T. A. Glootz: Alterssicherung im europäischen Wohlfahrtsstaat

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Titel
Alterssicherung im europäischen Wohlfahrtsstaat. Etappen ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Glootz, Tanja Anette
Reihe
Campus Forschung 885
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Conrad, Département d'histoire générale, Université de Genève; zur Zeit Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien

Obwohl einem bei dem Thema Alterssicherung aktuell zumeist das Wort „Krise“ einfällt, gilt es im Rückblick zunächst an die besondere Erfolgsgeschichte dieses Teils des Wohlfahrtsstaats zu erinnern. In seiner historischen und sozialwissenschaftlichen Erforschung haben neben nationalspezifischen Monographien besonders international vergleichende Studien und die Entwicklung von Typologien eine große Rolle gespielt. Obwohl Arbeiten zu grenzüberschreitenden Transfers, zur Aneignung oder Ablehnung ausländischer Modelle nicht gefehlt haben, ist die transnationale Dimension bis vor kurzem doch stark vernachlässigt worden. Umso mehr ist die von Tanja Glootz vorgelegte und von Hartmut Kaelble an der Humboldt-Universität zu Berlin betreute Dissertation zu begrüßen. Die Arbeit zeigt Chancen und Fallstricke einer historischen Längsschnittstudie auf einem durch Expertendiskurse und spezialisierte Literatur außerordentlich dicht besiedelten Terrain.

Nach einer ausführlichen Einleitung zur Fragestellung und den benutzten Quellen (vor allem offizielle Unterlagen aus dem politischen Entscheidungsprozess sowie zeitgenössische Darstellungen) konzentriert sich die Arbeit auf vier paradigmatische und strukturbildende Momente inter- und supranationaler Koordinierungspolitik im Bereich der Rentenversicherung. Zunächst geht es um die bilateralen Versicherungsabkommen für Wanderarbeiter vor dem Ersten Weltkrieg, insbesondere um den franko-italienischen Vertrag von 1904 und den deutsch-italienischen Vertrag von 1912. Nach einer recht kursorischen Behandlung der Zwischenkriegszeit, bei der die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) im Mittelpunkt steht, folgt als weiterer entscheidender Akt der Europäisierung das Wirken der Montanunion in den 1950er- und 1960er-Jahren. Wiederum stehen Regeln für grenzüberschreitende Arbeitsmigranten auf der Tagesordnung, aber bald auch Subventionen und Vorruhestandsregelungen als Antwort auf die Krise des Kohlebergbaus. Schließlich wird als vierte große Etappe die Politik der europäischen Gemeinschaften bis zum Vertrag von Maastricht 1992 nachgezeichnet. Eine Zusammenfassung mit Ausblicken auf die Zukunft beschließt die Arbeit, die sich auf Westeuropa und die Kernländer der europäischen Integration konzentriert.

Für ein Buch von insgesamt 300 Seiten ist dies eine ehrgeizige Spannbreite von Themen. Es würde der Arbeit nicht gerecht, wollte man die verkürzt behandelten Fragen auflisten. Angemerkt sei jedoch, dass der Europäische Gerichtshof nur am Rand vorkommt (S. 249ff., S. 257), obwohl er gerade im Sozialrecht eine grundlegende Rolle spielt. Die stillen „Helden“ der hier erzählten Geschichte sind die „Wanderarbeiter“, also die aus den jeweiligen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaften stammenden Arbeitnehmer. Hinzu kommen die durch bilaterale Verträge mit den anderen Herkunftsländern geschützten Arbeitsmigranten. Aber nicht deren Erfahrungen oder Handlungsspielräume angesichts der Risiken des Alters und der Invalidität stehen im Mittelpunkt, sondern die Regulierung ihrer in verschiedenen Ländern erworbenen sozialen Ansprüche. Die Anerkennung gegenseitiger sozialer Rechte, aber auch die Interessen an gleichen Lohnkosten bildeten seit Anfang des 20. Jahrhunderts das Ferment, das die nationalen Wohlfahrtsstaaten dazu gebracht hat, Schnittstellen zwischen ihren jeweiligen Systemen zu definieren. Diese Entwicklung ist zuweilen recht technisch, sie betrifft nicht unbedingt sehr viele Menschen, sie ist selten politisch spektakulär, aber sie ist wirksam. Gemäß dem Untersuchungsprogramm von Tanja Glootz kommen allerdings noch weitere umfassende Perspektiven hinzu – nämlich das, was die Autorin „faktische Konvergenz“ nennt, also der stufenweise Ausbau der europäischen Alterssicherungssysteme. Außerdem widmet sie sich insbesondere im vierten Hauptteil den verschiedenen Anstrengungen, die nationalspezifischen Sozialpolitiken in der EWG und EG tatsächlich zu „harmonisieren“. Sicher gehört dies alles zur Entwicklung „des“ europäischen Wohlfahrtsstaats, aber vielleicht liegt hier auch eine Überforderung vor.

