesseitsorientierte Formen religiöser Vergemeinschaftung und Sakralisierung nehmen Janet Boatin und Thomas Mittmann mit der Goetheverehrung und der Nietzscherezeption um 1900 ins Visier, wobei letztere insbesondere in völkischen Kreisen weite Verbreitung fand. Rita Panesar untersucht völkische, freigeistige und theosophische Zeitschriften der Wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik auf ihre religiösen Sinnkonstruktionen. Den Abschnitt beschließt Lou Bohlens Studie zur jüdischen Vergemeinschaftung: Nach 1900 erwiesen sich begrifflich wie konzeptionell an völkisch-biologischen Konzepten orientierte und religiös aufgeladene Vorstellungen einer jüdischen Rassen- und Nationsgemeinschaft als durchaus erfolgreich.

Der letzte Abschnitt ist der Zeitgeschichte nach 1945 verpflichtet. Während Mark Edward Ruff einen Überblick über die Erosion des katholischen Milieus in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg liefert, sucht Benjamin Ziemann mit Hilfe eines systemtheoretischen Zugriffs Antworten auf die Frage, wie die katholische Kirche in den 1960er- und 1970er-Jahren dieser Erosion und dem gesellschaftlichen Wertewandel begegnete. Dabei kann er plausibel machen, dass die „kommunikative Betonung der ‚Liebe‘ Gottes“ (S. 403) und der Ausbau politischer sowie karitativer Maßnahmen letztlich scheitern mussten. Denn diese Maßnahmen verschoben das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen Immanenz und Transzendenz zugunsten ersterer und verschärften die katholische Sinn- und Vergemeinschaftungskrise damit letztlich noch. Dass aber eine radikale Diesseitigkeit keinesfalls automatisch zu einem schubartigen Bedeutungsverlust des Religiösen führte, zeigt Dagmar Herzog am Beispiel der von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie inspirierten Dorothee Sölle und der atheistischen Gott-ist-tot-Theologie. Ehe Lena Inowlocki abschließend an zwei biographischen Einzelfällen aktuelle religiöse Orientierungen im Judentum und im Islam diskutiert, durchleuchtet Thomas Schmidt-Lux dem Stellenwert von Arbeit in der DDR unter religionssoziologischen Vorzeichen, misst ihr „religioide“ Qualität (Simmel) und – so seine These – den Rang eines transzendenten Wertes bei.

Fazit: Die Beiträge legen vielfältige religiöse Vergemeinschaftsformen jenseits fester Organisationen und eindeutiger Wahrheiten offen. Auffällig ist dabei eine starke individuelle und lebensweltliche Verankerung im Hier und Jetzt, die sich seit dem frühen 19. Jahrhundert immer wieder beobachten lässt. Insgesamt eröffnet sich ein weites, nicht nur religionshistorisch erkenntnisträchtiges Forschungsfeld, das sich dann auch verstärkt nationalsozialistischen Volks(ver)gemeinschaft(ungen) zuwenden und mit gesellschaftlichen Krisensymptomen und -wahrnehmungen verknüpft werden sollte.