K. W. Richter: Die Wirkungsgeschichte des deutschen Kartellrechts

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Titel
Die Wirkungsgeschichte des deutschen Kartellrechts vor 1914. Eine rechtshistorisch-analytische Untersuchung


Autor(en)
Richter, Klaus W.
Reihe
Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 138
Erschienen
Tübingen 2007: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XI, 244 S.
Preis
€ 69.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arndt Christiansen, FB 02 Wirtschaftswissenschaften, Abteilung Wirtschaftspolitik, Philipps-Universität Marburg

Der Untersuchungsgegenstand von Klaus W. Richter ist die Rechtsgeschichte der Behandlung von Kartellen in Deutschland bis 1914 im Allgemeinen und speziell die Entwicklung des wohl bedeutendsten Kartells, des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats. Bemerkenswert ist der methodische Ansatz. Angestrebt wird der Brückenschlag zwischen der Kartellrechtsgeschichte und bestimmten Teilen der modernen Ökonomie. Richter verwendet viel Mühe darauf, seine Vorgehensweise der „historisch-analytischen Methode“ von der „traditionellen Rechtsgeschichte“ abzugrenzen. Anstelle der Rekonstruktion historischer Abläufe durch die Auswertung zeitgenössischer Quellen strebt er eine Erklärung auf der Grundlage von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten an. Er beruft sich dabei auf die wissenschaftstheoretische Position des Kritischen Rationalismus, wie er insbesondere von Karl Popper und Hans Albert entwickelt wurde (S. 2f. bzw. S. 30ff.).1 Demnach ist eine wissenschaftliche Erklärung oder Prognose, das so genannte Explanandum, gekennzeichnet durch die Spezifikation der Randbedingungen und die Anwendung von allgemeinen Hypothesen, dem so genannten Explanans. Konkret strebt Richter die Aufstellung einer „ex post Prognose über die zu erwartende Entwicklung an“ (S. 30).

Die allgemeinen Hypothesen zur Formulierung dieser Prognose gewinnt Richter aus zwei neueren Forschungszweigen der Ökonomie, die im zweiten Kapitel behandelt werden. Dies ist einmal die von ihm als „Neue Institutionenökonomik der Geschichte“ bezeichnete Theorie des institutionellen Wandels des Wirtschaftshistorikers Douglas C. North.2 Als zentrale Konzepte identifiziert Richter zutreffenderweise die „Ideologie“ – verstanden als subjektive Modelle der Funktionsweise der Welt –, die Pfadabhängigkeit der ökonomischen Entwicklung („Verlaufsabhängigkeit“) und als normative Referenzgröße die Anpassungseffizienz (S. 20ff.). North will damit erklären bzw. beurteilen, wie sich Volkswirtschaften über die Zeit entwickeln. Als zweite Quelle allgemeiner Hypothesen benutzt Richter die maßgeblich von Oliver E. Williamson geprägte Transaktionskostenökonomik.3 Als zentrale Konzepte werden hier das Phänomen der „fundamentalen Transformation“ in langfristigen Vertragsbeziehungen, die typischerweise asymmetrische Informationsverteilung zwischen den Transaktionspartnern und der nachvertragliche Opportunismus genannt (S. 24ff.). Eine typische Anwendung zeigt sich in der Analyse vertikaler Beziehungen zwischen einem Unternehmen und seinen Lieferanten. Beide Theorieansätze lassen sich der Neuen Institutionenökonomik zuordnen (S. 12ff.). Ihnen sind damit gewisse Grundannahmen gemeinsam, die sie vom neoklassischen „Mainstream“ der Ökonomie abheben. Dazu zählen insbesondere die Annahme beschränkter Rationalität und unvollkommener Voraussicht. Gleichzeitig beziehen sie sich jedoch auf verschiedene Analyseebenen, nämlich zum einen auf die informellen und formellen Grundregeln von Volkswirtschaften („institutional environment“) und zum anderen auf Vertrags- und Organisationsbeziehungen („governance structures“).4