Zweifellos ist die Orientierung an einigen sozialwissenschaftlichen Modellen bei diesen Fragen fruchtbar; sie birgt aber auch Fallstricke. Vor allem die Ergebnisse der Konvergenzforschung widersprechen sich nicht selten.1 Mehr Aufmerksamkeit widmet Glootz der Diskussion um die Typologie von Wohlfahrtsstaaten, wie sie insbesondere von Gøsta Esping-Andersen entwickelt wurde. Mit Rückgriff auf die Kritik an diesem Modell und die Vorschläge zu seiner Verbesserung wird ein reiches konzeptuelles Instrumentarium bereit gelegt, das für die weitere Untersuchung jedoch kaum fruchtbar wird. Glootz’ Klassifizierung von Alterssicherungssystemen bleibt bei den Strukturmerkmalen der Organisation und Finanzierung stehen. Am Schluss heißt es dann nicht unerwartet, „dass eine Einteilung in unterschiedliche Wohlfahrtsstaatswelten […] nicht dazu geeignet war, Angleichungsschritte darzustellen“ (S. 273). Schließlich erweist sich eine weitere theoretische Anlehnung als nicht sehr glücklich – nämlich diejenige an der Institutionenökonomie, um das „europäische Sozialmodell“ gegen das dem „fordistischen Produktionsregime“ geschuldete rudimentäre Wohlfahrtsmodell der USA abzugrenzen. Der so geschaffene Pappkamerad lässt sich nur aufrechterhalten, wenn man die komparative Forschung ignoriert, die die USA einbezogen hat.2 Das amerikanische Sozialnetz mag unterentwickelt und lückenhaft sein, aber der Wohlfahrtsstaat für die Rentner floriert seit den 1950er-Jahren, und er macht den Reformern wegen seiner finanziellen Großzügigkeit nicht wenige Sorgen.

Die Darstellung der vier Hauptetappen ist informativ und quellennah, aber bei der Erklärung von Zusammenhängen werden Defizite sichtbar. Ob im Gefolge von Bismarcks Arbeiterversicherung andere Länder dieses Modell einfach übernommen haben oder sich angesichts seiner Existenz auf eigene sozialpolitische Projekte konzentriert haben, ist seit vielen Jahren Gegenstand der Debatte. Glootz folgt leider allzu mechanisch der Vorstellung, dass Modelle der Alterssicherung übertragen würden; mehrfach ist die Rede von „Systemtransfers“. Dieser Rückschritt gegenüber der differenzierten Betrachtung von Prozessen der Aneignung, Abgleichung und Ablehnung von Modellen wäre vermeidbar gewesen. Angesichts der konzeptuell und empirisch reichen Debatte über Transfer und „histoire croisée“ genügt es nicht, die einschlägigen Artikel im Literaturverzeichnis zu erwähnen.

