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Titel
Der SED-Staat. Geschichte und Nachwirkungen


Autor(en)
Wilke, Manfred
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Malycha, Forschungsstelle Zeitgeschichte, Institut für Geschichte der Medizin an der Charité Berlin

Der Band ist dem wissenschaftlichen und publizistischen Wirken Manfred Wilkes anlässlich seines 65. Geburtstages gewidmet. Er enthält eine Sammlung seiner Aufsätze zur Anatomie und Geschichte sowie zu den Nachwirkungen der DDR, die von Wilke in seinen Schriften stets als SED-Staat bezeichnet wird. Die Bezeichnung „SED-Staat“ verdeutlicht den Forschungsansatz Wilkes, der – in erklärter Abgrenzung zur „alten“ westdeutschen DDR-Forschung – vor allem auf die Charakterisierung der politischen Herrschaftsordnung der DDR und ihrer Trägerin fixiert ist. Wenngleich sich das publizistische Werk Wilkes nicht auf die Auseinandersetzung mit Diktatur und Widerstand in Ostdeutschland reduzieren lässt, ist dennoch gerade dieses Thema in den letzten Jahrzehnten zu einem Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Schaffens geworden. Das widerspiegelt sich nicht zuletzt in seiner Tätigkeit als einer der beiden wissenschaftlichen Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin.

Die vorgenommene Auswahl konzentriert sich auf jene Aufsätze, die von Wilke zwischen 1991 und 2006 zu den Wirkungszusammenhängen des SED-Staates, seinem Herrschaftsapparat, seinen wesentlichen Institutionen und seinen internationalen Verflechtungen einerseits und zu den Nachwirkungen der kommunistischen Herrschaft im vereinigten Deutschlands andererseits verfasst wurden. An dieser Stelle kann kein vollständiger Überblick über die Aufsatzsammlung gegeben werden, deshalb wird insbesondere der Aufsatz „Erinnerung an den Kommunismus nach seinem Sturz“ aus dem Jahre 2004 herausgehoben, weil Manfred Wilke darin auf seine unverwechselbare Art darstellt, auf welche Weise für ihn die Erinnerung an die kommunistische Diktatur in Deutschland bis heute defizitär geblieben ist (S. 181-194). Denn es ist erklärtermaßen sein hauptsächliches Anliegen, die Auseinandersetzung mit dem Diktaturcharakter der DDR und den Herrschaftsinstitutionen der SED offensiv weiter zu führen sowie die Erinnerung an die Opfer und die Folgen der SED-Herrschaft wach zu halten. Dies scheint ihm umso mehr geboten, als er den unerfreulichen Eindruck gewonnen hat, dass sich im Rahmen der Beschäftigung mit DDR-Geschichte das „gewalttätige Gesicht“ der SED-Diktatur zunehmend verflüchtigt und verharmlosenden und beschönigenden Charakterisierungen Platz macht. Dem von ihm mit Unbehagen beobachteten Hang zur nachträglichen Beschönigung der SED-Herrschaft stemmt sich Wilke mit seinen stets polemischen und pointierten Wortmeldungen, die in diesem Aufsatzband nachzulesen sind, vehement entgegen.

Zu den wichtigsten Ergebnissen des unermüdlichen wissenschaftsorganisatorischen Agierens Wilkes gehört zweifellos das von ihm initiierte Projekt zu Struktur, Funktion und Entwicklung des zentralen Parteiapparates der KPD/SED, das zu einer beachtenswerten Publikation geführt hat.1 Über die Resultate und Befunde dieses langfristig angelegten Projektes hat er im Jahre 2003 einen Aufsatz verfasst, der in die Sammlung mit aufgenommen wurde (S. 133-162). Der Aufsatz bilanziert das durchaus nicht widerspruchsfreie Bemühen des von Wilke mitbegründeten Forschungsverbundes SED-Staat, durch eine Analyse der Strukturen und Funktionsweisen des bürokratischen Apparates der SED Licht in das Dunkel der spezifischen Form der Machtausübung der Einheitspartei im Osten Deutschlands zu bringen. Das Konzept, über die Aufhellung interner Machtstrukturen die Funktionsweise der Diktatur in Ostdeutschland umfassend erklären zu wollen, lenkte die Aufmerksamkeit zu Recht auf die alles lenkende und kontrollierende Staatspartei.