Weiterhin ist gemäß der von Richter verfolgten Methodologie die Spezifikation der Randbedingungen notwendig. Dazu dient die Darstellung der Entwicklung des Kartellwesens in Deutschland bis zum Jahr 1897 im dritten Kapitel. Richter behandelt zunächst die allmähliche Durchsetzung der Gewerbefreiheit bis 1869 bzw. 1873 (S. 39ff.) sowie die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die Formen der Kartellbildung (S. 51ff.). Breiten Raum widmet er der Rechtsprechung zu Kartellen (S. 60ff.). Behandelt werden sieben frühere Entscheidungen sowie das Reichgerichtsurteil zum Sächsischen Holzstoffkartell, das er im Einklang mit der Literatur als entscheidenden „Wendepunkt“ ansieht.5 Anlass war die Klage des „Sächsischen Holzstoff-Fabrikanten-Verbandes“ gegen ein Kartellmitglied, das vertragswidrige Direktverkäufe getätigt hatte. Der Verband verlangte die Zahlung der Vertragsstrafe, während das Unternehmen den Vertrag als Verstoß gegen die Gewerbefreiheit und damit als nichtig ansah. Das Gericht entschied zugunsten des Verbandes und legitimierte damit private Kartellverträge. Anschließend werden die Anfänge des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats (RWKS) dargestellt (S. 77ff.). Bereits von der Gründung 1893 bis 1897 hatten die beteiligten Kohlezechen den Syndikatsvertrag mehrfach geändert und ein umfangreiches Regelwerk geschaffen. Kern war die Vereinbarung von (begrenzten) Fördermengen und gemeinsamer Vermarktung. Die Mitgliedsunternehmen des RWKS wie die Gelsenkirchener Bergwerks-AG zählten zu den größten Industrieunternehmen. Der gesamte Marktanteil lag bei 80 bis 90 Prozent.6 Als letzte Randbedingung gelten drei weitere die Kartellbildung unterstützende Faktoren, nämlich die überwiegend positive Beurteilung in der Nationalökonomie, das Vordringen des Kollektivismus in der Rechtswissenschaft und das wachsende Machtbewusstsein des Staates (S. 94 ff.).

Auf dieser Grundlage formuliert Richter die angekündigte Prognose über die Wirkung des Reichgerichtsurteils (S. 109f.). Knapp zusammengefasst besteht sie in der fortgesetzten Kartellierung unter dem „Flankenschutz“ von Rechtsprechung und Nationalökonomie sowie in dem weiter zunehmenden Komplexitätsgrad des untersuchten Kohlensyndikats, das sich damit der vollständigen Integration der Mitgliedsunternehmen annähert. Diese Vorhersagen findet Richter allesamt durch den Geschichtsverlauf bis 1914 bestätigt. Die gerichtliche Akzeptanz von Kartellverträgen und ihre überwiegend wohlwollende Beurteilung in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft erwiesen sich als stabil (S. 113 ff.). Auch die Kohlenot des Jahres 1900 und die folgende Kartellenquête des Reichtags vermochten daran nichts zu ändern, obwohl die negativen Wirkungen von Kartellen durchaus bekannt waren und zumindest eine gewisse staatliche Aufsicht gefordert wurde.7 Somit konstatiert Richter: „Die Entwicklung des Kartellrechts bis 1914 ist danach ein Beispiel für die Verfolgung eines unproduktiven und ineffizienten Pfades, das Festhalten an den bestehenden Beschränkungen seitens der Organisationen und Interessengruppen aus Politik und Wirtschaft und die fehlende Bereitschaft, subjektive Denkmodelle durch die Erweiterung des Wissensschatzes zu ändern“ (S. 117).

Auch die Entwicklung des RWKS verläuft gemäß Richters Prognose. Er konstatiert für das Ende seines Untersuchungszeitraums, dass es zur „de facto Fusion“ der Zechen gekommen sei (S. 160ff.). Insbesondere mit den Syndikatsverträgen von 1903 und 1909 habe sich eine hierarchische Organisation mit der Syndikats-AG an der Spitze herausgebildet. In den verbleibenden Abschnitten des vierten Kapitels beleuchtet Richter seine Prognose zusätzlich aus rechtshistorischer Perspektive (S. 176ff.). Er behandelt unter anderem die Reichstagsdebatten zum Verhalten des Standard Oil Trust, die Entwicklung des österreichischen Kartellrechts, die Debatten der deutschen Juristentage von 1902 und 1904 sowie des Vereins für Socialpolitik in 1905 und schließlich die Rechtsprechung des Reichsgerichts nach 1897.