Verschiedentlich formuliert die Autorin Thesen über den Angleichungsdruck der bilateralen Vereinbarungen auf die Gesetzgebung, ohne dass dies mit der nationalspezifischen historischen Fachliteratur abgeglichen wird. Auch auf anderen Gebieten hätte die Nutzung der neuesten Fachliteratur mehr gebracht als die der historischen Einleitungen zu den älteren harmonisierungsfreundlichen Schriften zur europäischen Sozialpolitik. Mancher Hinweis auf die unvermeidlichen „Wegbereiter“ (wie den utopischen britischen Sozialreformer Robert Owen, S. 73 und S. 271) wären dem Leser so erspart geblieben.

Insgesamt fällt auf, wie stark die Perspektive der Institutionen und ihre Sprache dominieren. Gern und oft zitiert werden die Angleichungsfreunde, während gegenläufige Evidenz kaum zu ihrem Recht kommt. Zweifellos ist es nicht einfach, den Umfang und die technische Detailliertheit des europäischen Schrifttums zu meistern, zumal die angeführte juristische und politikwissenschaftliche Sekundärliteratur auf der konkreten Ebene selten als Analysehilfe herangezogen wird. Je näher man der Gegenwart kommt, desto mehr hat man als Leser den Eindruck, einer Broschüre der Deutschen Rentenversicherung zu folgen. Auch bedauert man im Hinblick auf die Nachzeichnung der Brüsseler Politiken, wie blass die Akteure bleiben, wie punktuell die nationalen Divergenzen beleuchtet werden und wie wenig die tatsächlichen Wirkungen greifbar sind. Vor allem bleibt in der Bilanz unklar, wie die jeweiligen Anteile von „Angleichung“, d.h. Konvergenz, Harmonisierung und Koordinierung, klarer und trennschärfer gewichtet werden können.

Eine wenig konsequente Feingliederung der Kapitel, einige vermeidbare stilistische Fehlgriffe und allzu technische Erläuterungen zu juristischen Details machen die Lektüre nicht eben flüssig. Am Ende erstaunen Schlussfolgerungen über „ein wichtiges Ergebnis dieser Arbeit“ (S. 279), die im empirischen Teil kaum vorbereitet worden sind. So taucht unvermittelt das „Drei-Säulen-Modell“ auf, das im Schweizer Sozialstaat Verfassungsrang genießen und seit dem Ende der 1980er-Jahre zum Standardrepertoire der Reformdiskurse von OECD oder Weltbank gehören mag, das aber zu den hier behandelten Fragen wenig beiträgt, da die zweite (betriebliche) und dritte (private) Säule der Alterssicherung ja überhaupt nicht behandelt worden sind.

Aber auch dort, wo diese Studie hinter ihren Absichten zurückbleibt, lenkt sie die Aufmerksamkeit auf grundlegende, methodisch fruchtbare und politisch immer gewichtigere Problematiken. Es ist kein kleines Verdienst einer Doktorarbeit, diese Themen ohne lange Umwege und mit teilweise frischem Zugang zu den Quellen angepackt zu haben. Bleibt zu hoffen, dass künftige historische Arbeiten diesen Faden aufnehmen und zu einem tieferen Verständnis trans- und supranationaler Sozialpolitik beitragen werden.

Anmerkungen:
1 Heichel, Stephan; Pape, Jessica; Sommerer, Thomas, Is there convergence in convergence research? An overview of empirical studies on policy convergence, in: Journal of European Public Policy 12 (2005), S. 817-840.
2 Neben dem historischen Vergleich gibt es inzwischen eine empirisch reichhaltige Geschichte des Vergleichens, so dass auf Studien zu verschiedenen Zeitpunkten bzw. mit verschieden langem Untersuchungszeitraum zurückgegriffen werden kann: Schulz, James H. u.a., Providing Adequate Retirement Income. Pension Reform in the United States and Abroad, Hanover 1974; Myles, John, Old Age in the Welfare State. The Political Economy of Public Pensions, Boston 1984; Orloff, Ann Shola, The Politics of Pensions. A Comparative Analysis of Britain, Canada, and the United States, 1880–1940, Madison 1993; Costa, Dora L., The Evolution of Retirement. An American Economic History, 1880–1990, Chicago 1998.

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