In diesem Aufsatz tritt noch einmal das Verdienst Manfred Wilkes deutlich hervor, die grundsätzliche Bedeutung der strukturellen und personellen Vorgänge innerhalb der KPD und SED hervorgehoben zu haben, um damit die Entwicklung der Staatspartei, ihre totalitären Machtansprüche und ihre Herrschaftspraxis analysieren und interpretieren zu können. Gleichwohl ist dieser methodische Ansatz vom SED-Forschungsverbund bedauerlicherweise nur für die frühen Weichenstellungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, nicht jedoch konsequent über den gesamten historischen Zeitraum weiter verfolgt worden. Das betrifft Analysen zur Struktur, Entwicklung und Funktionsweise der Parteizentrale der SED für wichtige Zeitabschnitte, insbesondere seit den 1960er-Jahren. Somit gibt es im Hinblick auf das von Wilke immer wieder betonte Zusammenspiel von Herrschaft und Kontrolle in Partei und staatlichen Institutionen sowie hinsichtlich der personellen und institutionellen Verflechtungen und Kontinuitäten noch immer erhebliche Forschungslücken.

Die in dem Band veröffentlichten Aufsätze machen vor allem eines der wichtigsten Motive der leidenschaftlichen und stets streitbaren Wortmeldungen Manfred Wilkes deutlich: Das beharrliche Insistieren auf den Diktaturcharakter der SED-Herrschaft soll insbesondere die jüngere Generation gegenüber den ideologischen und populistischen Gefährdungen immunisieren, denen sie Wilke in postkommunistischen Staaten in besonderer Weise ausgesetzt sieht. Insofern versteht er die Relativierung des Diktaturcharakters der DDR als einen Gegenpol zur dringend notwendigen Fundierung einer demokratischen Ethik und Aneignung einer demokratischen politischen Kultur auch in den ostdeutschen Ländern. So schreibt er zu den Nachwirkungen der kommunistischen Herrschaft: „Politisch steht heute nicht die drohende Restauration der überwundenen Diktatur auf der Tagesordnung, es geht um die negative Erbschaft, die fortwirkt, lähmt und vielfach keine Identifikation mit der demokratischen Ordnung aufkommen lässt, die auf der Eigenverantwortung der Bürger beruht.“ (S. 185)

Ihm geht es um das Grundsätzliche der Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur. Dieses Anliegen bringt er in seinen hier versammelten Aufsätzen zur SED-Diktatur und ihren Spitzenkadern, zum MfS und zur PDS immer wieder klar zum Ausdruck. So ist der Band vor allem ein Zeugnis über das Wirken Wilkes als ein Mahner, der zu einer Form der Auseinandersetzung mit der Diktatur auffordert, die sich durch die Schärfung des Blickes für das Totalitäre im kommunistischen Denken und des staatlich organisierten Kommunismus auszeichnet.

Der Aufsatzband enthält im Anhang ein biographisches Interview, das ein Weggefährte Wilkes aus der Zeit ihres gemeinsamen Engagements für das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“, Hannes Schwenger, mit ihm führt. Das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ war im Dezember 1976 mit einer Pressekonferenz an die Öffentlichkeit getreten, um sich für die wegen ihrer Meinungsäußerungen beruflich, politisch und persönlich bedrohten DDR-Bürger zu engagieren. Hannes Schwenger fungierte damals als Sprecher des Komitees. Beide einte zu jener Zeit die Überzeugung, dass eine sozialistische Linke in Westeuropa nicht glaubwürdig sein könne, wenn sie zu den Menschenrechtsverletzungen im sowjetischen Imperium schweigt und den dortigen Künstlern und Dissidenten die Solidarität im Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte in ihren Ländern verweigert. Wenngleich Manfred Wilke in den Jahrzehnten danach das politische Lager wechselte, geblieben ist sein engagierter persönlicher Einsatz, wenn es um die Erinnerung an die ehemaligen Dissidenten und die Oppositionsbewegung in der DDR, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei sowie in der UdSSR geht. Davon zeugt nicht nur das Interview, sondern auch sein Aufsatz aus dem Jahre 2001 über das Schutzkomitee, das für den Aufsatzband ausgewählt wurde (S. 111-121).

Das aufschlussreiche Interview veranschaulicht noch einmal das vielschichtige Wirken des Wissenschaftlers, Publizisten, Politikers und Zeitzeugen Wilke und macht die zahlreichen Brüche in seinem beruflichen und politischen Leben nachvollziehbar.

Anmerkungen:

1 Wilke, Manfred (Hg.), Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998.

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