Insgesamt ist die Arbeit von Richter zur Lektüre zu empfehlen. Neue Erkenntnisse vermittelt insbesondere die Analyse der vertraglichen Grundlagen des RWKS. Auch angesichts der großen wirtschaftlichen Bedeutung des RWKS kann diese Auswahl als gelungen gelten. Zudem erweist sich der verfolgte methodische Ansatz als fruchtbar. Die Arbeit von Richter steht damit in einer langen Reihe von interdisziplinären Ansätzen der Behandlung von Kartellrecht.8 Bezüglich der allgemeinen Entwicklung geht sie allerdings kaum über den bisherigen Stand der – auch von Richter rezipierten – rechtsgeschichtlichen Literatur hinaus.9 Zumindest unklar bleibt auch der Erkenntnisbeitrag der Bezugnahme auf den Kritischen Rationalismus.

Anmerkungen:
1 Vgl. Meyer, Wilhelm, Die Methodologie des kritischen Rationalismus, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium 2 (1973), S. 462-467; Suchanek, Andreas, Kritischer Rationalismus und die Methode der Sozialwissenschaften, in: Pies, Ingo und Leschke, Martin (Hrsg.), Karl Poppers kritischer Rationalismus, Tübingen 1999, S. 85-104.
2 Vgl. North, Douglass C., Institutions, in: Journal of Economic Perspectives 5 (1991), S. 97-112; sowie ders., Understanding the Process of Economic Change, Princeton 2005.
3 Vgl. Williamson, Oliver E., Transaction Cost Economics: An Introduction, economics Discussion Papers, No 2007-3, online verfügbar unter <http://www.economics-ejournal.org/economics/discussionpapers/2007-3>.
4 Vgl. Williamson, Oliver E., The New Institutional Economics: Taking Stock, Looking Ahead, in: Journal of Economic Literature 38 (2000), S. 595-613, hier S. 596-600.
5 Vgl. Böhm, Franz, Das Reichsgericht und die Kartelle, in: ORDO 1 (1948), S. 197-213; Möschel, Wernhard, 70 Jahre Kartellpolitik, Tübingen 1972; Gerber, David, Law and Competition in twentieth century Europe: Protecting Prometheus, Oxford 1998, hier S. 89-95; Barnikel, Hans-Heinrich, Kartelle in Deutschland. Entwicklung, theoretische Ansätze und rechtliche Regelungen, in: ders. (Hrsg.), Theorie und Praxis der Kartelle, Darmstadt 1972, S. 1-64, hier S. 38-40; Nörr, Knut Wolfgang, Die Leiden des Privatrechts, Tübingen 1994, hier S. 8-14; Schröder, Rainer, Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, Ebelsbach 1988, hier S. 1-123.
6 Vgl. Barnikel (wie Anm. 5), hier S. 6-7; Kocka, Jürgen; Siegrist, Hannes, Die hundert größten deutschen Industrieunternehmen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Horn, Norbert; Kocka, Jürgen (Hrsg.), Recht und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 1979, S. 55-122, hier S. 64-67.
7 So Schmoller, Gustav v., Das Verhältnis der Kartelle zum Staate, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 29 (1905), S. 1559-1597, hier S. 1576-1588; vgl. auch Barnikel (wie Anm. 5), hier S. 33-38; Gerber (wie Anm. 5), hier S. 95-110; Nörr (wie Anm. 5), hier S. 15-27; Schröder (wie Anm. 5), hier S. 161-184.
8 Vgl. Kovacic, William E.; Shapiro, Carl, Antitrust Policy: A Century of Economic and Legal Thinking, in: Journal of Economic Perspectives 14 (2000), 43-60; Schmidt, Ingo, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. Eine interdisziplinäre Einführung, 8. Aufl., Stuttgart 2005.
9 Vgl. die in Anm. 5 und 7 genannte Literatur sowie die dort angegebenen Quellen.

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