Cover
Titel
Gemeinsam getrennt. Deutschland 1945-1990 in Quellen


Herausgeber
Bauerkämper, Arnd
Erschienen
Schwalbach/Ts 2004: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 9,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Zückert, Strausberg

Im Wochenschau-Verlag Schwalbach/Ts. ist 2004 ein Quellenband zu „Deutschland 1945 - 1990“ von Arnd Bauerkämper (Geschäftsführender Leiter des Zentrums für vergleichende Geschichte Europas an der Freien Universität Berlin) erschienen. Man könnte meinen, dass damit nur eine weitere Quellensammlung zu der Vielzahl bereits vorhandener hinzu getan worden sei. Aber sie verdient ein Aufmerken!

Interesse erzeugt zunächst der Titel „Gemeinsam getrennt“, ein Oxymoron als rhetorisches Mittel nutzend. Dem Thema folgend betont Arnd Bauerkämper bereits in der Einführung, dass es in jeder Phase der Nachkriegsgeschichte und bei der Entwicklung beider deutscher Staaten immer Verbundstücke gegeben habe, unabhängig von den Phasen unterschiedlich intensiver Abgrenzung und/oder Annäherung. Dabei sei allerdings die Einflussnahme der Bundesrepublik auf die Bevölkerung der DDR höher gewesen als die der DDR auf die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Das ist zweifellos richtig. Doch dabei kommt meines Erachtens die Tatsache zu kurz, dass beständig unterschwellige politische Einflussnahmen des einen Staates auf den anderen existierten und dass bei jeder Entscheidung in beiden Staaten der jeweils andere unsichtbar mit am Tisch gesessen und die Entscheidungen mit beeinflusst hat. Dies bringen auch sehr klar zwei Quellen zum Ausdruck, die aus den Federn von Christoph Kleßmann (S. 137) und Peter Bender (S. 138f.) stammen.

Zuzustimmen ist der Feststellung, dass es sowohl gemeinsame Erfahrungen im Alltagsleben der Bürger beider deutscher Staaten gegeben hat als auch wechselseitige Entfremdung in vielen gesellschaftlichen Bereichen (S. 9), bis hin zur Entwicklung und Ausprägung unterschiedlicher Mentalitäten.

Die Quellensammlung folgt der Chronologie und ist in 14 Abschnitte gegliedert, vom Kriegsende bis zur Wiedervereinigung. Vorangestellt ist ein Kapitel, das mit „Geteiltes Gedächtnis – gemeinsame Erinnerung“ überschrieben ist. Abgeschlossen wird der Kanon mit „Rückblicke(n)“. Einführungen umreißen jeweils die besondere Problematik der Abschnitte und gehen kurz auf die Inhalte der folgenden Materialien ein. Jede Quelle ist mit einer knappen Einleitung versehen.

Da „Gemeinsam getrennt“ wohl für allgemein historisch Interessierte und nicht primär für Schüler geschrieben und zusammengestellt worden ist, gibt es auch keinen didaktischen Apparat, die Quellen auszuwerten. Dennoch eignen sie sich durchaus auch als Handreichung für den Geschichts- und Politiklehrer. Sie sind eine begrüßenswerte Bereicherung von ansonsten häufig benutzten Quellen in vielen Geschichtsschulbüchern. Natürlich findet man allgemein bekannte Dokumente – wie sollte es auch anders sein! – wie das Petersberg Abkommen (S. 48f.), eine Stalin-Note (S. 51), die Erklärung Ulbrichts vom 15. Juni 1961 vor dem Mauerbau (S. 79), ein Honecker -Zitat vom 11. (Kahlschlag) Plenum 1965 (S. 84f.), die Erklärungen von Ministerpräsident Stoph und Bundeskanzler Brandt in Erfurt 1970 (S. 88 - 91) unter anderem.

Darüber hinaus sind aber auch Materialien aufgenommen worden, die nicht in jeder Sammlung zu finden sind und z.B. Alltagsprobleme betreffen: Flüchtlingskinder (S. 25ff.), Theater nach dem Krieg (S. 36f.), Demontagen in der sowjetischen Besatzungszone (S. 41), „Friss die Hälfte“ (S. 62f.), die unterschiedliche Rolle der Frauen in beiden Staaten (S. 65ff.). Für eine problemorientierte Betrachtung besonders geeignet – und das auch gerade im Geschichtsunterricht – sind: Der Protest des Magdeburger Pfarrers R. Ruther gegen den Einmarsch der Staaten des Warschauer Vertrages 1968 in die CSSR und die Darstellung der Aufgabe von NVA-Verbänden der DDR (S. 99), die Reflexion eines Schülers über einen dritten Weg für die Vereinigung beider deutscher Staaten (S. 13f.), der Aufruf von Berliner Studenten vom Dezember 1989 gegen die Wiedervereinigung (S. 125f.).

Die Auswahl der Quellen gibt ein breites, konturenreiches und zugleich Kenntnisse vermittelndes Bild über das Nebeneinander der deutschen Staaten. Des Hervorhebens wert ist das Bemühen, den untergegangenen Staat DDR ohne Häme zu betrachten, was keineswegs selbstverständlich ist.

Leider sind aber auch Sachverhalte zu verzeichnen, die nach wie vor bekannte Klischees westdeutscher Geschichtsinterpretation bedienen: So werden die Ursachen für die Abriegelung Westberlins 1948 durch die sowjetische Militärverwaltung und die Versorgung der Westberliner Bevölkerung mit Hilfe der Luftbrücke als einseitiger Willkürakt der sowjetischen Führung gesehen (S. 54). Außer Acht gelassen wird, dass im Vorfeld dieser Krise um Berlin die „Londoner Empfehlungen“ entgegen sowjetischen Vorschlägen auf die Forcierung der Westintegration der westlichen Besatzungszonen orientierten. Der Beschluss über die Währungsreform spitzte die auch von den Westalliierten zu verantwortende Krise erheblich zu. Nun kann man in einer Quellensammlung nicht alle Fakten darstellen, doch man vermisst Zusammenhänge, die dieses bedeutungsschwere Nachkriegsereignis aus wechselseitiger Perspektive bewerten und nicht verkürzt nur zu Lasten der Sowjetunion darstellen.

Bei dem Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR findet man einmal mehr die Feststellung, dass er durch sowjetische Panzer niedergeschlagen worden sei (S. 70). Damit wird ein geplantes, brutales, blutiges Vorgehen assoziiert, was in diesem Fall aber durch die angeführte Quelle keineswegs gestützt wird (S. 74ff.). Es ist ein beklagenswerter Umstand, dass es am 17. Juni 1953 und im Gefolge dieser Ereignisse Tote gegeben hat. Bekannt ist auch, dass die Zahl der Toten von Seiten der DDR zunächst verschwiegen und heruntergespielt, wie sie auf westlicher Seite weit übertrieben worden ist. Nach ständigen Korrekturen kommen letzte Untersuchungen auf eine Zahl von 55 Toten.1 Tote gab es auf beiden Seiten der Auseinandersetzung. Nachgewiesen sind fünf Tote auf der Seite der Staatsmacht (Volkspolizisten, sowjetische Soldaten), die anderen auf der Gegenseite. Ahrberg unter anderem weisen detailliert nach, wie viele Selbstmorde es nach den Festnahmen gegeben hat, wie viele Todesurteile von DDR-Gerichten und sowjetischen Instanzen gefällt und danach vollstreckt worden sind und wie viele Personen (Demonstranten, Passanten, Zuschauer) von Volkspolizisten und sowjetischen Soldaten erschossen worden bzw. an den Folgen der Schussverletzungen gestorben sind. Eine schwer zu überbietende Perversion bestand darin, dass noch am 17. Juni 1953 in Moskau eine Erschießungsquote festgelegt und übermittelt wurde, eine Praxis, die seit 1937 bei den Stalinschen Repressionen in der Sowjetunion angewandt worden ist. Dass allerdings durch den Einsatz sowjetischer Panzer und damit verbundener Gewalteinwirkung Menschen zu Tode gekommen seien, ist bisher nicht belegt und wird von russischen Generalen auch bis heute verneint. Es ist an der Zeit, den jahrzehntelang geübten Sprachgebrauch westdeutscher Geschichtsbetrachtung kritisch zu überdenken, weil er ein falsches Bild assoziiert, das durch die Fakten derzeit nicht belegt ist.

Ein weiterer neuralgischer Punkt, der immer wieder zu kontroversen Diskussionen Anlass gibt, ist ein Zitat von Honecker auf der 45. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 3. Mai 1974 über die Anordnung, „bei Grenzdurchbruchversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch“(S. 100) zu machen. Zwischenzeitlich ist richterlich festgestellt worden, dass ein förmlicher, schriftlich fixierter Schießbefehl nicht existiert hat. Das Wort „Schießbefehl“ (S. 99) ist in Anführungsstriche gesetzt. Somit scheint mir die Interpretation zumindest offen und hier nicht – wie oft praktiziert – als Propagandabegriff benutzt zu sein.

Bemerkenswert ist, dass Arnd Bauerkämper betont, es habe „zu schnelle Entscheidungen im überstürzten Vereinigungsprozess“ gegeben, „auch Probleme, die das Zusammenleben der Deutschen bis heute nachhaltig belasten“ (S. 9). In diesem Zusammenhang aufgeworfene Fragen wecken Interesse: Wird die DDR nur eine Fußnote in der Geschichte sein? Welche Erfahrungen können die Menschen in beiden deutschen Staaten in das vereinte Deutschland einbringen? Sehr vorsichtig wird vermerkt, dass dieses Quellenbuch es ermöglichen soll, Antworten darauf zu finden. Selbst bietet es keine an; es endet mit dem Jahr 1990. So ist diese Bemerkung wohl als Aufforderung zu verstehen, sich benannter Problematik verstärkt zuzuwenden.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Ahrberg, Edda; Hertle, Hans H.; Hollitzer, Tobias u.a. (Hrsg.), Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, LiT Verlag 2004.

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